Radpolitik

Mammutprojekt Verkehrswende: So will Berlin gen Zukunft radeln

Auf die Räder, fertig, los! Die Corona-Krise hat dem Fahrradverkehr in Berlin einen weiteren Schub beschert. Die Zweiräder boomen seit Jahren. Aber der Senat, sagen Kritiker*innen, kommt bei der Umsetzung der Verkehrswende kaum voran. Pop-up-Radwege, Mobilitätsgesetz, autofreie Stadt Berlin: Wir haben mit Forscher*innen, Politiker*innen und Aktivist*innen gesprochen, um zu erfahren, wann da endlich was ins Rollen kommt.

Ausblick auf die Verkehrswende in Berlin? Das Pilotprojekt „Autofreie Friedrichstraße“ in Mitte. Foto: Imago/David Weyand

Reinickendorf träumt noch von der autogerechten Stadt

An einem kalten Samstagnachmittag Anfang März nehmen ein Dutzend Kinder auf dem Zabel-Krüger-Damm in Reinickendorf die Verkehrspolitik in eigene Hände: Sie malen Zebrastreifen auf den Asphalt, mit Kreide. Es dauert nur Minuten. „Liebe CDU“, schallt es aus einem Lautsprecher: „Was die Kleinen hinkriegen, solltet ihr auch hinkriegen.“ Die CDU regiert mit der SPD im Bezirksamt.

An diesem frühen Nachmittag haben Changing Cities Reinickendorf und die Initiative Zabel-Krüger-Damm zum ersten Fahrradkorso des Jahres durch das nördliche Reinickendorf geladen. Beim Start am S-Bahnhof Waidmannslust sind es rund 170 Frauen, Kinder und Männer, die die große Biege gen Märkisches Viertel einschlagen.

Der Zustand der Reinickendorfer Radwege ist oft bestürzend. Schlaglöcher, dass die Speichen ächzen. Im Bezirk gibt es immer noch keinen einzigen Pop-up-Radweg. „Das ist der Bezirk, wo die Zeit stehengeblieben ist“, ruft ein Mann. „Hier träumt man immer noch von der autogerechten Stadt.“

Der Zebrastreifen auf dem Zabel-Krüger-Damm bleibt nur für ein paar Fotos. Dann wird er weggewischt, mit Besen, Wasser und Wut. Es war eine kurze Illusion, dass die Verkehrswende in Berlin schnell gehen könnte. Das Gegenteil ist der Fall.

Das Gesetz zur Verkehrswende klingt so gut

Die Corona-Pandemie hat dem ohnehin seit Jahren boomenden Radverkehr einen weiteren Schub verschafft, plus 20 Prozent. Aber die Fahrradinfrastruktur ist weit davon entfernt, damit Schritt zu halten.

Trotz eines rot-rot-grünen Senats, der seit Ende 2016 die Hauptstadt regiert. Trotz einer grünen Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, in deren Verwaltung die Stellen für den Radverkehr erheblich erweitert wurden. Trotz eines deutschlandweit einmaligen Mobilitätsgesetzes, das im Juni 2018 verabschiedet wurde.

Autos nehmen 60 Prozent der Straßenfläche ein. Dem Radverkehr bleiben ganze drei Prozent. 2008 wurden aber  in Berlin bereits 67 Prozent aller Wege per Bus, Bahn, zu Fuß oder auf dem Rad zurückgelegt. Vor allem wegen des boomenden Radverkehrs. Das Senatsziel für 2030: 82 Prozent.

Das Mobilitätsgesetz ist auch voller guter Absichten. Zehn Radschnellverbindungen von den Außenbezirken ins Zentrum, breite Radwege an allen Hauptverkehrsstraßen, 100.000  Fahrradstellplätze bis 2025.

Ein Resultat bisher: Pop-up-Radwege.

