Zuschlagen: Nicole Oder und Burak Yiğit erzählen mit „Amir“ eine kleine, kaputte Geschichte aus Neukölln
Der Heimathafen Neukölln hat das Berliner Ensemble übernommen, zumindest die kleine Spielstätte im Hinterhof unterm Dach und auch nur für eine Produktion. Nicole Oder aus dem Heimathafen-Team behandelt in ihrer Inszenierung „Amir“ mit Performern, denen man über Streetcredibility nichts erzählen muss, einen sehr Neukölln-typischen Stoff: Gangs! Jugendliche Serientäter! Parallelgesellschaft! Drogen! Aber weil wir bei Heimathafen-Künstlern, also bei genauen Beobachtern und Neuköllnern, und nicht bei Spiegel TV und anderen Dealern schlecht gestreckten Klischee-Stoffs sind, nimmt die Inszenierung „Amir“ ihre Figuren auf eine menschenfreundliche Weise ernst: Keine Chance für Sozialvoyeurismus, „4 Blocks“-Thrill, Ghettostyle-Ausverkauf oder andere schlechte Angewohnheiten der Unterhaltungsindustrie.
Von der Textvorlage, einem Theaterstück von Mario Salazar, ist bei den Proben so wenig übrig geblieben, dass das Theater dem Autor die Uraufführungsrechte zurückgegeben hat. Das ist etwas schade für den Dramatiker, aber dem Abend hat diese Autarkie-Geste gut getan: Wir erzählen hier unsere eigene Geschichte. Diese Geschichte handelt von einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie. Die Aufenthaltserlaubnis der Mutter und der vier Geschwister wird zwar alle sechs Monate von einem gelangweilten Verwaltungsbeamten verlängert, aber eine Arbeitserlaubnis bekommen sie nicht, ein Leben in der Dauerwarteschleife. Die Inszenierung findet dafür das etwas plakative, aber stimmige Bild des Anrennens gegen eine provisorische, aber offenbar uneinnehmbare Wand.
Kein Wunder, dass sich die jungen Männer die Zeit mit Kleinkriminalität vertreiben, Drogen verticken und Läden überfallen. Wie in jedem guten Sozialhöllen-Blues wird dabei die Härte von Strophe zu Katastrophe härter, bis bei einem Überfall auf einen Supermarkt eine Leiche zurückbleibt – ein Mord aus Versehen, Zufall und Dummheit. Nur die toughe und etwas klügere Schwester der drei Brüder (Laura Balzer) findet für sich einen Weg aus dem Abseits: Sie wird Boxerin, und als sie in der Nationalmannschaft für Deutschland zuschlagen darf, erhält sie sogar die deutsche Staatsangehörigkeit, ein Hauptgewinn. Zuzuschlagen und geschlagen zu werden ist in der Welt, in der dieses traurige Stück spielt, eher Routine und Gewohnheit, eine selbstverständliche Form der Kommunikation. Ihr großer Bruder (mit enormer, etwas kaputter Ausstrahlungskraft: Burak Yiğit), ein unsicheres Kind, das seine Unbeholfenheit mit Mackertum einpanzert, hat weniger Glück. Das Leben meint es kurz gut mit ihm, er lernt auf der Straße eine junge, abenteuerlustige Deutsche kennen (Nora Quest), sie charmieren einander spöttisch und verlieben sich heftig.
Hier könnte es anfangen, das gute Leben und der Halt in der Liebe, aber dann nimmt die Kleinkriminellenbiografie mit ihrer Ausweglosigkeit ihren Weg, der Junge schlägt weiter zu, bis er im Gefängnis landet und vergeblich auf Besuche seiner Liebsten warten muss. Es ist nur eine kleine, bittere Geschichte aus Neukölln, Nicole Oder und ihre beeindruckenden Darsteller erzählen sie ohne Illusionen, ohne Schnörkel und falsche Töne.
Termine: Amir im Berliner Ensemble, 22–29 €