Kommentar

Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau: Nazi-Terror mit System

Ein psychisch kranker Einzeltäter greift zur Waffe und mordet. Nun ist er tot, die Sache ist erledigt – so einfach scheint es für das deutsche Establishment jedes Mal zu sein. Aber ein Jahr nach dem rechtsextremen Anschlag von Hanau sind noch viele Fragen offen – und kaum eine Woche vergeht ohne Meldungen vom rechten Rand. Nazi-Terror ist nie nur Einzelfall, sondern wäre ohne rassistische Mainstream-Diskurse und ungestörte rechte Netzwerke gar nicht möglich, schreibt Nathaniel Flakin im Kommentar.

Gedenkveranstaltung für die Opfer des Anschlags von Hanau. Ein Jahr später bleiben viele offene Fragen. Foto: Imago/Pacific Press Agency
Gedenkveranstaltung für die Opfer des Anschlags von Hanau. Ein Jahr später bleiben viele offene Fragen. Foto: Imago/Pacific Press Agency

Neun Menschen in Hanau ermordet: Ganz eindeutig Opfer von Rassismus

Vor einem Jahr, am 19. Februar 2020, ermordete ein Nazi-Terrorist neun Menschen in der deutschen Stadt Hanau. Ihre Namen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Diese neun Menschen kamen aus unterschiedlichen Verhältnissen. Einige hatten deutsche Pässe, andere nicht. Einige waren in Hanau geboren, andere in Anatolien oder auf dem Balkan. Einige waren Kurd*innen, andere Roma – die Enkel von Menschen, die die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten. Aber sie alle hatten, nach den Kategorien der deutschen Bürokratie, Migrationshintergrund.

Sie alle waren auch Opfer von Rassismus.

Warum hatte der Attentäter von Hanau überhaupt einen Waffenschein?

Der moderne deutsche Rassismus bezieht sich nicht nur auf die Staatsbürgerschaft – viele Menschen werden diskriminiert, obwohl sie im rechtlichen Sinne Deutsche sind. Der Mörder in Hanau war ein 43-Jähriger namens Tobias Rathjen. Nach seinem Amoklauf erschoss er erst seine Mutter und dann sich selbst. Er hatte Videos von sich veröffentlicht, in denen er über bizarre rechte Verschwörungstheorien schwadronierte. Möglicherweise war Rathjen sogar QAnon einige Schritte voraus: Beispielsweise warnte er die Amerikaner*innen vor unterirdischen Militärbasen, in denen Kinder in satanischen Ritualen gefoltert werden.

Noch bevor das Blut getrocknet war, hatte das deutsche Establishment eine Geschichte ersonnen: Rathjen war bloß ein Individuum, das an paranoider Schizophrenie litt. Nun war der Mörder tot und der Fall somit abgeschlossen. Doch ein Jahr später stehen die Angehörigen der Opfer mit vielen Fragen da. Die wichtigste lautet: Warum hatte jemand, der paranoiden Fantasien in die Welt brüllte, überhaupt einen Waffenschein?

Anschlag von Hanau: Attentäter schon seit 2002 auffällig

Es ist nicht so, dass Rathjen außerhalb des Wahrnehmungsradars geflogen wäre. Er schrieb wiederholt an zahlreiche Behörden, darunter auch an den Generalstaatsanwalt, und forderte sie auf, gegen eine „unbekannte Geheimdienstorganisation“ vorzugehen. Diese langen, verstörenden Briefe wurden bereits seit 2002 verschickt. Rathjen wurde einmal kurz in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, nachdem er einen Polizisten angegriffen hatte. In mindestens 15 verschiedenen Polizeiakten taucht sein Name auf.

Es besteht kein Zweifel, dass er an einer psychischen Krankheit litt. Aber Rathjen hat die Verschwörungstheorien nicht aus dem Hut gezaubert. Seine rassistischen Ideen, mit besonderem Hass auf den Islam, sind Teil des Mainstream-Diskurses in Deutschland. Er fürchtete, die „deutsche Rasse“ werde durch Einwanderer*innen ersetzt. Diese Theorie des „großen Austauschs“ wird selbst im Bundestag von der rechtsextremen AfD propagiert.

