Größer als das Leben: Der Schriftsteller und Buchhändler Edgar Rai hat einen Roman über die Entstehung des Films „Der blaue Engel“ geschrieben. Eine kühne Idee
Wie schafft es Edgar Rai bloß, die vielen Bücher zu lesen, die Edgar Rai schreibt?
Ein groß gewachsener Schriftsteller, so produktiv, dass es fast schon unheimlich ist. 1967 in Hessen geboren, lebt er seit 1988 in Berlin. Seit seinem Buchdebüt 2001 hat er rund zwei Dutzend Titel rausgehauen. Romane, Sachbücher, Drehbücher. Hin und wieder mit Co-Autorin. Und mal unter Pseudonym, mal als Edgar Rai.
Sein, ja nun, richtiger Name, ist auch nicht ganz sein echter, den verrät er nicht. „Edgar Rai“ stehe aber jetzt auch in seinem Pass. Und zudem betreibt der dreifache Vater seit 2012, mit Katharina von Uslar, die Buchhandlung Uslar & Rai in der Schönhauser Allee.
Ein heißer Montagabend im Juni, Schöneberg, die Altbauräume der Literarischen Agentur Alexander Simon. Weit über vier Meter hohe Wände, goldener Stuck an der Decke, hohe Bücherregale. Hinter den Erkerfenster verschwindet der Viktoria-Luise-Platz hinter sommerdichten Laubbäumen.
Rai steht im weißen Hemd neben der Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg. Er deutet auf einige Bücher im Regal. Eine Krimi-Reihe von einem Moritz Matthies, bei dem zwei Erdmännchen, Rufus und Ray, ermitteln. „Moritz Matthies, das sind ja Hans Rath und ich“, sagt Rai. Die Verlegerin guckt verblüfft: „Ich wusste gar nicht, dass du das auch bist.“
Auf dem Lesetisch im Erker liegen die ersten Vorab-Exemplare von „Im Licht der Zeit“, gerade aus der Druckerei eingetroffen. Rai setzt sich, guckt fast zärtlich auf die beiden kleinen Stapel. Gleich wird er daraus lesen.
„Im Licht der Zeit“, das ist die Geschichte hinter dem frühen deutschen Tonfilm „Der blaue Engel“ (1930). Was für ein Stoff. Was für eine Zeit. Was für ein Personal. Der Hollywood-Regisseur Josef von Sternberg. Der frisch Oscar-dekorierter Schauspielfels Emil Jannings. Das Ufa-Produzentengenie Erich Pommer. Der deutschnationale Mediengigant Alfred Hugenberg. Dazu Claire Waldoff, Hans Albers, Alfred Kerr, Oskar Kokoschka, etc. Großes Kino, große Namen.
Und der größte von allen: Marlene Dietrich. Heute jedenfalls. Damals war sie „nur“ eine Schauspielelevin. Sehr bekannt, sicher. Aber unfilmbar, so hieß es. Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Und sonst gar nichts. Höchstens noch: Rabenmutter.
Das Werk des studierten Musikwissenschaftlers und Anglisten, der auch schon mal eine Handwerksfirma betrieb, Basketballtrainer war und einen Chor leitete, gibt nicht zur Vermutung Anlass, als würde ihm irgendein Stoff Furcht einjagen. Da wäre zum Beispiel: ein Côte-d‘Azur-Krimi „Etwas bleibt immer“, der Boxerroman „Halbschwergewicht“, das Sachbuch „Homer für Eilige“, der Jugendroman „Sunny war gestern“ (mit Cem Gülay), eine Art Stadtführer, „Berlin rund um die Uhr“, der Renaissance-Roman „Der Sixtinische Himmel“ (diesmal unter dem Namen Leon Morell) und, im Duo mit Hans Rath, die kalauersatte Berlin-Krimi-Reihe „Bullenbrüder“.
