Eine Hauptstadt, zu der keine einzige Straße führt, sodass man einen Helikopter oder ein Schiff braucht, um dorthin zu gelangen – das klingt merkwürdig? Ist es auch. Aber das ist Nuuk, die Hauptstadt von Grönland. Nuuk hat nur 18.000 Einwohner, ist damit aber die mit Abstand größte Stadt im ganzen Land, denn insgesamt wohnen nur etwas über 55.000 Menschen in dieser unwirtlichen Gegend. Maria Lang hat es für ein Auslandssemester nach Nuuk in Grönland verschlagen. Ein Erfahrungsbericht.
Ich selbst habe Skandinavistik an der Humboldt-Uni in Berlin studiert. Von meinen Kommilitonen wusste ich, dass Erasmus-Studierende beispielsweise in Norwegen doch meist nur in ihrer Blase aus internationalen Studierenden unterwegs sind. Da dachte ich mir: Okay, wenn schon Blase, dann will ich wenigstens ein außergewöhnliches Land kennenlernen. Und schwups, habe ich Grönland für mich entdeckt.
Der kolonialen Geschichte und Gegenwart kann man in Grönland auch beim Auslandssemester nicht entgehen
Bereits die Vorbereitungen für das Auslandssemester waren ungewöhnlich: Was immer man online beantragen möchte, ob Handyvertrag, Versicherung, Visum – „Grönland“ taucht nirgends in der Standard-Auswahl auf. Man kann nur „Dänemark“ anklicken. Denn Grönland ist ja noch immer eine dänische Kolonie, aber selbst dann können einem Sachbearbeiter oft nicht weiterhelfen. Man muss sich ganz schön durchtelefonieren, manches kann man auch erst vor Ort in einem Fachgeschäft erhalten.
Über die koloniale Verbindung zu Dänemark wusste ich recht wenig, als ich im September 2018 in Nuuk gelandet bin. Vor Ort aber kann man dieser Geschichte kaum entgehen. Dänemark hat sich ein paar Jahrhunderte lang sehr bereichert, indem es in Grönland Walfische gefangen und vor allem den für Petroleumlampen heiß begehrten Tran teuer verkauft hat. Davon zeugt nicht nur ein eigenständiges Nationalmuseum, sondern die Geschichten ziehen sich auch durch die letzten zwei bis drei Generationen der Familiengeschichten aller Grönländer hindurch.
Seit Menschen Glühbirnen benutzen, lohnt sich die grönländische Kolonie für Dänemark finanziell nicht mehr so sehr, also haben die Dänen kurzerhand in den 60ern alle grönländischen Dörfer von der Versorgungskette abgeschnitten. Die einheimischen Inuit hatten die Wahl, sich entweder auf eigene Faust durchzuschlagen oder eben in die Hauptstadt zu ziehen. Auf diese Weise sind in Nuuk ganze Plattenbausiedlungen entstanden, in denen auseinandergerissene Familien unter ärmsten Bedingungen leben.
In letzter Zeit werden mehr Geschichten von früher ausgepackt
Das ist richtig krass! Weil Nuuk so klein ist, kennt jeder jemanden, der von seinen Verwandten abgeschnitten wurde, seinen Beruf verloren hat oder alkoholabhängig geworden ist. Heute kämpfen vor allem junge Grönländer für die Unabhängigkeit von Dänemark. Meine indigenen Kommilitonen entdeckten damals die Lebensweise der Inuit als Gegenentwurf zum kapitalistischen „Schneller – höher- weiter“. Es werden wieder mehr Geschichten von früher ausgepackt, bekannte Indie-Rockbands singen wieder auf Grönländisch und sind stolz darauf.
Die grönländische Kultur ist erstmal sehr auf Nachhaltigkeit ausgelegt. Während meines Erasmus-Semesters haben Einheimische ein paar mal Eisbären geschossen, weil sie wegen der globalen Erwärmung keine Nahrung mehr im Ozean fanden und deshalb zu nah an die Stadt herangekommen sind. Die Kadaver wurden nicht etwa weggeworfen, sondern in den Tagen darauf gab es in einigen Restaurants alle möglichen Speisen mit Eisbärfleisch.
Apropos globale Erwärmung: Natürlich wird es in Grönland richtig kalt, im grönländischen Winter zeigt das Thermometer nachts sogar bis minus 30 Grad Celsius. Das fühlt sich aber gar nicht so kalt an wie bei uns in Deutschland. Weil die Luft so trocken ist, kriecht die Kälte nicht unter die Haut, sondern man kann bei Tageslicht sogar in einer leichten Daunenjacke auf einen Berg wandern gehen. Dort wird man mit einer tollen Aussicht auf den Hafen belohnt, und mit einer Landschaft, die ein bisschen an den Mond erinnert – denn so weit im Norden gibt es weit und breit keine Bäume.
An extrem kalten Tagen steht das öffentliche Leben still
Nur ein paar Tage lang war es in meinem Erasmus-Semester so kalt und verschneit, dass das öffentliche Leben in Grönland nahezu still lag. Dann herrscht in der Stadt Einigkeit darüber, dass alle zuhause bleiben. Für diesen Fall hat man ein gutes Buch sowie Brot, Nudeln und Konserven in der Vorratskammer.
Für mein Skandinavistik-Studium hat mir der Aufenthalt in Nuuk viel gebracht: Nicht nur kann ich die Rolle Dänemarks als angeblich „gute“ Eroberer nun kritischer reflektieren. Nein, ich habe auch ein besseres Verständnis bekommen für alle postkolonialen Zusammenhänge auf der Welt. Die Mechanismen sind ja leider überall ähnlich, und die Nachwirkungen sieht man überall bis heute.
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Erfahrungen mit Auslandssemestern hat auch Lena Vögele – sie war in Nepals Hauptstadt Kathmandu. Lisa Davydenko hingegen war für ihr Auslandssemester in Korea.
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