Der Anschlag von Hanau war kein Einzelfall: ein "Migrantifa"-Transparent an einem Berliner Balkon Foto: Imago/Steinach
Der Anschlag von Hanau war kein Einzelfall: ein „Migrantifa“-Transparent an einem Berliner Balkon. Foto: Imago/Steinach

Mit Schikane feuert die Polizei rechte Diskurse an

Aber es geht nicht nur um die AfD. Warum hatte es Rathjen auf Shisha-Bars abgesehen? In Neukölln führte die Polizei zahlreiche Razzien gegen diese Bars durch. Hunderte von mit Maschinengewehren bewaffneten Beamten stürmten Cafés in der Sonnenallee. Die Lokale werden als Zentren der „Clankriminalität“ dargestellt, auch wenn die Razzien nie etwas anderes als ein paar Ordnungswidrigkeiten aufdecken.

Diese Art von Schikane mag auf einer Linie mit rechtsextremer Agenda liegen, aber durchgeführt wird sie wird von einem sozialdemokratischen Bezirksbürgermeister mit Unterstützung der konservativen Opposition. Und während die Polizei mehr als genug Ressourcen hat, um Leute fertigzumachen, die Wasserpfeifen rauchen, behauptet sie, dass sie nichts tun könne, um Nazi-Terrorist*innen zu stoppen, die Brandstiftung und Mordversuche begehen. (Die beiden Hauptverdächtigen für die rechte Terrorwelle sind übrigens auf Kaution freigelassen worden.)

Inkompetenz wäre tröstlich

Eigentlich wäre es in dieser Situation irgendwie tröstlich zu denken, dass die Polizei einfach nur inkompetent war. Tatsächlich aber vergeht kaum eine Woche ohne neue Berichte über rechte Netzwerke in Polizei, Geheimdiensten und Militär. Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: Zahlreiche Politiker*innen (meist Frauen) haben Morddrohungen mit der Unterschrift „NSU 2.0“ erhalten, in Anspielung auf die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“, die zwischen 2000 und 2011 zehn Menschen ermordet hat. Die Privatadressen dieser Politiker*innen waren an einem Polizeicomputer abgerufen worden.

Leider ist es wohl nicht bloß ein Versehen, dass ein rechtsextremer Fanatiker Waffen behalten durfte. Es scheint einfach zu viele Verbindungen zwischen Geheimdiensten und gewalttätigen Nazis in Deutschland zu geben, um das alles mit bürokratischen Versäumnissen zu erklären.

Deshalb wird das Streben nach Gerechtigkeit für die Opfer des Nazi-Terrors von Aktivist*innen aufgegriffen: Eine Bewegung namens „Migrantifa“ – ein Kofferwort, das anscheinend entwickelt wurde, um Trumpisten das Fürchten zu lehren – ruft zu Demonstrationen am Jahrestag auf. Mahnwachen finden am Freitag bundesweit statt.

Mahnwachen in Berlin geplant

In Berlin sind um 16 Uhr Mahnwachen geplant

  • am Leopoldplatz im Wedding
  • am Rathausplatz in Neukölln
  • am Oranienplatz in Kreuzberg

Am Samstag ist um 14 Uhr eine Demonstration am S-Bahnhof Hermannstraße angekündigt.


Mehr politische Themen

Wir haben vergangenes Jahr nach dem Anschlag von Hanau Shisha-Bars besucht und mit den Betreiber*innen über rechten Terror gesprochen. Nachdem im Herbst 2020 eine rechte Chatgruppe der Polizei aufgeflogen war, sollten eigentlich die Untersuchungen kommen. Die Rassismus-Studie bei der Polizei war dann aber eine Bankrotterklärung. In Neukölln gehören rechte Anschläge leider zum Alltag. Und die Nazis führten „Feindeslisten“. Als die 2020 auftauchten, sah die Polizei keine konkrete Bedrohung. Wie tief die Vorstellungen sitzen, erkennt man auch in Mainstream-Komödien: „Otto – der Film“ ist voller rassistischer Klischees.

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