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Interview

Wolf Biermann über Brecht, Nazikinder, Allen Ginsberg und glückliche Tage in Köln

Im Juli 2023 eröffnete im Deutschen Historischen Museum (DHM) die Ausstellung „Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland“. Wir sprachen mit der deutsch-deutschen „Legende ohne Totenschein“ über die historischen Dimensionen seines Lebens, wichtige Freundschaften, die berühmte Wohnung in der Chausseestraße 131, drei glückliche Tage und ein neues Lied.

Der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann wird mit einer Ausstellung im DHM geehrt. Foto: imago/epd 
Der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann wird mit einer Ausstellung im DHM geehrt. Wir trafen ihn zum Interview. Foto: imago/epd 

Wolf Biermann: „Ein Horrorfilm! Nein, richtiger: ein hochpolitischer Abenteuerfilm“

tipBerlin Herr Biermann, wir sind hier in Berlin-Mitte, Sie waren gerade in Ihrem alten Kiez unterwegs, wie fühlte sich das an?

Wolf Biermann Ein Horrorfilm! Nein, richtiger: ein hochpolitischer Abenteuerfilm. Wenn ich an meiner alten Wohnung vorbeikomme, Chausseestraße/Ecke Hannoversche Straße, dann zittert mein Herz. Dann starre ich mit schiefem Hals nach oben, zu meinen Fenstern. Nach dem Fall der Mauer kam kein Verantwortlicher auf die Idee, dafür zu sorgen, dass der ausgebürgerte Wolf Biermann wieder in seine Dichter-Bude kann.

tipBerlin Hätten Sie Ihre alte Wohnung gerne wieder?

Wolf Biermann Was sonst? Aber nicht etwa meinetwegen. Ich lebe gut und gern in meiner Vaterstadt Hamburg. Die Chausseestraße 131 ist aber der wohl einzige Ort in Ost-Berlin, wo sich in den finsteren Zeiten der DDR-Diktatur Menschen mit großem Namen und kleinem trafen. Ein Ort, wo bedeutende und unbedeutende Leute aus Ost und West einander begegnet sind.

Ich denke an Freunde wie Heiner und Inge Müller und Jürgen Böttcher, Jürgen Fuchs, Reiner Kunze, Volker Braun, Jurek Becker, Günter Kunert, Stefan Heym, Günter Gaus, Joan Baez und Hedy West, Allen Ginsberg, der Wiener Mime Qualtinger, -Sahra und Rainer Kirsch, Manfred Krug. Die Jazzer Baby Sommer und Ulli Gumpert. Unsere genialste Dichterin Helga M. Novak.  Wolfgang Neuss. Starke Fotografen wie Thomas Höpker, Helga Paris, Roger Melis. Brechts Dänin Ruth Berlau. Udo Lindenberg, Max Frisch, Franz Hohler, Herbert Marcuse. Der Maskenmensch Wallraff, der Mensch ohne Maske Heinrich Böll. Günter Grass. Thomas Brasch, Babu Honigmann. Lew Kopelew. Robert Havemann sowieso. Einmal, kurz vor ihrer RAF-Zeit, besuchte mich dort die hart linksrechtslinke Ulrike Meinhof. Oft genug der sanfte Radikale Rudi Dutschke, er besuchte mich vor und auch nach den drei Ku’damm-Kugeln im Kopf. Der genialste Cantautor Daniel Viglietti aus Südamerika, sein Pendant, der populäre Romantiker Bulat Okudshava aus Moskau. Es kamen Dissidenten aus Polen, Ungarn oder der ČSSR. Auch Gottes westöstliches Bodenpersonal besuchte den gottlosen Biermann. Es kamen so genannte einfache DDR-Bürger, die beim genaueren Hinsehen gar nicht so simpel sind. Und bedeutende Leute, die beim genaueren Hinsehen nicht so bedeutend sind. 

Wolf Biermann: „Verdrängte Erinnerungen explodieren mir im Gemüt“

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tipBerlin Wenn Sie dort aber nicht wohnen wollen, was sollte mit der Wohnung passieren?

