Die gute Nachricht zuerst: Die Volksbühne ist nach dem Dercon-Desaster dank des in der Not eingesprungenen Intendanten Klaus Dörr in Rekordzeit wieder zu einem hochtourig produzierenden Theaterapparat geworden. Die schlechte Nachricht ist: Vor lauter hochtourigem Produzieren kommt es auf halbwegs zu Ende gedachte Inhalte und Kleinigkeiten wie eine übers forcierte Grimassieren hinausgehende Schauspielkunst derzeit nicht so an.
Hauptsache viel Geschrei und möglichst flächendeckend bemühtes Livevideo. Nach einer gekonnt improvisierten Übergangspielzeit wird jetzt Dörrs eigentliches Programm sichtbar. Nach den ersten Premieren muss man hoffen, dass es sich noch in der Warmlaufphase befindet. Die bisherige Bilanz: Ein dröhnender Komplettausfall von erstaunlicher Unbedarftheit (Thorleifur Örn Arnarssons „Odyssee“) und eine technisch virtuose, inhaltlich dünne Medienkritik-Bilder-Oper („Don’t be evil“ von Kay Voges). Die neue Premiere reiht sich irgendwo dazwischen ein.
Claudia Bauer, eine für ihr Spiel mit Trash und Ironie völlig zu Recht mit zwei Einladungen zum Berliner Theatertreffen gewürdigte Regisseurin, schiebt in ihrer „Germania“-Inszenierung mehrere Heiner-Müller-Texte ineinander: im Kern die Preußen- und Hitler-Groteske „Germania Tod in Berlin“ von 1971 und Müllers Spätwerk „Germania 3“, uraufgeführt 1996, wenige Monate nach dem Krebstod des Dramatikers. Bauers Regie ersetzt gedankliche Klarheit und nähere Beschäftigung mit dem Stoff durch die Freude an großzügig aufgefahrenen Effekten. Ein kleines Orchester (Musik und Orchesterleitung: Mark Scheibe) arbeitet sich durch einen hübschen Soundtrack, der sich abwechselnd bei Wagner, Schostakowitsch, Schönberg, Easylistening und Zirkus-Mucke bedient. Der zweistöckige Gerüstbau (Bühne: Andreas Auerbach) auf der Drehbühne vor dem weiß angestrahlten Rundhorizont, eine auf der Rückseite offene, graue Industriezweckbaufassade, sieht aus wie der erste Entwurfsrohbau einer Bert-Neumann-Bühne, nur ohne Neumann-Flitter, Neumann-Raffinesse, Neumann-Glamour und Neumann-Genie. Ähnliches gilt für das ohne erkennbare Bildsprache oder größeren ästhetischen Ehrgeiz großflächig eingesetzte Livevideo in Relation zur Verwendung dieses Stilmittels beispielsweise in Castorf-Inszenierungen. Hier scheint es vor allem dem Zweck zu dienen, die Darsteller mit Großaufnahmen davon zu entlasten, den großen Bühnenraum mit ihrer mal mehr, mal weniger ausstrahlungskräftigen Livepräsenz bespielen zu müssen.
Ein Pop-Kinderspielplatz
Müllers „Germania“-Texte servieren eine Schlachtplatte. Sein Theater stellt den Leichenbergen von Nationalsozialismus und Stalinismus ein Endlager zur Verfügung, die Bühne als Zombie-Friedhof, auf dem die Toten während der Dauer der Vorstellung Ausgang haben. Und sei es nur, damit die Nibelungen in Endlosschleifen abwechselnd onanieren und einander massakrieren können („ich will nicht jede Nacht sterben“). Ihre Nachkommen von der Wehrmacht üben sich im Kessel von Stalingrad routiniert in Kannibalismus. Hitler und Stalin sind bei Müller blutige Clowns, also das Gegenteil von Götterdämmerungs-Pathos-Lieferanten oder des Führer-Einfühlungsangebots im Kitschkino. Das mit den Clowns muss Claudia Bauer missverstanden haben. In Müllers blutigen Grotesken liegen Schrecken und Komik, Lachen und Grausamkeit eng beieinander. In Bauers Oberflächenregie bleiben davon nur harmlose Grand-Guignol-Nummern mit Schlenkern zur trashigen Ausstattungsrevue übrig. Hitler und Stalin, kenntlich an den unterschiedlichen Bärten, liegen zusammen in der Badewanne und kippen einander aus Benzinkanistern Blut über die Köpfe wie in einem Sketch der alten Harald-Schmidt-Show. Das sind so die Höhepunkte. Bauers Theater ist kein Müller-Schlachthaus, sondern nur ein Pop-Kinderspielplatz.
Termine: Germania in der Volksbühne, 10–30 €