„Erinnerung ist trügerisch“ – In Mythen kann man sich verlieren, oder man kann die Gegenwart darin finden: Eine Begegnung mit Christian Petzold aus Anlass seines neuen Films „Undine“
Christian Petzold (Jahrgang 1960) wuchs in West-Deutschland auf und kam zum Studium (zuerst FU, dann DFFB) nach Berlin, wo er seither lebt. Mit dem RAF-Drama „Die innere Sicherheit“ (2000) schaffte er den Durchbruch, nach „Barbara“ (2012) und „Phoenix“ (2014) gilt er heute als einer der wichtigsten deutschen Filmemacher.
Seit seinem Kinodebüt „Die innere Sicherheit“ (2000) setzt der Berliner Regisseur Christian Petzold seine Figuren in leicht unwirkliche Zwischenreiche, verknüpft Literatur- und Kinomotive mit deutscher Historie, RAF-Terrorismus, der Wende oder mit „Wolfsburg“ (2003). Er verschob ganze Themenkomplexe wie die NS-Vernichtungspolitik auf der Zeitachse („Transit“, 2018) , oder ließ in „Phoenix“ (2014) eine Überlebende aus den Konzentrationslagern wie einen Geist zurück in die deutsche Nachkriegswelt kommen.
Auch sein jüngster Film „Undine“ spielt mit Schwellenmotiven, in denen sich Traum- und Realitätszonen berühren. Die Geschichte der Wasserfee Undine wird seit dem deutschen Mittelalter erzählt: als Gedicht (mit Stauffenberg-Ritter), als anrührendes Kunstmärchen (von de la Motte Fouqué) und Oper (E.T.A. Hoffmann, Lortzing). Die modernste Variante stammt von Ingeborg Bachmann („Undine geht“). Sie kehrte den Blick auf Undine um und erzählte aus der Perspektive der Nixe. Auf dem Grund blieb immer ein Zentralmotiv erkennbar, eine Mischung aus Lieblichkeit und mörderischer Aggression. „Märchen“, sagt Petzold, „verwandeln Angst in Sprache.“ Klassisch geht das so: Undine, die Tochter eines Wasserfürsten, vermählt sich auf der Suche nach einer eigenen Seele mit einem Mann, der ihr ewige und freundliche Hingabe schwört. Untreue, prophezeit ihm Undine unmissverständlich, wird ihn sein Leben kosten. Aber seine Liebe wandert dennoch weiter, und der Unglückliche wagt die Probe auf ihren tödlichen Schwur.
„Geschichte einer jungen Frau, die frei sein möchte“
Für Christian Petzold ist „Undine“ die „Geschichte einer jungen Frau, die frei sein möchte“, wie er bei unserem Gespräch in den Tagen vor der Berlinale sagt. „Und die den Preis für diese Freiheit bezahlt, sie zieht den Einsatz nicht zurück.“ Petzold lässt seinen Film am Höhepunkt der alten Erzählung einsetzen, bei Trennung und Morddrohung. Ernster als sie kann man Beziehungen nicht nehmen.
Auf die Arbeit am Drehbuch hat er sich frei vorbereitet, weder den Fouqué-Text noch die Bachmann-Version wieder gelesen. „Kino hat etwas mit Traumzuständen, mit Halbschlaf, Wegdämmern am Nachmittag zu tun. In diesen Zuständen schreibe ich auch gern. Das ist selbst eine Traum-Erinnerungs-Arbeit. Ich glaube nicht an recherchierte Texte als Grundlage für Drehbücher. Dann arbeitet man etwas ab. Vielleicht stimmen dann viele Sachen auch nicht. Aber das Kino hat viel mehr mit falschen Erinnerungen zu tun als mit Recherchearbeit.“
Die neue Undine (Paula Beer) hat Petzold als aufgeklärtes Wesen entworfen. Als Historikerin führt sie im Auftrag des Berliner Bausenats Gäste durch die permanente Ausstellung der großen Stadtmodelle am Köllnischen Park, gleich neben dem Märkischen Museum. Petzold holt so die ganze Berliner Stadtgeschichte mit hinein: vom Wohnungsnotstand am Ende der Kaiserzeit bis zur umstrittenen Wiedererrichtung des Stadtschlosses, mit seiner „täuscherischen“, historischen Hülle. Man könnte sagen, dass Petzold mit „Undine“ den umgekehrten Weg geht, um nicht die Lüge des Stadtschlosses zu wiederholen: Er nimmt den „Undine“-Stoff und transponiert ihn in die Hülle eines Kinofilms des 21. Jahrhunderts, der seine Modernität nicht verleugnen will.
Berliner Romantik und „Berliner Schule“
Dazu gehört, dass er das Beziehungsdreieck Undines spiegelt, so wie sich ein Bild an einer Wasseroberfläche verdoppeln kann. Nicht einer, sondern zwei Männer stehen ihr gegenüber, nicht eine, sondern zwei Frauen werden mit ihr konkurrieren. Auf die eine Liebesgeschichte folgt ein neuer Mann (Franz Rogowski), damit beginnt Petzolds Film. Wie Spiegel, die sich ineinander spiegeln, habe er die Motive gegeneinander gesetzt, und auch noch das Kostümdesign aus „20.000 Meilen unter dem Meer“ (1954) von Richard Fleischer zitiert. „Man muss nur einen Schritt vom Wege machen, und es tun sich verzauberte Traumwelten auf, so etwas gefällt mir.“ Berliner Romantik und „Berliner Schule“ – das ist offensichtlich eine Beziehung, die Jahrhunderte gut übergreifen kann.
Termine: Undine bei der Berlinale
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