Wolf Biermann Es ist kein Verbrechen, aber ein Fehler, wenn das endlich wiedervereinigte Berlin so ein hochkarätiges Zentrum des Widerstands nicht in Besitz und in Gebrauch nimmt. Zum Beispiel könnte man dort eine sichere Höhle einrichten, wo Schriftsteller, Liederdichter aus aller Welt, die wenig Geld haben, aber viel Geist, also mutige Dichter, die verfolgt sind, mal ein Jahr lang am süßsauren Leben der auferstandenen Weltstadt Berlin lecken könnten. Wenn ich hier in meiner alten Gegend rumlaufe, merke ich und genieße ich es, dass sich der Kiez radikal verlebendigt hat, vermenschlicht. Verdrängte Erinnerungen explodieren mir im Gemüt. Besonders mein preußischer Gusseisen-Adler auf der Weidendammer Brücke, über den ich 1976 die Ballade vom Preußischen Ikarus geschrieben habe. 

tipBerlin Und wo ein sehr berühmtes Foto von Ihnen entstanden ist.

Wolf Biermann Auf die Idee kam ich damals mit Allen Ginsberg, dem Poeten der Beat-Generation, der mich in Ost-Berlin besuchte. Nach dem wir alle Probleme der Menschheit mal wieder endgültig gelöst hatten, wofür wir nur wenige Stunden brauchten …

tipBerlin … und wie viele Flaschen Wein?

Wolf Biermann: „Ich bin schon vom Leben besoffen genug“

Wolf Biermann Keine. Ich bin schon vom Leben besoffen genug. Alkohol brauchte ich nie, weder zum Leben noch zum Dichten. Als ich mit dem New Yorker Kollegen also am Adler vorbeikam, wollte ich witzig sein und redete in meinem ostdeutschen Stotter-Englisch zu dem berühmten Verfasser des Poems „Howl“. Ich stellte mich vor den Adler und sagte: „Look, Allen, this is the Prussian eagle. And when I stand here, I am the Prussian Ikarus“. Er zog aus der Tasche eine Wegwerfkamera und knipste mich kurz ab. Dann drückte er mir den Apparat in die Hand, ich knipste nun ihn in der gleichen Pose. So kam mir die Idee, eine kleine competion zu machen und sagte: „You and me, we both write a poem with the title The Prussian Ikarus“ und er sagte wieder „great!“. Ich schrieb mein Lied, kurz bevor ich ausgebürgert wurde. Und habe es dann erstmals öffentlich in Köln gesungen.

Wolf Biermann – Ballade vom preußischen Ikarus

tipBerlin Ginsberg hielt sich nicht an die Abmachung?

Wolf Biermann Als er gestorben war, kam meine Frau Pamela auf die Idee, in New York anzufragen, ob in seinem Nachlass was über den preußischen Ikarus in Berlin zu finden ist, vielleicht wenigstens beide Fotos. Aber die haben nichts gefunden. Schade! Ich verdanke dieser Begegnung immerhin dieses Lied. Es spielt für meine politische Gefühlsökonomie eine Rolle, denn es markiert exakt meine Kippe im Kalten Krieg zwischen Ost und West. Ich gehörte ja zu den Da-Bleibern, nicht zu den Abhauern. 

tipBerlin Im Juli 2023 eröffnete im Deutschen Historischen Museum eine Ausstellung, in der es um Sie geht. Sind Sie reif fürs Museum?

Wolf Biermann Sieht nicht so aus, ist aber so: Museumsstück Biermann. Das ist komisch, weil ich dummerweise noch nicht tot bin. Nobody is eben perfect! In meinem Lied „Heimkehr nach Ostberlin“ fand ich dafür eine treffende Zeile: „Ich bin Legende ohne Totenschein“. Was kann ich kleines Menschenkind im Lauf der großen Welt schon groß bewirken? Wenig. Das gilt für uns alle, aber in meinem Fall etwas dramatischer, besonders schön deutlich. Mein Leben lieferte mir Stoff für lebendige Gedichte. Nehmen Sie das Lied „Und als wir ans Ufer kamen“: Innig vereintes Liebespaar in großer politischer Landschaft: im tief zerrissenen Deutschland.

tipBerlin Wann fingen Sie an, Gedichte und Lieder zu schreiben?

Wolf Biermann Ich studierte an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin. Und dadurch geriet ich dann in den Sog des Berliner Ensembles. Brecht Brecht Brecht. Das stachelte mich an zum Lieder- und Gedichteschreiben. Ich wurde natürlich ein Brechtianer, und so beschloss ich, die Menschheit zu retten, indem ich als Regisseur in der DDR Brecht-Theater mache. 

tipBerlin Glauben Sie, dass Sie für Ihre Lieder und Gedichte die DDR als Widerpart, an dem Sie sich reiben konnten, gebraucht haben?

