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Kommentar

Räumung, Verdrängung, Suizid: Das Ende von Kreuzberg

Kreuzberg verändert sich. Die Zeit dreht sich weiter, wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Abgedroschene Sprüche bekommen plötzlich Relevanz, was als Floskel so daher gesagt wird, trifft ein. Das ist nicht schön. Gerade weil die Erwartungen an Kreuzberg einst so hoch waren, ist der Wandel besonders schmerzhaft. Denn die Mythen und Sagen vom linken, widerspenstigen Bezirk wirken immer noch nach. Hier sollte ein anderes Leben möglich sein. Jetzt kommt die Einsicht, dass dieses andere Leben eine Hoffnung bleiben muss. Räumung, Verdrängung und Suizid sind die harte Realität und die Seele Kreuzbergs wird Schicht um Schicht abgetragen. Ein Abgesang.

Oranienstraße Ecke Adalbertstraße in Kreuzberg. Foto: Imago/Schöning
Oranienstraße Ecke Adalbertstraße in Kreuzberg. Foto: Imago/Schöning

Peter Hollinger lebte seit den 1980er-Jahren in der Adalbertstraße. Der Schlagzeuger war stadtbekannt, er spielte punktgenau, kannte keine Grenzen, schöpfte aus der explosiven Energie von Punk und Rock und driftete immer weiter in experimentelle Welten vor. Teilweise suchte er sich sein Schlagzeug auf der Straße und im Müll zusammen, und erschuf aus den gefundenen Gegenständen großartige Klangerlebnisse.

Irgendwann wurde Hollingers Wohnung gekauft, er bekam eine Mietkündigung wegen Eigenbedarfs, am 31. Mai 2021 beging der 67-jährige Musiker Selbstmord. „Gentrifizierung kann töten“, schrieb ein Weggefährte im Internet. Die Wut und Trauer über Hollingers Suizid richtete sich auf die Veränderungen in der Stadt. In Kreuzberg sind sie besonders spürbar. Hier galten hohe Ansprüche an das Leben, man wollte es verändern. Ideologie und Alltag flossen ineinander und die Häuser wurden hart umkämpft.

Antikapitalismus, gesunde Ernährung, soziale Gerechtigkeit, sexuelle Selbstbestimmung, Frauenrechte, ein multikulturelles Miteinander, das fortschrittliches Denken und Toleranz standen an den Ursprüngen der Kreuzberger Neuerfindung, die in den 1970er-Jahren begann und weit über die Grenzen West-Berlins strahlte. Bis in die Gegenwart wirkt der Kreuzberger Mythos nach, hier eine Wohnung zu bekommen, ist nahezu unmöglich. Aber ist der Mythos heute mehr als eine bunte Tapete für die Träume von Investoren und Spekulanten?

Die Mieten steigen, die Gentrifizierung rollt unerbittlich voran

Die Logik des Kapitalismus erlaubt solchen ideologischen Firlefanz nicht. Das merkt man in diesem Jahr immer stärker. Die Mieten steigen, die Gentrifizierung rollt unerbittlich voran. Nischen verschwinden, Andersdenkende haben in Kreuzberg keinen Platz mehr. Hollingers Tod ist nur ein weiterer Tiefpunkt auf dem traurigen Niedergang Kreuzbergs. Klaus Theuerkaufs Galerie Endart musste schon vor einigen Jahren in der Oranienstraße die Türen schließen, jetzt ist dort ein Spätkauf. Von Theuerkauf zum Spätkauf, lautet die Devise. Dann wurde trotz viel Protest der Kiezbuchladen Kisch & Co. verdrängt, das linke Projekt Meuterei in der Reichenberger Straße wurde geräumt.

Das Ende von Kreuzberg ist kein Knall. Es ist ein langsamer, nur leicht bemerkbarer Wandel. Noch immer ist der Bezirk bunt und quirlig, der Hedonismus paart sich aber mit Tourismus. Es geht um koreanisches BBQ und Pommes in Spitzenqualität, um handgemachtes Brot und die besten Zimtschnecken der Stadt. Ökologischer Luxus, der in der Markthalle IX und anderswo zelebriert wird, und der Aldi muss raus. Ob der Discounter als Symbol eines einst linksalternativen Bezirks funktioniert, ist fraglich, aber im Kiez ist es einfacher, einen grandios gerösteten Kaffee zu bekommen, als kostengünstig einzukaufen. Auch das sagt etwas über den Weg, den der Bezirk einschlägt. Wer wenig Geld hat, hat hier nichts verloren.

An den Ufern geht die Schlacht um Kreuzberg weiter

Die Drogendealer und Obdachlosen tummeln sich zwischen dem Görlitzer Park und Kottbusser Tor, dazwischen schießen die teuren Neubauten aus dem Boden. Partyspaß und fröhliche Gelage werden nach dem Ende der Corona-Maßnahmen wieder den Kreuzberger Sommer bestimmen. Der Landwehrkanal füllt sich mit Hipster-Schlauchbooten und an den Ufern geht die Schlacht um Kreuzberg weiter. Haus um Haus, Wohnung um Wohnung. Keine schönen Aussichten. Peter Hollinger fand keinen anderen Ausweg, als seinem Leben ein Ende zu setzen. Eine verzweifelte Tat und mit Sicherheit eine tragische Ausnahme. Doch viele andere, denen kein Platz mehr gegeben wird, werden sich still davonmachen. Verdrängt, überfordert und enttäuscht.

1972 sang Rio Reiser „Der Traum ist aus“, der Sänger der Ton Steine Scherben ist so etwas wie der Nationalheilige Kreuzbergs, demnächst wird der Heinrichplatz nach ihm benannt. Symbolpolitik. Reiser ist seit 1996 tot und aus Kreuzberg ist er schon viel früher weggezogen.


Hinweis: Menschen mit Suzidgedanken können sich rund um die Uhr an den Berliner Krisendienst wenden.


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