Die Fahrradaktivistin Ragnhild Sørensen sagt: „Rund 25 Kilometer neue Pop-up-Radwege im letzten Jahr, das klingt erst einmal viel. Aber mit dieser Geschwindigkeit brauchen wir etwa 200 Jahre, bis das Mobilitätsgesetz vollständig umgesetzt ist.“

Der Verkehrsexperte der Berliner Industrie- und Handelskammer Lutz Kaden klagt: „Von der Umsetzung der Ziele des Mobilitätsgesetzes ist noch viel zu wenig zu sehen. Es ist dem Senat noch nicht einmal gelungen, die Parkgebühren zu erhöhen.“

Der SPD-Politiker Sven Kohlmeier wundert sich: „Einen von den Radschnellwegen hätte man ja mal hinbekommen können. Ich weiß gar nicht, warum das so lange dauert. Das ist doch keine Marsmission.“

Der Mobilitätsforscher Andreas Knie sagt: „Das ist ja das Dramatische: Berlin ist unter Rot-Rot-Grün weit zurückgefallen.“ Ist irgendwann Besserung in Sicht?

Verkehrswende? Ein Unfallforscher hat Bedenken

„Je mehr Radfahrer auf die Straße kommen, umso aggressiver verteidigt der Autofahrer ,sein‘ Revier. Der Radfahrer ,seines‘ natürlich auch“, sagt Unfallforscher Siegfried Brockmann. Foto: Imago/Tagesspiegel
„Je mehr Radfahrer auf die Straße kommen, umso aggressiver verteidigt der Autofahrer ,sein‘ Revier. Der Radfahrer ,seines‘ natürlich auch“, sagt Unfallforscher Siegfried Brockmann. Foto: Imago/Tagesspiegel

Ein Anruf beim renommiertesten Unfallkenner Deutschlands. Siegfried Brockmann wurde vor 15 Jahren Chef der Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft.  „Je älter ich werde, stelle ich fest: Die Zeit rast zwar, aber im Verkehrsgeschehen tut sich nicht wahnsinnig viel – außer  beim Radverkehr“, sagt Brockmann.

„Vor 15 Jahren spielte der nur eine Randrolle, die Politik hat ihn nicht ernst genommen. Das hat sich in den letzten Jahren exponentiell verändert.  Das sieht man aber natürlich dann auch an den Unfallzahlen.“  Die Zahl der getöteten Radfahrer*innen stagniere seit Jahren, sagt er, während sie beim Auto deutlich zurückgegangen seien. Dann erzählt Brockmann, warum er sich „mit der Hardcore-Radlobby seit ein paar Monaten im  Streit“ befinde: „Wir reden aneinander vorbei. Ob Radverkehr attraktiver wird, interessiert mich zwar als Radfahrer“ – er fährt Rennrad, aber nicht in der Stadt, das ist ihm zu gefährlich, sagt er –, „aber nicht als Unfallforscher. Da geht es mir allein um den Aspekt Sicherheit.“

Radweg-Baustelle in der Kantstraße: kein Beispiel für die gelungene Verkehrswende, sondern eine Katastrophe. Foto: Imago/Stefan Zeitz
Radweg-Baustelle in der Kantstraße: kein Beispiel für die gelungene Verkehrswende, sondern eine Katastrophe. Foto: Imago/Stefan Zeitz

Als Beispiel nennt er einen Pop-up-Radweg an der Kantstraße. „Die Straße ist eine Katastrophe, da fährt kein Radfahrer drauf, wenn er nicht muss.“ Werde eine Autospur durch einen der zwei Meter breiten neuen Radfahrstreifen ersetzt, habe das mehr Radverkehr zufolge, höheres Fahrtempo auch. „Damit habe ich das Radfahren attraktiver gemacht, aber das Unfallproblem nicht gelöst“, sagt Brockmann. Zwei Drittel aller schweren Radfahrer-Unfälle würden im Bereich von Kreuzungen, Einmündungen und Grundstücksausfahrten geschehen. „Im Gegenteil, ich habe dieses Problem sogar verschärft, weil ich mehr Radfahrer im größeren Tempo habe.“

Radverkehr muss attraktiver werden – und viel sicherer

Er folgert: „Die Maßnahmen, die die Sicherheit verbessern, müssen quasi in einem Atemzug mit der Attraktivierung des Radverkehrs kommen.“ Sichere Kreuzungen, getrennte Ampelphasen für Autos und Räder, keine Sichtbehinderungen beim Parkverkehr, und größere Seitenabstände, um das gefürchtete Dooring zu vermeiden: dass Radler gegen eine geöffnete Autotür krachen. Vor allem aber: die viel schnellere Entschärfung der mehr als tausend bekannten Berliner Unfallhäufungsstellen.