Wolf Biermann Das ist klar wie Kloßbrühe. Ich bin einer der Wenigen, der ohne Falsch witzeln kann: Ja, ich verdanke der Partei alles. Der tiefe Konflikt mit den verdorbenen Greisen im Politbüro der SED und ihrer Kanaillen lähmte mich nicht, er stachelte den Sohn von Dagobert Biermann. Die meisten meiner Generation, im Osten wie im Westen, waren Nazikinder, die schämten sich für ihre Eltern. Fast alle haben die Lügen durchschaut, sah’n, wie die Obergenossen leben. Jeder wusste, dass Andersdenkende verfolgt werden. Aber wenn die jungen Leute ihre Kritik vorbrachten, in der Schule, in der Uni, in den Fabriken, im ganzen öffentlichen Leben, dann sprachen fast alle mit großer Bescheidenheit. Eine verständliche Demut aus echter Scham. Die Nazikids wollten beweisen, dass sie keine Nazis sind. Ich hingegen sprach mit der Chuzpe des rechtmäßigen Erben zu den Parteifunktionären: Ich bin der Kommunist, Genossen, ihr seid falsche Kommunisten, ihr seid reaktionäre Unterdrücker, brutale Ausbeuter!

Drei Tage vor der Ausbürgerung: Wolf Biermann beim Konzert in der Sporthalle Köln, 13. November 1976, Foto: Barbara Klemm © DHM
Drei Tage vor der Ausbürgerung: Wolf Biermann beim Konzert in der Sporthalle Köln, 13. November 1976, Foto: Barbara Klemm © DHM

tipBerlin Als Sie die Nachricht von der Ausbürgerung bekommen haben …

Wolf Biermann Ja, … das war der 16. November 1976. Ich wurde gerade im Auto der IG Metall vom Fahrer des Chefredakteurs der IG-Metall-Zeitung Jakob Moneta zu meinem zweiten Konzert nach Bochum gebracht. Auf der Autobahn hörte ich im Radio die Nachricht: „Biermann ausgebürgert, er hat das Recht verwirkt, Bürger der DDR zu sein“ und der Nachsatz, „sein persönlicher Besitz wird ihm nachgeschickt“.

tipBerlin Was wollten Sie im Westen also tun?

Wolf Biermann Etwas Neues liefern über den Westen. Ich war aber ostklug und westdumm. Die tragisch-komische Seite der Ausbürgerung war, dass ich die groteske Pflicht hatte, im Westen berühmt zu bleiben. Ich wollte nicht, dass die Bonzen in der DDR ihre jungen Rebellen einschüchtern konnten: „Schnauze! du Großmaul. Bedenke, was aus deinem blöden Biermann geworden ist, der is weg vom Fenster! Wer sich mit uns in Streit einlässt, der ist hinüber“. Ich war also verdammt, ein sogenannter Star zu bleiben, hatte aber nichts Brauchbares zu liefern und nichts zum Leuchten. Es war ein Luxus-Elend. Die ersten drei, vier Westjahre im Licht der Freiheit waren für mich eine düstere Zeit. 

tipBerlin Wenn wir in die Vergangenheit blicken würden, welcher Moment in ihre Leben war für Sie am wichtigsten?

Wolf Biermann Weiß ich nicht. Die drei glücklichsten Tage meines Lebens waren das Konzert in Köln 1976 bis zum 16. November. Wenn ein Liedermacher nach zwölf Jahren Schnauze halten und nur im Zimmer oder in der Küche für eine Handvoll Freunde Singen, plötzlich in einer Halle vor 8.000 Menschen auftritt, dann ist das ein Break, rein menschlich, unrein politisch, vor allem: künstlerisch. Ich genoss den Triumph, dass ich nicht verdorrt war im Totalverbot. 

Wolf Biermann: „In der Zeit, als er endlich wieder ein kritischer Kommunist geworden war, wurden wir Verbündete im Streit der Welt“

tipBerlin Über welche Menschen sind Sie besonders froh, dass Sie sie kennengelernt haben?

