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Interview

Suchtforscherin: „Flüchtlinge behandeln Traumata mit Drogen“

Zwischen dem 18. und 20. September wird auf dem Deutschen Suchtkongress in Berlin über die vielen Schattierungen von Abhängigkeit diskutiert. Auch die Charité-Forscherin Ebtesam Saleh ist dabei. Sie untersucht Drogenmissbrauch unter Flüchtlingen aus arabischen Ländern. Ebtesam Saleh ist geboren und aufgewachsen in Aden, einer Stadt im südlichen Jemen. Sie hat einen Master in klinischer Pharmazie gemacht und arbeitet derzeit an ihrer Doktorarbeit. Seit 2019 lebt die 40-Jährige in Berlin. Hier erklärt sie ihr Forschungsgebiet – und spricht über gesellschaftliche Tabus, Selbstmedikation und die Legalisierung von Cannabis

Ob Kokain oder andere Substanzen: Drogenkonsum ist für labile Menschen manchmal ein Mittel der Wahl, um psychische Probleme zu übertünchen. Foto: C.Hardt/Future Image

Suchtforscherin Ebtesam Saleh: In manchen Kulturen sind psychische Erkrankungen ein Tabu

tipBerlin Knapp zwei Millionen Menschen, die in Deutschland leben, haben Wurzeln in arabischsprachigen Ländern. Viele sind in den vergangenen Jahren ins Land gekommen, etwa aus Syrien. Sie selbst sind eine Pionierin in der Forschung über die psychische Verfassung dieser Communitys – mit besonderem Blick auf Drogenkonsum und -abhängigkeit. Wieso steht das wissenschaftliche Interesse noch am Anfang?

Ebtesam Saleh Besonders Sprachbarrieren machen es schwierig, mit Probandinnen und Probanden über intime Gefühle und Erfahrungen zu reden. Für Forscherinnen und Forscher ist es schwierig, bestimmte Wörter zu deuten oder die persönlichen Vorstellungen zu verstehen, die jemand in Bezug auf die eigene Psyche hat. Ganz zu schweigen von der Notwendigkeit, einen Übersetzer zu akquirieren, wenn man nicht mit arabischen Sprachen vertraut ist. Hinzu kommt, dass in manchen Kulturen psychische Erkrankungen ein Tabu sind.

tipBerlin Welche Hürden tun sich noch auf?

Ebtesam Saleh Viele Migranten sind sich auch ihrer psychischen Probleme nicht vollauf bewusst, weil im neuen Land zunächst ganz unmittelbare Bedürfnisse im Vordergrund stehen, etwa das Finden einer Wohnung oder eines Arbeitsplatzes. Es spielt auch eine Rolle, ob jemand überhaupt für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erreichbar ist – oder auch für Institutionen, die diese Person therapeutisch behandeln könnten. Das hängt davon ab, ob man wiederum eine Wohnadresse hat oder eine feste Arbeitsstelle.

tipBerlin Sie haben Ihren Bachelor im Jemen gemacht, an der Universität von Aden. Später haben Sie dort als Dozentin gelehrt. In Jordanien haben Sie ebenso studiert. Sie kennen die arabische Lebenssphäre. Im Jemen waren Sie zudem Zeugin schwerer Gewalt und haben mehrere Bürgerkriege überlebt. Wie nahe geht es Ihnen, das psychische Mindset von Leuten erforschen, die vielleicht ähnliche soziokulturelle Hintergründe haben wie Sie selbst?

Ebtesam Saleh Zuallererst erleichtert es das Gespräch und den Vertrauensaufbau, ähnliche Wurzeln und kulturelle Hintergründe zu haben. Zudem ist keine dritte Person zur Übersetzung nötig. So fühlen sich Probandinnen und Probanden geschützt und empfinden eine größere Privatsphäre. Die kommunikative Tiefe ist auch herausfordernd. Als Forscherin muss ich eigentlich eine objektive Haltung einnehmen. Der goldene Mittelweg besteht darin, die Balance zu wahren zwischen gehaltvollem Gespräch und Objektivität.

tipBerlin Für die Studie, die Sie auf dem Deutschen Suchtkongress an der TU Berlin präsentieren wollen, haben Sie mit Flüchtlingen aus arabischsprachigen Ländern über deren Drogenprobleme gesprochen. Worin bestehen Unterschiede im Suchtverhalten zwischen diesen Leuten und Konsumentinnen und Konsumenten aus der Mehrheitsgesellschaft, die „Sophia“ oder „Maximilian“ heißen?