„Alle verteidigen den vermeintlich ihnen gehörenden Verkehrsraum“, sagt der Unfallexperte. „Je mehr Radfahrer auf die Straße kommen, um so aggressiver verteidigt der Autofahrer ,sein‘ Revier. Der Radfahrer ,seines‘ natürlich auch. Nur hat der im Zweifel die schlechteren Karten.“

Der SPD-Mann versteht manches nicht

Sven Kohlmeier ist bei der SPD eigentlich für Rechtspolitik zuständig. Es ist trotzdem eine heitere Angelegenheit, sich mit ihm über Verkehrspolitik zu unterhalten. Außer vielleicht, wenn man in der dafür zuständigen Senatsverwaltung tätig ist. Kohlmeier ist SPD-Abgeordneter für Hellersdorf und Kaulsdorf. Er fährt ein altes Cabrio, er berlinert. Auch parlamentarisch. „Jeht wat mit dem Radverkehr in Berlin“, hieß eine Anfrage von ihm aus dem Jahr 2019.

Zum Mobilitätsgesetz ist er daher nicht gekommen, weil es um Mobilität geht, sondern weil es ein Gesetz ist. „Ich bin Autofahrer, das wissen auch alle. Aber was mich ärgert: Wenn ich ein Gesetz mache, dann muss ich es auch umsetzen. Ich bin kein Freund von Pop-up-Radwegen, aber daran sieht man, dass man Dinge verändern kann.“

Warum dauert das so lange, fragt der SPD-Abgeordnete

Eines der Vorhaben des Senats ist zum Beispiel, an allen Hauptverkehrsstraßen, zusammen gerechnet 1.500 Kilometer, zwei Meter breite, erschütterungsarm befahrbare Radverkehrsanlagen zu bauen. Bei zwei Anfragen von Kohlmeier im vergangenen Sommer zum Ausbau des Radwegenetzes kam heraus, dass zwischen dem 1. Januar 2017 und Ende Mai 2020 gerade mal 99,2 Kilometer Radwege in Berlin gebaut wurden.

„Da ist zwischen Wunsch und Wirklichkeit ein himmelweiter Unterschied“, sagt er. „Und dit ärgert mich. Ick verstehe es nicht.“ Aktuell liegt die Zahl der neu gebauten, sanierten, oder als Pop-up-Radstreifen eingerichteten Radwege bei 130 Kilometern. 

Kohlmeier versteht, so erzählt er am Telefon, manches nicht so ganz. Er findet die zehn Radschnellwege gut, fragt sich aber, warum die Umsetzung nicht schneller geht. Wenn er mit seinem Auto über eine breite Straße rollt, denkt er: Warum wird hier kein Radweg angeordnet? „Das macht ja auch als Autofahrer keinen Spaß, wenn du permanent Angst haben musst, dass du einen Radfahrer überfährst.“ Da ist er ganz bei der Autofahrerpartei, die die SPD ist, auch mit der Spitzenkandidatin Franziska Giffey. Ja gut, sie will auch neue U-Bahnen.

Green Economy: Verkehrswende mit E-Mobilität

Und Kohlmeier versteht nicht, warum Berlin nicht tatsächlich eine Green-Economy-City werden könne. Mit ganz vielen Ladesäulen. „Berlin, Vorreiter der Elektro-Mobilität, dit würde ick geil finden“, sagt er. „In New York werden nur noch E-Taxis zugelassen. Ich verstehe nicht, warum wir nicht mal von anderen Städten lernen können.“

Und er sagt: „Es ist doch mein Job als Politiker, in fünf Jahren was abzuliefern und zu sagen: Ich habe eine Vision, ich möchte mehr Radwege in der Stadt haben, wie kann ich das umsetzen? Da kommt von der Verkehrssenatorin einfach zu wenig.“

Man würde nicht auf die Idee kommen, dass hier ein SPD-Politiker über eine Grünen-Senatorin spricht. Dass die beiden in einer Koalition zusammenstecken. Im September 2021 gibt’s eine Dreifachwahl in Berlin: Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirksverordnetenversammlung. Der Wahlkampf hat schon begonnen.