Wolf Biermann Es sind angenehm zu viele. Ohne sie wäre ich zusammengebrochen. Klar: in der DDR mein Freund Robert Havemann. Der war eine Generation älter als ich, ein besonders tapferer Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Er erlebte 1945 die Befreiung im Knast Brandenburg in der Todeszelle. Er war klüger und erfahrener als ich. Ein hochkarätiger Naturwissenschaftler. Nach dem Krieg hielt er Vorlesungen an der Humboldt-Universität über physikalische Chemie. Anfangs ein Parteikader, brav auf Linie. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU, als Chruschtschow 1956 mit den Stalin-Verbrechen abgerechnet hat, gehörte Robert zu denen, die den Bruch wagten. In der Zeit, als er endlich wieder ein kritischer Kommunist geworden war, wurden wir Verbündete im Streit der Welt.

tipBerlin Havemann haben Sie nach der Ausbürgerung als Freund verloren.

Wolf Biermann Verloren ja, aber nicht verloren. Aber im Westen fand ich zum Glück auch so einen Menschen, der einen Vorsprung hatte an Lebenserfahrung und Verstand. Der gab mir Kraft und neue Orientierung beim Bruch mit meinem kommunistischen Kinderglauben. Arno Lustiger war ein Pole, sein Cousin war der berühmte französische Kirchenfürst und Erzbischof von Paris, Jean-Marie Lustiger, ein jüdischer Konvertit, der ja hätte Papst in Rom werden können. Mein Freund Arno überlebte genau dort, wo mein Vater ermordet wurde. Sein Leben ein osteuropäischer Roman. Als Historiker des jüdischen Widerstands, hatte er den Ehrgeiz zu beweisen, dass nicht alle Juden sich haben abschlachten lassen wie die Kälber. Er erforschte den jüdischen Widerstand, nicht nur den im Warschauer Ghetto, sondern auch in der UdSSR und im Spanischen Bürgerkrieg. Er verführte mich dazu, den kompletten „Großen Gesang vom ausgerotteten Jüdischen Volk“ von Jizchak Katzenelson aus dem Jiddischen in mein Deutsch zu bringen. Dieses Buch kostete mich zwei Jahre. „Dos lid funem ojsgehargetn jidischn folk“ ist wohl das stärkste Poem über den Holocaust, das ich kenne. 

Wolf Biermann: „In meinem Beruf gibt es keine Rente“

tipBerlin In der DDR haben Sie sich mit ihren jüdischen Wurzeln nicht beschäftigt?

Wolf Biermann Ich wusste immer sehr genau, dass ich nebenbei auch Jude bin. Klar, nach halachischem Gesetz gar nicht, weil ja nur mein Vater Jude war. Aber wie Karl Lueger, der großmächtige antisemitische Bürgermeister von Wien, einmal proklamierte: „Wer Jude ist, das bestimme immer noch ich“. Hitlers Hermann Göring hat es nur nachgeplappert. Aus Nazi-Perspektive galt ich als Halbjude, als „Mischling erster Klasse“. In Yad Vashem fand ich ein Dokument. Es besagte, dass die Halbjuden, egal ob Vater oder Mutter, sich nach den Nazigesetzen bis 1947 gedulden sollten, bis auch sie alle an der Reihe sind. Das erinnert mich an eine Zeile aus dem Jahre 1929 in dem „Stempellied“ des genialen jüdischen Schlagerdichters mit der hochintelligenten Berliner Schnauze, Robert Gilbert: „Bloß nich drängeln zu die Engeln!“

tipBerlin Sie sind nun 86 und arbeiten immer noch, Ihr ganzes Leben. Ruhen Sie sich nicht auch mal aus?

Wolf Biermann In meinem Beruf gibt es keine Rente. Gerade habe ich ein neues Lied geschrieben, das ich auch bei der Ausstellungseröffnung im Deutschen Historischen Museum singen werde. Es heißt „Was du erinnerst, warst du nicht“. Wenn eine Diktatur zusammenbricht, wimmelt es immer von Widerstandskämpfern. Nach dem bösen Motto: „Ach wenige waren wir und viele sind übrig geblieben“. 


Ausstellung

  • Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, Mitte, tgl. 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, bis zum 14.1.2024. Mehr Informationen gibt es hier.

Katalog

  • Wolf Biermann. Ein Lyriker und Liedermacher in Deutschland Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hg.), Ch. Links Verlag, 208 S., 25 €

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