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Interview

„Kann ich mir Kaffee noch leisten?“ – Ein Gespräch über Berlins Kaffeekultur

Philipp Reichel ist Röster bei Vote Coffee, zudem Initiator der Berlin Coffee Week, Mitinhaber von Isla Coffee auf der Hermannstraße und Gründer des Berliner Röstkollektivs Communal Coffee. In den sozialen Medien hat er eine Debatte losgetreten. Auslöser war die Werbekampagne der jungen Berliner Kaffeekette Lap Coffee, die sich der Ästhetik zeitgenössischer Protestkulturen bedient hatte, um für billigen Kaffee zu werben: „Stop Paying € 4 For Coffee“. Fernab davon, dass solches Guerilla-Marketing längst ein alter Hut ist – haben sich die Preise in den coolen, kenntnisreichen Kaffeebars Berlins vielleicht doch von der inflationsverunreinigten Wirklichkeit entfernt? Und wer zahlt eigentlich den Preis für günstigen Kaffee? Ein Gespräch über das Lieblingsgetränk dieser Stadt.

Philipp Reichel ist Röster bei Vote Coffee. Mit tipBerlin spricht er über Kaffeekultur, Szeneprobleme und die Frage nach dem Geld. Foto: Anna Warnow

Was muss guter Kaffee kosten?

tipBerlin Philipp, was darf oder besser, was muss ein guter Kaffee kosten?

Philipp Reichel Um das zu beantworten, muss man verstehen, was Kaffee eigentlich ist, wo er herkommt und wie die Lieferkette funktioniert. Eine Tasse Kaffee muss so viel kosten, dass alle daran beteiligten Personen davon leben können, das wäre also die einfache Antwort. 

tipBerlin Das Glückversprechen von Kaffee war aber immer auch, dass man ihn sich immer leisten kann. Er ist sogar gesetzlich als Grundnahrungsmittel verankert.

Philipp Reichel Der Espresso für einen Euro an der Bar in Italien ist Kulturgut, und das ist ja auch wunderschön. Aber so ein Preis steht in kompletter Diskrepanz zu allem, was auf dem Kaffeemarkt gerade passiert. Kaffee wird an immer mehr Ecken der Welt getrunken, gleichzeitig gibt es immer weniger Kaffeefarmer, die Logistik wird schwieriger, und grundsätzlich wird alles immer teurer.

Also muss man sich fragen, wie günstige Kaffeepreise subventioniert werden: Das passiert noch immer auf dem Rücken der Farmer und auch aller weiteren Arbeitenden in dieser Kette. Der größte Kaffeemarkt in Deutschland sind noch immer die Bäckereien, da holen die Leute ihr billiges Brötchen und nehmen den Pappbecher Kaffee aus dem Vollautomaten für zwei Euro mit. In einer Kaffeebar, wo ein Barista steht, dazu teures Equipment, und wo handwerklich geröstete und hoffentlich auch ethisch aufrichtig gehandelte Bohnen verarbeitet werden, lassen sich solche Preise nicht abbilden. 

Auch hier sind die Leute ein Stück weit verschreckt, wenn jetzt in jedem Kaffeeladen eine Siebträgermaschine zum Preis eines Kleinwagens steht

Philipp Reichel

tipBerlin Berlin schien lange eine Stadt, in der sich diese Preise abbilden ließen, zumindest in einem informierten, vielleicht auch distinktionshungrigen urbanen Milieu …

Philipp Reichel … aber auch hier sind die Leute ein Stück weit verschreckt, wenn jetzt in jedem Kaffeeladen eine Siebträgermaschine zum Preis eines Kleinwagens steht und wenn der Barista dann noch minutenlang erklärt, was für eine besondere Röstung das heute wieder ist. Wir leben in komplexen Zeiten, wir erleben eine Inflation, und ich kann alle verstehen, die ihren Kaffee da vor allem als etwas ganz Normales und Alltägliches erleben wollen. 

tipBerlin Auch der Kaffee steckt in der Krise?

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Philipp Reichel Kann man so sagen. Wir sind doch gerade alle überfordert von zu vielen Informationen, zu vielen Entscheidungen. Und es funktioniert in den gegenwärtigen Krisen auch nicht mehr, permanent mit moralischen Argumenten überzeugen zu wollen: Du musst aber, du solltest aber, hast du das mal hinterfragt? Die Fragen sind zunehmend: Schmeckt der Kaffee? Und kann ich ihn mir in noch leisten?

„Stop Paying € 4 For Coffee“ – Kampagne in der Kritik

tipBerlin Apropos günstiger Kaffee: Der noch jungen Kette Lap Coffee gelang da gerade ein in den sozialen Medien heiß diskutierter Coup: In einer an aktuelle Protestformen erinnernden Kampagne forderten sie ein Grundrecht auf Kaffee – bewarben aber vor allem ihren Espresso zum Kampfpreis von einem Euro.