Die Aktivistin will über Führungsversagen reden

Kürzlich hat der Senat den Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr 2030 verabschiedet, catchy kurz: „StEP MoVe“. Er soll das strategische Gesamtkonzept der Berliner Verkehrspolitik mit Blick auf 2030 sein: umweltverträgliche, klimaschonende, sozial gerecht ausgestaltete Mobilitätsangebote. 

Ragnhild Sørensen atmet am Telefon hörbar durch, die Sprecherin von Changing Cities: „Ich muss sagen, uns geht es inzwischen so, mehr Papier ist kaum zu ertragen. Wenn das nicht umgesetzt wird, können die noch so viel Papiere produzieren.“

„Es geht auch darum, dass man im großen Stil sagt: Wir hauen jetzt mal viele Parkplätze weg“, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities. Foto: Changing Cities/Norbert Michalke
„Es geht auch darum, dass man im großen Stil sagt: Wir hauen jetzt mal viele Parkplätze weg“, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities. Foto: Changing Cities/Norbert Michalke

Changing Cities ist aus dem Verein Lebenswerte Stadt hervorgegangen, der 2016 mehr als 100.000 Stimmen für den Volksentscheid Fahrrad gesammelt hat, dessen Forderungen dann als Radgesetz in das Berliner Mobilitätsgesetz eingingen. „Wir müssen über Führungsversagen reden“, sagt die Radaktivistin.

Meinen Sie die Verkehrssenatorin? Kurzes Zögern. Dann sagt Sørensen: „Ja.“ Und schiebt hinterher: „Ich meine das Personal, das dafür zuständig ist. Sowohl im Senat als auch in den Bezirken. Da sitzen Menschen, die, auch wenn sie es gerne wollen, nicht im Stande sind, das umzusetzen.“

Ein paar Radwege, erklärt sie, machten noch keine Verkehrswende. „Das ist viel umfassender. Das bedeutet auch, dass in den Planungsamtsstuben anders geplant werden muss. Die müssen auch mal rausgehen, die müssen sich Fehler erlauben können. Wir wissen, dass es schnell gehen muss.“

Man müsse radikaler an die Verkehrswende gehen, sagt die Aktivistin. „Es geht nicht nur um einen Radweg. Es geht auch darum, dass man im großen Stil sagt: Wir hauen jetzt mal viele Parkplätze weg. Weil: So und nur so geht Verkehrswende!“

Stop and Go am Tempelhofer Damm

Am Tempelhofer Damm geht es „nur“ um rund 300 Parkplätze, die wegfallen sollen für einen Radweg. Hier kann man aber besichtigen, warum die Verkehrswende so lange dauert. Weil es viele Instanzen gibt, die da mitreden. Parlamente, Bezirk, Stadt, Planer. Eineinhalb Kilometer misst die Strecke zwischen dem U-Bahnhof Alt-Tempelhof und der Ullsteinstraße. Zwei Fahr-, eine Parkspur je Richtung. Bis zu 40.000 Kraftfahrzeuge pro Tag. Keine Spur für Radler.

Im Frühjahr 2017 gründete sich das Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg, startete einen Einwohnerantrag für eine neue Radverkehrsanlage. „Wir haben innerhalb von zweieinhalb Wochen 2.000 Unterschriften gesammelt, wir hätten 1.000 gebraucht“, sagt Stefan Meißner vom Netzwerk. Mit wenigen Änderungen folgte die Bezirksverordnetenversammlung dem Antrag im Oktober 2017. Das ist jetzt dreieinhalb Jahre her. „Ich hätte nie gedacht, dass das alles so lange dauert“, stöhnt Meißner.

Demonstration für sichere Fahrradwege auf dem Tempelhofer Damm: „Die Zeit wird knapp." Foto: NFTS/Norbert Michalke
Demonstration für sichere Fahrradwege auf dem Tempelhofer Damm: „Die Zeit wird knapp.“ Foto: NFTS/Norbert Michalke

Er erzählt vom „relativ langen“ Beteiligungsverfahren, von einer „Bezirksverwaltung, die personell stark ausgeblutet“ sei. Von Plänen, die erst Ende letzten Jahres vom Bezirk fertiggestellt wurden und nun bei der Verkehrsverwaltung zur Prüfung lägen.

