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Natur

Die Faszination der Seen: Unterwasser-Flora, Kläranlagen, Herrndorf

Wolfgang Herrndorf, der virtuose Schriftsteller, liebte den Plötzensee und beschrieb dessen Schönheit im Werk „Arbeit und Struktur“. Heute sind Seen für die Berliner Gesellschaft mehr denn je Sehnsuchtsorte – ob für Surfer oder Nacktbaderinnen, Wracktaucher oder bildende Künstlerinnen. Rund 3.000 Seen gibt es in der Stadt und ihrer Umgebung. Hier erklären wir den gewässerökologischen Zustand, die Vielfalt der Unterwasser-Flora – und die Faszinationskraft dieser Idyllen für entfremdete Stadtmenschen

Das Strandbad Wannsee: ein beliebter Ort für Stammbewohner auf der Sonnenseite des Lebens. Und nur einer von unzähligen Seen in Berlin und seiner Peripherie. Foto: Imago/Stefan Zeitz

Wolfgang Herrndorf hat Berlins Seen ein Denkmal gesetzt

Das Verhältnis zwischen den Wasserparadiesen und ihren Liebhabern ist existenziell. Wer von dieser Beziehung eine Ahnung bekommen will, muss nur die Biografie eines markerschütternden Schriftstellers in Erfahrung bringen. Gemeint ist Wolfgang Herrndorf, dieser literarische Titan, der 2013 im Alter von 48 Jahren gestorben ist. Sein Objekt der Zuneigung war ein Binnengewässer im Wedding. Dessen Faszinationskraft hat er immer wieder in seinem berühmten Journal „Arbeit und Struktur“ beschworen. Dieses Elysium war der Plötzensee, eine bezaubernde Wanne mitten in der Stadt. So vieles gleichermaßen war für den Autoren die Senke, gefüllt mit nassem Element. Ein Naturtheater sowieso, aber auch ein Anker, letztlich ein Lebensgrund.

Seine Schwärmereien waren universell. Der Kreative hat Gefühlen einen Ausdruck verliehen, die auch viele andere Menschen in Berlin für ihre liebsten Lagunen empfinden. Dabei haben sie eine große Auswahl: Rund 3.000 Seen zählen die Geografen in Berlin und Umland. Eine Quantität, als ob eine mythische Figur aus dem Himmelsolymp zu Urzeiten unzählige Wasserbottiche über der Region ausgeschüttet hätte. Und die entstandenen Pfützen niemals verdunstet wären.

Herrndorfs Haus- und Hofsee bildete eine Konstante im Dasein des Schriftstellers („Tschick“, „In Plüschgewittern“). In „Arbeit und Struktur“ hat der Dauerbesucher an einem Tag im April 2012 notiert: „Der erste Brustschwimmzug des Jahres im Plötzensee. Schlüsselbein steht komisch hoch, sonst kein Problem.“ Die Badesaison ist gerade angebrochen, jedenfalls für early birds – und der Autor, der bekanntlich an einem Hirntumor erkrankt ist, findet an diesem Ort eine Ruhezone. Die Sporteinheit ist Part einer Entspannungsübung im Zyklus der Jahreszeiten. Der Stammgast genießt nonstop die impressionistische Fülle seiner favorisierten Seekulisse.

Die aufregendste Phase bilden dabei die Monate im Sommer. Dann bewundert der wortgewandte Lebenskünstler den Blaustern, eine Pflanze, deren Blütenfarbe eigentlich ein sanftes Lila ist. Nach Sonnenuntergang betrachtet er die „wetterleuchtende Nacht“. Einmal erlebt der Ausflügler eine kuriose Stille: „Die Tür am Freibad Plötzensee steht offen, aber es ist kein Pförtner im Kassenhäuschen. Unten am Strand ist niemand.“

Berlin und die Seen: eine ungebrochene Aura

Auch ein knappes Jahrzehnt nach diesen Huldigungen ist sie ungebrochen, die Aura, die Berlins und Brandenburgs Seen verströmen.

Im Sommer 2022, dieser schweißtreibenden Hitzewallung, entdecken unzählige Menschen deren offenkundige und verbogene Seiten – ob an Massenmagneten wie dem Wannsee oder an hidden places irgendwo in der Uckermark.