Aber noch, als er schon fast zwei Drittel des 500-Seiten-Buches fertig hatte, grübelte Rai beim Schreiben: „Hoffentlich fliegt dir das Ding nicht doch noch um die Ohren.“ Die Titanin des deutschen Films In den Agenturräumen haben die Gäste auf den Stühlen Platz genommen. Rai und sein Lektor Thomas Tebbe sitzen vorn am Lesetisch. Seit Jahren hätten sie über einen Marlene-Roman gesprochen, sagt Tebbe. „Die Dietrich hat mich nicht interessiert. Aber dann kam dein Manuskript und hat mich bekehrt.“
Es ist ein Zeitengemälde. Das brodelnde Berlin Ende der 20er-Jahre. Die Welt im Umbruch. Vom Stumm- zum Tonfilm. Und die Hitlers, Goebbels, die an die Macht drängen.
„Wie fühlt es sich an, wenn man der Titanin des deutschen Films Worte in den Mund legt“, fragt Tebbe. „Fühlt sich super an“, sagt Rai.
Die Filmrechte sind auch bereits verkauft. In einem sehr frühen Kapitel des neuen Buches gibt es eine ziemlich heiße Sexszene zwischen dem Stummfilmstar Henny Porten und der damals 16-jährigen Marlene Dietrich. – Ist diese Szene etwa auch authentisch? Rai grinst, schweigt. Da sitzt er, eine Woche später, in einem Café in Prenzlauer Berg, nahe der Buchhandlung. Diese Szene hätten ein paar Testleserinnen bekommen, erzählt er. „Wir haben ihnen erzählt, das hätte eine Frau geschrieben. Die fanden die Szene super.“
Der Schlüssel zum Buch war aber eine andere Figur. Vor vier Jahren fiel Rai ein Buch über Henny Porten in die Hände, den deutschen Stummfilmstar. Irgendwo da drinnen steckte eine Geschichte, dachte er. Nur wo?
Er las sich durch die Zeitungen der Zeit. Grub weiter. Fand eine neue Dietrich-Biografie, „Einsame Klasse“ von Eva Gesine Baur. Und stieß dabei auf eine schillernde, heute fast vergessene Gestalt: einen Karl Vollmöller.
Plötzlich ergab alles einen Sinn. „Sowas passiert dir nicht oft als Autor“, sagt Rai.
Dieser Vollmöller betrieb Archäologie, verfasste Lyrik, fuhr Autorennen, war Flugzeugkonstrukteur, schrieb Drehbücher. Er trieb, so beschreibt es Rai im Roman, einen der ersten deutschen Tonfilme voran, die Verfilmung von Heinrich Manns „Professor Unrat“, der die Filmrechte daran nie und nimmer hergeben wollte und es dann doch tat. Und trickste auch die verfeindeten Jannings und von Sternberg zusammen. Und dazu noch die Dietrich! Die beide rasend machte, Jannings wie von Sternberg, aber auf unterschiedliche Art.
Man weiß ja, der Film ist fertig geworden. Und glaubt doch beim Lesen kaum daran. Rai sagt von sich selbst, er sei ein „Freund von ‚bigger than life‘“. So schreibt er auch. Die Sätze, die Figuren, die Dialoge: Immer eine Spur breitwandiger als das normale Leben. Herzhafter, pointierter, selbstsicherer, effektvoller. Stets hält er alle Fäden in der Hand. Und immer der richtige, an dem er zieht, mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit.
Es scheint, als würde das Buch mehr in den Mittelpunkt drängen als sein Autor.
Bei Lesungen im Buchladen überlässt Edgar Rai, der einst in Marburg sogar von der Schule flog – das passte halt nicht so richtig, die Schule und er – lieber Katharina von Uslar die Vorstellung der Autorinnen. So auch im Juni, drei Tage vor der Romanpräsentation in Schöneberg, bei Uslar & Rais erstem Festival, Es endet mit dem bereits traditionellen Debütantenball. Der Raum ist proppenvoll. Hinten liest Lola Randl gerade heiter vom Schneeräumen auf Bürgersteigen an Liebhaber-Tagen.
Und Edgar Rai sitzt vorn an der Kasse, in einer kleinen Ecke, mit dem Rücken zur Bühne. Er hat die Beine hochgelegt, die Augen geschlossen, ein Bier in der Hand. Und kichert wie Bolle, wirkt ganz bei sich.
Im Licht der Zeit von Edgar Rai, Piper, 512 S., 22 €