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Wolf Biermann: Die Chausseestraße 131 als sichere Höhle für verfolgte Dichter?

Wolf Biermann würde aus seiner berühmten ehemaligen Wohnung in der Chausseestraße 131, wo er bis zu seiner Ausbürgerung durch die DDR lebte, am liebsten einen Zufluchtsort machen, an dem in ihren Ländern verfolgte Literaten temporär leben können. Dies sagte der legendäre Sänger, Dichter und Liedermacher exklusiv in einem langen Interview, das in der Juli-2023-Ausgabe des Berliner Stadtmagazins tipBerlin erschienen ist. Die Wohnung war als Treffpunkt einer der wichtigsten Orte der DDR-Opposition.

In der DDR war der einst überzeugte Kommunist verboten, seine Ausbürgerung durch die SED-Führung im November 1976 spaltete das Land. Am 7. Juli eröffnet im Deutschen Historischen Museum die Ausstellung „Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland“. Biermann, der mit seinen 86 Jahren immer noch putzmunter ist, wird also museal, doch eine Sache bleibt noch offen, die Zukunft seiner legendären Wohnung in der Chausseestraße 131.

Das ganze Interview kann man in der Juli-Ausgabe des tipBerlin lesen, die gerade erschienen ist und auch über den Webshop bestellt werden kann.

Wolf Biermann "Chausseestraße 131" – Biermanns Schallplatte, betitelt nach seiner berühmten Wohnung, erschien 1969 in West-Berlin im Verlag Klaus Wagenbach. Foto: Sebastian Ahlers © DHM
Wolf Biermann „Chausseestraße 131“ – Biermanns Schallplatte, betitelt nach der berühmten Wohnung, erschien 1969 in West-Berlin im Verlag Klaus Wagenbach. Foto: Sebastian Ahlers © DHM

Wolf Biermann: „Wenn ich an der Chausseestraße 131 vorbeikomme, dann zittert mein Herz“

„Wenn ich an meiner alten Wohnung vorbeikomme, Chausseestraße – Ecke Hannoversche Straße, dann zittert mein Herz“, sagt Wolf Biermann im Gespräch mit dem tipBerlin. Eine bittere Note schwingt in der Stimme des alten Optimisten mit: „Nach dem Fall der Mauer kam kein Verantwortlicher auf die Idee, dafür zu sorgen, daß der ausgebürgerte Wolf Biermann wieder in seine Dichter-Bude kann.“ Da lebte der berühmte Schnauzbartträger aber schon längst wieder in seiner Geburtsstadt Hamburg. Heute will er die Wohnung ohnehin nicht für sich haben, er denkt weiter.

„Die Chausseestraße 131 ist der wohl einzige Ort in Ost-Berlin, wo in den finsteren Zeiten der DDR-Diktatur bedeutende und unbedeutende Leute aus Ost und West einander begegnet sind“, sagt Biermann und zählt einige seiner berühmten Gäste auf. Die Liste liest sich wie das Who is Who des intellektuellen Lebens der 1960er- und 1970er-Jahre in beiden deutschen Staaten. Heiner Müller, Jürgen Böttcher, Manfred Krug, Volker Braun und Stefan Heym auf der einen Seite, Wolfgang Neuss, Rudi Dutschke, Heinrich Böll, Günter Wallraff und Günter Grass auf der anderen. Auch internationale Weltstars wie die Folksängerin Joan Baez oder der Beat-Poet Allen Ginsberg schauten vorbei, wenn es sie in die Hauptstadt der DDR verschlug, und ebenso Dissidenten und oppositionelle Künstler aus den sozialistischen Bruderstaaten.