Die oppositionelle Bezirks-CDU will jetzt über den bereits beschlossenen Radweg gemeinsam mit der neu geplanten Parkraumbewirtschaftung noch einmal als Paket abstimmen lassen. „So wird ein einvernehmliches Miteinander der verschiedenen Verkehrsarten nicht erreicht“, begründete der bezirkliche CDU-Fraktions-Chef Daniel Dittmar gegenüber der „B.Z.“ Meißner sagt: „Die CDU will den Radverkehr in Nebenstraßen abschieben. Das ist kein Miteinander.“

Viele Verletzte auf Berlins Radwegen

Das Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg veröffentlichte kürzlich eine Karte über 31 Unfälle mit Fahrradbeteiligung, die zwischen Oktober 2017 und September 2020 polizeilich erfasst wurden: 20 leicht-, eine schwerverletzte Person.

„Es ist eine hochbelastete Straße“, sagt Meißner. „Bei dieser Verkehrsdichte ist im technischen Regelwerk ein Radweg vorzusehen. Auch das Mobilitätsgesetz fordert Radverkehrsanlagen auf allen Hauptstraßen.“ Und die 300 wegfallenden Parkplätze? „Wir haben leerstehende Parkhäuser, da passen die Autos locker rein.“

Ob der neue Fahrradweg in dieser Legislaturperiode noch kommt? „Wir warten auf die Rückmeldung von der Senatsverwaltung“, sagt Meißner. „Dann muss der Bezirk die Bauausführung ausschreiben. Dann muss sich jemand dafür bewerben. Dann muss gebaut werden. Die Zeit wird knapp. Im September wird gewählt. Das wird eine sportliche Herausforderung.“

Der Mobilitätsforscher verzweifelt

Andreas Knie steht im Kreuzberger Graefekiez und ärgert sich. „Ich gucke auf den wunderschönen Zickenplatz und sehe nur parkende Autos“, sagt er am Handy.

Der Mobilitätsforscher leitet die Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Dem neuen Stadtentwicklungsplan des Senats kann auch er wenig abgewinnen: „Mit dem Plan ist die Verkehrswende unmöglich.“

Da wäre etwa die Sache mit der geplanten „Zero Emission Zone“. Denn im neuen Papier hat die Verkehrsverwaltung die festen Ausstiegstermine für den Verbrennungsmotor, 2030 im inneren S-Bahn-Ring, 2035 für die gesamte Stadt, fallen lassen müssen. „Das laste ich nicht der Verkehrssenatorin an, die ist nur nicht durchsetzungsstark“, sagt Knie. „Das macht die SPD. Die möchte eine Verkehrswende, aber autofreundlich. So kann man natürlich nichts ändern.“

Fast keine Stadt kriegt die Verkehrswende schlechter hin als Berlin

Herr Knie, welche Städte zeigen, wie die Verkehrswende besser funktionieren kann? Andreas Knie grübelt: „Alle holländischen, alle belgischen Städte. Mittlerweile Mailand. Paris kommt jetzt. Madrid, Barcelona. Zürich ist weiter, Wien auch. Ich würde fast sagen: Welche Stadt ist es denn, die noch schlimmer ist als Berlin? Gibt’s fast keine.“

Eine Quittung der schleppenden Umsetzung durch den Senat ist die neue Initiative „Berlin autofrei“, die einen knapp 50-seitigen Gesetzesentwurf in einem Volksentscheid zur Abstimmung stellen will. Danach sollen Autofahrer in der Berliner Innenstadt ihre privaten Autos nur noch zwölfmal im Jahr nutzen dürfen. Es gibt Ausnahmen, etwa für Taxen, Lieferverkehr, mobilitätseingeschränkte Menschen.  Im April will „Berlin autofrei“ die Unterschriftensammlung für die erste Stufe angehen – bis zum September.

