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Nachruf

René Pollesch: Ein unbeschreiblicher Verlust für die Theaterwelt

René Pollesch, Autor, Regisseur, Erfinder des Diskurs-Theaters und Intendant der Volksbühne, ist tot. tipBerlin-Theaterredakteurin Irene Bazinger nimmt Abschied von einer der ungewöhnlichsten und innovativsten Stimmen des Gegenwartstheaters.

René Pollesch ist tot. Der Intendant der Volksbühne starb am 26. Februar 2024. Foto: Imago/Sabine Gudath

Als furchtloser Forscher raste René Pollesch durch die intellektuellen Felder

„Plötzlich und unerwartet“ – das sagt man, wenn jemand verstorben ist, von dem man das kein bisschen gedacht hat. Und wenn man nicht weiß, wie man damit umgehen soll, weil einem diese Nachricht den Boden unter den Füßen weggezogen hat. So war es nun, als die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz am Abend des 26. Februar 2024 mitteilte, dass René Pollesch, der seit 2021 amtierende Intendant des Hauses, am Morgen verstorben sei – „plötzlich und unerwartet“. Für das Haus, das sich nach diversen Problemphasen gerade künstlerisch wieder zu stabilisieren begann, ist das eine Katastrophe. Für die ganze Theaterwelt freilich ist es ein unbeschreiblicher Verlust.

Denn der postdramatisch geprägte Autor und Regisseur René Pollesch, geboren 1962 in Hessen, der am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen bei Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann studiert hatte, war eine der ungewöhnlichsten und innovativsten Stimmen des Gegenwartstheaters. Er machte komplexe Themen auch für die großen Bühnen salonfähig, erfand neue Ästhetiken und Spielweisen. René Pollesch schuf ein elaboriertes, temporeiches Diskurs-Theater, bei dem er als furchtloser Forscher durch alle möglichen intellektuellen Felder raste und sie so amüsant wie gewitzt, so sinnvoll wie sinnlich theatralisch aufbereitete.

René Pollesch klinkte sich gescheit und zupackend in den Lauf der Dinge ein

Im Vertrauen auf die Kraft der Sprache entwickelte er seine Stücke – wohl um die 200 an der Zahl – immer während der Proben gemeinsam mit den zu freiem Mitdenken und geistiger Eigenverantwortung aufgerufenen Schauspieler:innen. Dazu mixte er Elemente aktueller Debatten, ob es um Naturwissenschaft oder Soziologie ging, Kunst oder Kapitalismus, Stadtplanung oder die Theaterreformen der Meininger.

René Pollesch bei den Proben zu „Kill Your Darlings! Streets of Berladelphia“ an der Volksbühne, 2012. Foto: Imago/Bresadola/drama-berlin.de

Schauspieler:innen wie Sophie Rois, Caroline Peters, Birgit Minichmayr, Martin Wuttke, Milan Peschel und Fabian Hinrichs – mit dem er sein letztes Stück „ja nichts ist okay“ an der Volksbühne herausbrachte, die Premiere war am 11. Februar. Nicht zu vergessen all die anderen etwa in Hamburg, Zürich, Wien, die ihn für die klugen Texte liebten, die er ihnen in den Mund zu legen verstand.

Aufgrund dieser persönlichen kollektiven Autorenschaft inszenierte er ausschließlich seine eigenen Stücke und ließ sie praktisch nie von jemand anderem inszenieren. Und die Zuschauer:innen strömten in Massen heran und waren begeistert. Überall lockte Pollesch ein junges, waches Publikum an, ohne älteres zu vertreiben. Mit seiner kreativen Souveränität und seinem ästhetischen Mut versöhnte er inhaltlichen Anspruch und szenisches Vergnügen, politische Theorie und theatrale Unterhaltung. Was für ein Spaß, denn Polleschs meist eher kurz gehaltene, musikalisch verköstigte Abende waren voller Humor und Pointen, weil er sich wunderbar gescheit und zupackend in den Lauf der Dinge einklinkte.

René Pollesch 2004 im Prater, den er von 2001 bis 2007 leitete. Foto: Imago/DRAMA-berlin.de

René Pollesch wusste genau, woher das Theater kam und wohin er es führen wollte

2019 wurde ihm in Wien der Arthur-Schnitzler-Preis verliehen. In der Begründung der Jury hieß es unter anderem, dass seine „gesellschaftsdiagnostischen Stücke sich gegen etablierte Macht- und Diskursstrukturen wenden“. Von 2001 bis 2007 leitete er den Prater in Prenzlauer Berg. Als ihr späterer Intendant wollte er die Volksbühne nicht „als trojanisches Pferd“ der Castorf-Ära in die Zukunft begleiten, sondern mit einer autonomen, singulären, kooperativen Produktionsweise, in der alle Verantwortung für alles tragen. Für sein künstlerisches Schaffensprinzip samt integrierter Repräsentationskritik berief sich der erprobte Teamplayer explizit auf Bertolt Brecht, der als Autor einst das Berliner Ensemble geleitet hatte.

René Pollesch wusste genau, woher das Theater kam und wohin er es führen wollte. Wie gern hat man ihm und seinen Mitstreiter:innen dabei zugesehen! 2015 verstarb sein langjähriger kongenialer Bühnenbildpartner Bert Neumann. Wollen wir uns die Tränen aus den Augen wischen und hoffen, dass die beiden nun im Himmel das Theater aufmischen. Damit sie dort oben etwas zu lachen haben, mit Esprit und Welthaltigkeit.


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