Zwar durfte Biermann ab 1965 nicht in der DDR öffentlich auftreten und seine Texte und Lieder veröffentlichten Verlage im Westen, doch die Chausseestraße 131 blieb bis zu seiner Ausbürgerung im November 1976 ein lebendiger Ort des kritischen Austauschs. Zwischen Bildern, Fotos, Skizzen, Bücherbergen, Musikinstrumenten, einem alten Billardtisch und abgewetzten Ohrensesseln wurde dort, stets unter den wachsamen Augen und Ohren der Staatssicherheit, ein frecher und widerspenstiger Geist gepflegt.

Wolf Biermann über seine Wohnung in der Chausseestraße 131: „Ein hochkarätiges Zentrum des Widerstands“

„Es ist kein Verbrechen, aber ein Fehler, wenn Berlin so ein hochkarätiges Zentrum des Widerstands nicht in Besitz und in Gebrauch nimmt“, sagt Biermann. Ihm schwebt eine Institution vor, am historischen Ort und gelegen an einer für das kulturelle Gedächtnis der Stadt einmaligen Meile – zwischen Brecht-Haus, Dorotheenstädtischen Friedhof und dem Berliner Ensemble.

„Man könnte dort zum Beispiel eine sichere Höhle einrichten, wo Schriftsteller und Liederdichter aus aller Welt, die wenig Geld haben, aber viel Geist, also mutige Dichter, die verfolgt sind, mal ein Jahr lang am süßsauren Leben der auferstandenen Weltstadt Berlin lecken könnten“, so Biermanns Vorschlag. Ein Ort, an dem Künstler leben und arbeiten würden, mit einem Veranstaltungsprogramm vielleicht, mit Konzerten und Lesungen, ein Refugium, wo die Idee von Kunst und Freiheit gedeihen könnte.

Doch die Sache ist nicht einfach. Schon vor 20 Jahren widmeten sich Zeitungsartikel der problematischen und historisch mehr als ironischen Situation um die legendäre „Wolfshöhle“ in der Chausseestraße 131. Denn die bewohnt seit geraumer Zeit Hanno Harnisch, von 1990 bis 2001 Pressesprecher des Parteivorstandes der PDS und ehemaliger Feuilleton-Chef des „Neuen Deutschland“.

Wolf Biermann beim Konzert in der Sporthalle Köln, 13. November 1976, Foto: Barbara Klemm © DHM
Drei Tage vor der Ausbürgerung: Wolf Biermann beim Konzert in der Sporthalle Köln, 13. November 1976, Foto: Barbara Klemm © DHM

Laut einem Artikel der „Berliner Zeitung“ aus dem Jahr 1997 war Harnisch zudem Stasi-Spitzel: „Der PDS-Pressesprecher Hanno Harnisch hat nach Unterlagen der Gauck-Behörde, die der Berliner Zeitung vorliegen, seit 1971 inoffiziell mit dem früheren Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zusammengearbeitet“, heißt es dort. Und es wird noch bunter: „Seit 1976 berichtete er als IM ,Egon’ über Freunde und Bekannte aus der Kulturszene der DDR, besonders über jene, die Kontakt zu Wolf Biermann hatten.“

Warum nun Harnisch in Biermanns berühmte Wohnung durfte, ist eine lange Geschichte, und wie alles im Detail ablief, ist heute auch nebensächlich. Im Großen und Ganzen mutet die Angelegenheit aber wie eine schreiende Ungerechtigkeit an. Vielleicht sollten sich also, angesichts der musealen Würdigung von Wolf Biermann und noch zu dessen Lebzeiten(!) mal einige Verantwortliche aus Kultur, Politik und Immobilienbranche zusammensetzen und überlegen, ob die Idee des Berliner Ehrenbürgers, die Wohnung und Pilgerstätte für Musikfans zum Gemeinwohl zu nutzen, nicht doch ganz gut ist. Sehr gut sogar!


Ausstellung

  • Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, Mitte, tgl. 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, 7.7.–14.1.2024. Mehr Informationen gibt es hier.

Katalog

  • Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.), Ch. Links Verlag, 208 S., 25 €

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