„Es ist natürlich eine radikale Lösung“, sagt Knie. „Wir werden nicht autofrei werden, aber autoärmer. Und damit qualitativ höherwertiger. So kommt dem Volksentscheid eine strategische Bedeutung zu. Es wird die Debatte noch mal nach vorne schieben.“

Wenn man eine lebenswerte Stadt haben wolle, dann müsse man alle Parkplätze auf öffentlichem Raum für private Fahrzeuge abschaffen, sagt Knie: „Stattdessen: Carsharing, ein ÖPNV, der schnell ist, andere Sharing-Angebote. Und Radwege in Hülle und Fülle.“ Das wäre eine Ansage.

Die Verkehrssenatorin ist optimistisch

Der holländische Star-Stadtplaner Martin Aarts, der eine Weile in Berlin lebte, sagte mal: „Verschwende niemals eine gute Krise.“ Frau Senatorin, wie nutzen Sie die Corona-Krise für eine grüne Verkehrspolitik?

„Ich fände es unangemessen, diese Jahrhundertkrise durch Durchsetzung irgendeiner Agenda zu nutzen“, teilt Regine Günther mit. „Der Senat arbeitet daran, die Krise zu meistern und die Rahmenbedingungen für die Berlinerinnen und Berliner so sicher und verträglich wie möglich zu gestalten. Dem fühle auch ich mich verpflichtet.“

Die Devise sei seit Beginn der Pandemie „Abstand halten“. Günther: „Um dies zu gewährleisten, haben wir im vergangenen Jahr im ersten Lock-Down dem Radverkehr, der um etwa 20 Prozent zugelegt hat, kurzfristig mehr Platz eingerichtet. Innerhalb weniger Wochen konnten wir bisher 27 Kilometer sogenannter Pop-up-Radwege entlang von Hauptstraßen in der Stadt anlegen.“

„Die Zero Emission Zone wird in keiner Weise auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben“, sagt Verkehrssenatorin Regine Günther. Foto: Imago/Sabine Gudath
„Die Zero Emission Zone wird in keiner Weise auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben“, sagt Verkehrssenatorin Regine Günther. Foto: Imago/Sabine Gudath

Nach dem unter anderen von Changing Cities beklagten Umsetzungsdefizit beim Mobilitätsgesetz befragt, ist die Position der Senatorin, wenig überraschend, eine andere: „Eine Millionenstadt wie Berlin, die seit mehr als 70 Jahren planerisch die Philosophie der autogerechten Stadt verfolgt hat, werden wir nicht von heute auf morgen umbauen können“, schreibt sie.

Und weiter: „Ich gehe davon aus, dass wir im Jahr 2030 sehr vieles erreicht haben werden. Bis 2030 soll Berlin weitgehend so umgestaltet sein, dass wir uns komfortabel und sicher mit dem Umweltverbund aus ÖPNV, Rad- und Fußverkehr durch Berlin bewegen können. In den vergangenen Jahren haben wir hierfür massiv Personal aufgebaut, Strukturen deutlich verändert und Abläufe im Rahmen des rechtlich Möglichen beschleunigt. Mit diesemAufbau von Kapazität wird sich der Aus- und Umbau von Radwegen massiv beschleunigen.“

Radverkehrsplan kurz vor der Verabschiedung

Der längst überfällige Radverkehrsplan, der neue Ausbaustandards für die Radverkehrsstruktur festlegt, mehrfach verschoben, stehe nun auch kurz vor der Verabschiedung. „Allein das umfangreiche Radverkehrsnetz soll in vollem Ausbauzustand rund 3.000 Kilometer umfassen. Beides liegt im Erstentwurf des Planungsbüros vor. Es sind zahlreiche Hinweise und Anregungen aus Bezirken oder von Verbänden eingegangen, die inzwischen geprüft wurden.“

Die Streichung der Jahreszahlen 2030 und 2035 für die Einrichtung einer Zero Emission Zone sei „bedauerlich, aber bisher konnten sich eben nicht alle Koalitionspartner*innen auf die konkrete Jahreszahl einigen.“  Das Projekt an sich bleibe unbestritten, betont die Senatorin. Und der jetzt vereinbarte „mittelfristige Zeithorizont“ bedeute „natürlich glasklar, dass die Zero Emission Zone in keiner Weise auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird“.