Ebtesam Saleh Man kann dabei nicht pauschalisieren. Um diese Frage zu beantworten, bräuchte man mehr Vergleichsstudien zwischen diesen beiden Gruppen. Was sich aber sagen lässt: Mit Blick auf die Erkenntnisse unserer eigenen Studie war der Drogenkonsum unter arabischen Flüchtlingen vom Bedürfnis geleitet, mit einem traumatisierenden Ereignis umzugehen – darunter der Verlust von geliebten Menschen oder die große Herausforderung, in einem neuen Land anzukommen. Einige Flüchtlinge haben begonnen, Schlaf- und Schmerzmittel zu nehmen, um Insomnie zu bekämpfen, die Folge von Flashbacks wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung war.

Ebtesam Saleh: „Die Verfügbarkeit von Drogen in Berlin ist eine Herausforderung“

tipBerlin Was sind Stolpersteine für möglicherweise labile Flüchtlinge in einer Großstadt wie Berlin?

Ebtesam Saleh Bekanntlich sind Drogen in weiten Teilen der Stadt erhältlich. Diese Drogenszenen an öffentlichen Orten sind womöglich gesellschaftlich toleriert. Doch für Flüchtlinge, die unter psychischen und sozialen Nöten leiden, ist diese Verfügbarkeit eine zusätzliche Herausforderung. Rauschmittel könnten als Strategie zur Bekämpfung von Stress und psychischen Qualen eingesetzt werden. Unsere Forschungsergebnisse sowie andere Studien zeigen, dass Konsum in der Öffentlichkeit, niedrige Preise und Verfügbarkeit wesentliche Faktoren sein können für den Substanzgebrauch unter belasteten Bevölkerungsgruppen.

tipBerlin Unter den illegalen Drogen ist Cannabis am populärsten. Die Volksdroge ist auch unter manchen arabischen Migranten nicht unbeliebt. Die Ampel-Bundesregierung will THC jetzt teilweise legalisieren. Laut der Gesetzesvorlage sind 25 Gramm für den Eigenbedarf erlaubt, auch Homegrowing soll keine Straftat mehr sein. Wie finden Sie die Lockerungspläne?

Ebtesam Saleh Diese Art der Cannabis-Legalisierung kann Menschen helfen, deren gesundheitliche Probleme mit Cannabis-Wirkstoffen gelindert werden können. Ein solches Gesetz würde das Risiko einer Strafverfolgung verringern. Trotzdem könnte es auch zu Problemen kommen – bei Menschen aus anderen Kulturen, die wegen sprachlicher Verständnisprobleme nicht gut aufgeklärt sind. Sie könnten in rechtliche Konflikte geraten, weil sie die gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht genau kennen. Auch psychische Probleme sind denkbar, falls Leute nicht genug über die Risiken von Cannabis wissen.

tipBerlin Sie betätigen sich als Mental-Health-Expertin, schreiben Artikel für arabischsprachige Zeitungen in Deutschland oder machen Workshops als Trainerin für R3solute, eine Hilfsorganisation, die Konflikte in Flüchtlingsheimen löst. Warum fliehen Sie immer wieder aus der akademischen Blase?

Ebtesam Saleh Vielleicht ist es wirklich eine Flucht! Solche Begegnungen sind für mich lebendige Erfahrungen, ob als Coach, Wissensvermittlerin oder auch als Fachkraft in einer Apotheke. Sie bereichern meine wissenschaftliche Arbeit. Forschung ist ja nicht begrenzt auf Antworten, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Studien in Fragebögen eintragen. Der direkte Kontakt ermöglicht mir, die Bedürfnisse von vulnerablen Gruppen besser kennenzulernen.

  • Deutscher Suchtkongress​​ Mo 18.9. bis Mi 20.9., TU Berlin, Straße des 17. Juni 135, Charlottenburg, Panels u. a. über Gaming Disorder, Narcotics Anonymous, Kaufsucht, Crack. Kostenpflichtige Anmeldung erforderlich. Mehr hier

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Um Überdosierungen zu verhindern, ist Drugchecking ein probates Mittel. In Berlin koordiniert der Experte Tibor Harrach ein solches Projekt. Besonders für die Clubszene ist es hilfreich. Ein Treffpunkt von Heroinabhängigen: Am Leopoldplatz dort lassen sich die Interessen von Streetworkern, Drogenkonsumenten und Anwohnern manchmal schlecht vereinbaren. Rauschmittel werden allzu oft romantisiert. Wer die Probe aufs Exempel machen möchte, schaut die ARD-Doku „Exzess“ über Berlins Feierszene im Wandel der Jahrzehnte. Sie ist in der Mediathek erhältlich.

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