Diese Leute mögen Seen, deren Wasser sauber ist wie selten. So heißt es beim Gesundheitsministerium in Potsdam, der Hauptstadt Brandenburgs, dass die Qualität des Wassers in den Seen des Bundeslands Spitzenwerte erreicht. Und in Berlin attestierte das Landesamt für Gesundheit und Soziales den offiziellen Badestellen an Flüssen und Seen eine „hervorragende Wasserqualität“.

Ein Elysium: der Schlachtensee im Bezirk Zehlendorf. Foto: Imago/Stefan Zeitz

Wildwuchs im Wasser

An den Seen Berlins, diesen Ausbuchtungen im Großstadtmoloch, kommt eine neue Vitalität hinzu. Die Gewässer sind zwar noch nicht zu Biotopen wie zu Zeiten vor der Industrialisierung gesundet – aber auch nicht mehr so durchtränkt von den Absonderungen der Zivilisation wie etwa im 20. Jahrhundert. In den Gewässern sprießen beispielsweise wieder Unterwasserpflanzen, das Nixkraut, das Hornblatt oder Laichkräuter. Selbst Arten, die auf der Roten Liste stehen, sind Teil der Flora geworden, etwa die Krebsschere.

Eine Vielfalt, die Folge von Regenerierungsprozessen ist, domestizierte Großstädter aber immer noch mulmig stimmt. Dabei ist der Wildwuchs im Wasser harmlos. „Man sollte Abstand von potenziell bedrohlichen Begriffen wie Schlingpflanzen nehmen“, empfiehlt daher Sabine Hilt, Wissenschaftlerin am Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Andernorts, etwa in Nordrhein-Westfalen, ist die Fixierung auf Hygiene und Sicherheit so groß, dass Mähboote an Uferstellen die Pflanzen eliminieren – zum Beispiel am beliebten Baldeneysee in Essen. In Berlin seien ihr aber keine derartigen Fälle bekannt, berichtet Hilt.

Seen in Berlin und Umgebung: Grusel auf dem Medienboulevard

Auf dem Medienboulevard erscheint die Lebenswelt im Wasser manchmal noch als Pandämonium voller Ungeheuer. „Ekel-Alarm in Berliner Seen!“, so titelte der Berliner Kurier lautstark im Juni. Dabei ging es um Winzlingstiere, nämlich Larven von Saugwürmern, die Hautausschläge verursachen können. Diese Parasiten, auch Zerkarien genannt, schwärmen zurzeit in dem aufgeheizten Wasser einiger Berliner Seen aus, etwa am Wannsee. Sabine Hilt, die Naturwissenschaftler, erläutert: „Die Zerkarien treten auf, wo reichlich Kot von Wasservögeln sowie Schnecken als Zwischenwirte auftreten, also zum Beispiel in Wasserpflanzenbeständen.“ Ein kleiner Stressor ist diese Gruppenbildung, aber keine übernatürliche Plage.

Die zarte Erholung der Seen der Hauptstadt hat derweil vor allem mit Hi-Tech in der Wasserwirtschaft zu tun: besseren Filterprozessen in den Kläranlagen. Sie reduzieren Schadstoffe aus dem Abwasser – weshalb zum Beispiel weniger Phosphor und Stickstoff in die Aqualandschaften treiben. Jene Einträge also, die in großen, menschengemachten Mengen zu Übersättigungen führen. Und damit Nährböden bereiten für Algen, die dem Wasser viel Sauerstoff entziehen. Woraufhin Fische und andere Spezies aussterben.

Bessere Kläranlagen machen Seen sauber

„Die Grenzwerte für Phosphoreinleitungen aus Kläranlagen sollten niedriger liegen“, sagt deshalb Sabine Hilt, die Expertin am Leibniz-Institut. „Die entsprechenden Technologien zur Umsetzung wären vorhanden.“

Die nassforsche Liebe der Berliner zu ihren Gewässern könnte unterdessen die Sinne für Missstände schärfen. Diese Sensibilisierung könnte die politische Meinungsbildung positiv beeinflussen.

Dann würden Menschen aus Kaulsdorf, Kladow oder Kreuzberg nicht nur für bezahlbare Mieten kämpfen oder mehr Radwege. Sondern auch für rundum saubere Gewässer voller Artenvielfalt. Damit diese Naturgeschenke mehr denn je Sanatorien für Körper, Geist und Seele sind.


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