Das Lastenrad hat Zukunftspotenzial

Bis zum Sankt-Nimmerleinstag reicht die Geduld der Fahrradlobbyisten sowieso nicht. Zu den etablierten Vertretern wie dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC)  oder auch dem ökologischen Verkehrsclub VCD kam Mitte 2019 in Berlin ein neuer Verband hinzu, der besonders innovative Fahrradunternehmen vertritt. Der Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF) kümmert sich etwa um die Bereiche Leasing, Verleih, Logistik oder Finanzierung. „Uns geht es darum, eine nach vorn gewandte, zukunftsfähige Mobilitätspolitik zu unterstützen“, sagt Geschäftsführer Wasilis von Rauch.

Mit ihm kann man trefflich über die Zukunftspotenziale des Rades sprechen. Zum Beispiel für die „letzte Meile“. „Verschiedene, auch vom Bundesverkehrsministerium finanzierte Studien zeigen: Zwischen einem Viertel und der Hälfte der Warentransporte kann man auf Lastenräder verlagern.“

Es geht um Lieferverkehr, um Außendienstmitarbeiter, Handwerker, Pflegedienste. Auch mit leichten Elektrolastenfahrzeugen. „Und da sind wir wieder bei der Elektromobilitätsförderung für kleine und mittlere Unternehmen“, sagt er. Überhaupt blieben all diese Potenziale „Seifenblasen, wenn die Politik nicht entsprechend steuert“, sagt von Rauch. „Da muss dann auch mal über regelmäßige Verstöße gegen das Parkverbot bei den Zustellunternehmen geredet werden, müssen andersherum Flächen für die Verlagerung vom Lkw auf das Lastenfahrrad zur Verfügung stellen.“

Mobilität muss sich grundlegend ändern

Eine Forderung, die auch die Berliner IHK unterstützt, die seit fast drei Jahren beim Mobilitätsgesetz, das sie prinzipell gut und richtig findet, auf ein Kapitel zum Wirtschaftsverkehr wartet, wie ihr Verkehrsexperte Lutz Kaden auf tipBerlin-Anfrage mitteilt.

„Dazu gehört auch die Einrichtung von sogenannten Mikrodepots oder MikroHubs, wo Paketlieferungen vom Lkw umgeladen werden können auf Lastenräder und E-Lieferwagen für die letzte Meile. Nach einem Pilotprojekt im Prenzlauer Berg fehlt das heute in Berlin völlig. Dabei wäre hier viel Potenzial für mehr Effizienz.“

Es werde deshalb darauf ankommen, im nächsten Gesetzeskapitel nach dem Fußverkehr auch die Ansprüche des Wirtschaftsverkehrs genauso konkret zu formulieren wie die des Radverkehrs. „Sonst wird bei jedem Straßenumbau die Versorgung für die Berliner leiden.“

Wasilis von Rauch sagt: „Die Leute müssen verstehen, dass öffentlicher Raum einen Wert hat und nicht nur für Leute da ist, die sich ein Auto leisten können.“ Mobilität müsse sich in den nächsten 10 bis 20 Jahren grundlegend verändern.

„Es ist ganz wichtig, dass die Menschen einen Geschmack davon kriegen, wie es aussehen könnte, wenn man wegkommt von der autogerechten Stadt“, findet er. „Deshalb sind Leuchtturmprojekte, wo man das erleben kann, so wahnsinnig wichtig.“

Verkehrswende in Berlin: Vision unter dem Viadukt

Eines dieser Leuchtturmprojekte ist die Radbahn unter dem Viadukt der U1. Neun Kilometer Strecke mitten durch Berlin, die die Bezirke Charlottenburg, Schöneberg, Kreuzberg und Friedrichshain verbindet. Unter einem Dach, das ist auch gut gegen Regen. Eine Idee.

Als ein Zusammenschluss von Architekten, Stadtplanern, Urbanisten und Fahrradaktivisten 2015 diese Idee ventilierten, gab es viel Skepsis. Von der Politik, auch vom ADFC. Über Crowdfunding sammelte der Verein Paper Plans 31.000 Euro ein, machte ein Buch mit der Vision. Plötzlich sah die Idee gar nicht mehr so spinnert aus.

Leuchtturmprojekt der Verkehrswende: Die Simulation zeigt Radbahn-Pläne unter der U-Bahn. Fotomontage: Paper Planes e.V.
Leuchtturmprojekt der Verkehrswende: Die Simulation zeigt Radbahn-Pläne unter der U-Bahn. Fotomontage: Paper Planes e.V.

