Ein Bauernhof in Thüringen im Jahr 1990: Der Eiserne Vorhang ist Geschichte, aber der Westen ist weit weg. Emily Atef erzählt in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ eine Liebesgeschichte von großer Wucht, und schafft damit ein erstes Statement im Wettbewerb der 73. Berlinale.
„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“: Aufbruch liegt in der Luft
Wendezeit, nach der Währungsunion, irgendwo im Thüringischen; an der Grenze zu Bayern stehen zwar noch Grenzer, winken aber durch; massenhaft werden Leute aus unrentabel gewordenen Betrieben entlassen, massenhaft verlassen Leute Arbeit und Heim und „machen rüber“. Familie Brendel, die sich mit ihrem kleinen Bauernhof in keine LPG hat eingliedern lassen, staunt über vielerlei Neues, raucht aber weiterhin Ost. Aufbruch liegt in der Luft und neue Möglichkeiten ebenso wie erste Enttäuschung und Anflüge von Ressentiment.
„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“, Emily Atefs Adaption des gleichnamigen, 2011 erschienenen Romans von Daniela Krien, ist in einem spezifischen geografischen Raum sowie historischen Moment angesiedelt. Und erzählt dort dann eine Geschichte, die sich zu allen Zeiten überall zuträgt: die Geschichte vom Wahnsinn der Liebe. Oder vielleicht doch besser: des Begehrens.
Kein Stein bleibt auf dem anderen
Es ist Sommer, und es ist heiß, und ein knappes Baumwollkleidchen, in dem sich ein sanftes Lüftchen fangen kann und den eigenen Leib spürbar machen, reicht als Bekleidung aus. Die 19-jährige Maria, die mit Bauernsohn Johannes unterm Dach wohnt, liest lieber Dostojewski, als sich auf dem Hof nützlich zu machen; auch ob der harmlos-liebe Johannes der Richtige ist, ist noch nicht entschieden. Eines Tages sticht Maria der 40-jährige Henner ins Auge, der am Nachbarhof Pferde züchtet. Und sie ihm. Die beiden stürzen ineinander, und die Leidenschaft schlägt ein mit einer Wucht, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.
Unter spektakulär weiten Himmeln inszeniert Atef mit großer Ruhe ein mächtiges Melodram, das zugleich dem Heimatfilm sinnliche Glanzlichter aufsetzt. Mag auch manchmal das Literarische der Vorlage mit manch klischeehafter Figur und Dialogen quälen; die Körperlichkeit vor allem von Marlene Burow in der Rolle der überwältigten Maria macht es bald vergessen.
Nicht von ungefähr erinnert Atefs Werk an Valeska Grisebachs „Sehnsucht“ (2006), in dem gleichermaßen das große Gefühl unter „kleinen Leuten“ wütete. Man kann an der Liebe sterben. Man kann auch knapp davon kommen; um dann vielleicht irgendwann einmal davon zu erzählen; mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit, so wie hier. Alexandra Seitz
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