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Philipp Reichel Lab Coffee bedient sich zwar der coolen Ästhetik einer zeitgenössischen Kaffeekultur. Die Marketingbotschaft ist aber einzig: billiger Kaffee. Damit macht ein Konzept wie Lap Coffee eine ganze Branche lächerlich. Menschen wie mir geht es doch seit zehn Jahren darum, zu erklären, warum Kaffee seinen Preis haben muss.

tipBerlin Warum muss er das bei Lap Coffee nicht?

Philipp Reichel Die Marke setzt auf kleine Läden und ein To-Go-Geschäft, wirkliche Begegnungen sind nicht mehr vorgesehen. Dazu setzt man auf vollautomatisierte Maschinen, der Barista ist kein Barista mehr, sondern eine Servicekraft. Vor allem ist die Kette finanziert von Venture Capital, es geht um schnelles Wachstum, um Verdrängung. Das ist das absolute Gegenteil von Nachhaltigkeit und lokaler Wertschöpfung.

tipBerlin Die Moral kommt immer seltener in die Tasse?

Die Kaffeeszene hat es verpasst, konkreter zu sagen, wofür sie steht

Philipp Reichel Das müssen wir uns in unser Speciality-Coffee-Blase auch selbst vorwerfen: Wir haben es verpasst, konkreter zu sagen, wofür wir eigentlich stehen. Klar gibt es Buzzwords wie Direct Trade, Nachhaltigkeit oder Spezialitenkaffee, aber das steht inzwischen ja auch auf den Tüten im Supermarktregal.  Wir müssen als Branche gemeinschaftlicher für eine andere fairere Kaffeekultur streiten.

tipBerlin Die exklusive, vielleicht auch elitäre Atmosphäre in manch einer Berliner Kaffee-Boutique hat da möglicherweise ihr Übriges zu beigetragen. In einem Laden wie The Barn wird mir Kaffee kaum als etwas Alltägliches, vielleicht sogar eine alltägliche Tasse Trost serviert.

Philipp Reichel Wenn man einen Laden wie The Barn betrachtet, muss man fairerweise sagen, dass sie in Südkorea, China oder den Arabischen Emiraten inzwischen fast bekannter sind als in Berlin. Das sind alles Märkte, die gerade krass wachsen und auf denen auch das Geld da ist. Das Image, dass sie in Berlin generieren, zahlen sie auf diese Märkte ein. Umgekehrt verstehe ich aber jeden, der diese Atmosphäre nicht will, zumal in dieser Stadt.

tipBerlin Berlin mag es nicht, wenn es zu schick wird und zu konzeptionell?

Philipp Reichel Wenn Läden anfangen, sich zu multiplizieren, hat diese Stadt da grundsätzlich ein Problem damit. Das kennen wir aus der Gastronomie und das erleben wir jetzt in den Coffee-Stores. Vielleicht ist gerade das aber ein ganz gesunder Reflex: Leute, geht in die kleinen inhaber:innengeführten Läden, unterstützt die kleinteilige, hyperlokale Ökonomie. Eine gute Kaffeebar sollte funktionieren wie ein dritter Raum.

tipBerlin Ein dritter Raum?

Philipp Reichel Ein dritter Raum entsteht überall dort, wo sich Menschen mit unterschiedlichstem Wissen und aus unterschiedlichen Kulturen treffen und ins Gespräch kommen, wo wirkliche Interaktionen stattfinden, wo ein Miteinander passiert. Kaffee ist noch immer und vor allem ein soziales Getränk. 

tipBerlin Also noch einmal: Was muss ein guter Kaffee kosten?

Philipp Reichel Wie so häufig im Leben geht es um einen guten Kompromiss. Die Frage, was kann ich mir noch leisten, muss ich mir ja auch selbst stellen, ich habe da keine falsche Arroganz. Ich weiß aber, dass Röstereien wie wir inzwischen Kaffeefarmer gut bezahlen können, viel besser als es jedes Fair-Trade-Siegel tut. Das funktioniert, weil wir in die Strukturen vor Ort investieren, weil die Bauern geschult werden, ein wirklich gutes Produkt zu erzeugen und weil dieses Produkt einen reellen Preis erzielt. 

  • Philipp Reichels Projekte: Hier geht es zu Communal Coffee, mehr über Vote Coffee lest ihr hier. Vom 30.9. bis 6.10. ist die Berlin Coffee Week, Infos dazu gibt es auf dieser Website.

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Noch mehr tolle Empfehlungen und interessante News aus der Berliner Gastro-Welt gibt es in der Rubrik Essen & Trinken. Der Food-Guide für die Hauptstadt: Bestellt hier die tipBerlin Speisekarte.

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