Im Sommer soll ein Testfeld von einigen hundert Metern zwischen Oberbaumbrücke und Kottbusser Tor zeigen, wie die Vision funktioniert. Es gibt zwei Varianten: eine Spur nur unter dem Viadukt, eine weitere mit einer zusätzlichen Strecke auf einer der Autospuren. Das war eine Senatsidee.

Bestehende Stadträume neu besetzen

„Wir sehen uns nicht als reines Infrastruktur- oder Radverkehrsprojekt“, sagt Johanna Schelle vom Reallabor Radbahn. „Wir sind ein Stadtentwicklungsprojekt mit Radverkehrsanteil. Die Idee ist, dass man einen bestehenden Stadtraum neu besetzt. Es geht um Flächengerechtigkeit, Umverteilung von Stadtraum.“ Nicht nur für Radfahrerinnen. Auch für Fußgängerinnen. Für alle.

Das Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ fördert das „Reallabor Radbahn“ bis Ende 2023 mit 3,2 Millionen Euro. Ende Februar schrieb die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz dafür eine Machbarkeitsstudie aus.

Im April soll es niedrigschwellige Bürgerbeteiligungsmaßnahmen geben: Bürgersprechstunden, Infokampagne, virtuelle Streckenbegehung. Einer der Mitinitiatoren ist der Humangeograph Maximilian Hoor, der an der Technischen Universität Berlin zu urbanen Fahrradkulturen und ihrem politischen Einfluss promoviert.

Genau, Fahrradkulturen, nicht Fahrradkultur. „Der Plural ist dabei entscheidend“, sagt Hoor. „Da kann man zum Beispiel eine Geschichte schreiben, die bei den Fahrradkurieren beginnt, und sich dann über die Fixie-Szene und die Mode von Singlespeeds weiter ausbreitet. Jetzt gibt es auch die Gravel-Szene, die als Mischung von Mountainbike und Rennrad abseits der Straße fährt. Dann haben wir diejenigen, die Radfahren nur als Mittel zur Fortbewegung nehmen. Und jene, für die das Fahrrad ein politisches Werkzeug ist, um lebenswerte, menschengerechte Städte zu forcieren. Das sind ja alles unterschiedliche Perspektiven auf das Radfahren.“

Radfahren könnte viele Autoprobleme lösen

Mittlerweile habe die Politik gemerkt, dass das Radfahren aus stadtplanerischer Sicht viele der Autoprobleme lösen könne und damit eine gute Ergänzung zu den Angeboten des ÖPNV darstellt. Dies habe sich deutlich in der Corona-Pandemie gezeiht, als sich viele Menschen von kollektiven Verkehrsmitteln abwanden, um sich vor den Aerosolen der anderen zu schützen.

„Das Auto war früher das unerreichte Symbol für Freiheit, für Modernität“, sagt Hoor. „Heute, wo wir die negativen Folgen für das Klima und den Stadtverkehr immer deutlicher zu spüren bekommen, steht es eher für Stillstand und überholte Verkehrspolitik. Damit ist das Fahrrad zum Freiheitsbringer geworden: Retter der Welt, Retter der Straße.“

Was ist das Next Big Thing bei den Fahrradkulturen? „Schwierige Frage“, sagt Hoor. „Einerseits hoffentlich eine Normalisierung von Fahrradfahren wie in Dänemark oder in den Niederlanden, wo das Radfahren einfach Alltagspraxis ist, die gar nicht mehr so viel verhandelt werden muss. Das Fahrrad ist dort ein Gebrauchsgegenstand.“ Andererseits glaubt Hoor aber, dass die kulturellen Entwicklungen, das Ausdifferenzieren in der Fahrradnutzung, auch weitergehen wird.

Herr Hoor, letzte Frage: Mit welcher Stimmung steigen Sie in Berlin aufs Rad? „Boah, mittlerweile eher genervt“, erwidert Maximilan Hoor. „Je mehr ich meine Radsportaktivitäten in den Wald verlagere, desto mehr merke ich, wie sehr mich der Stadtverkehr stört.“ Immer noch, immer wieder.


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