Eine moderne Familie: Der chinesische Regisseur Wang Xiaoshuai erzählt in „Bis dann, mein Sohn“ eine Doppelfamiliengeschichte, in der sich die Verwerfungen des entfesselten Wirtschaftsbooms im heutigen China spiegeln
In einer totalitären Gesellschaft ist das Private immer politisch, und zwar auf eine Weise, die manchmal tragische Züge annehmen kann. „Bis dann, mein Sohn“ von Wang Xiao- shuai hat eine Schlüsselszene im Jahr 1986, als das Paar Liyun und Yaojun in einer Fabrik vor versammelter Belegschaft für seine verantwortungsvolle Familienplanung geehrt wird. Dass die beiden die rigorose Politik in der Volksrepublik China (jedem Paar war nur ein Kind erlaubt) auch um den Preis einer Abtreibung befolgten, die von der besten Freundin, einem Parteikader, mehr oder weniger drakonisch angeordnet worden war, ist der verborgene Kern dieses Dramas. Der offene Kern ist, dass Liyun und Yaojun ihren Sohn Xing Xing bei einem Badeunfall verlieren. Sie adoptieren einen Ersatz, der aber das Familienglück erst recht auf die Probe stellt.
Zwei Söhne und zwei Familien werden in „Bis dann, mein Sohn“ parallel geführt, und zwar über einen langen Zeitraum hinweg. Die Wege von Liyun und Yaojun deuten auch auf die Anforderungen hin, denen die Menschen in China gegenüberstehen, seit die Planwirtschaft aufgegeben wurde: Während das politische System weiterhin strikt der kommunistischen Leitung unterliegt, herrscht in der Wirtschaft der freie Markt, und zwar häufig ein entfesselter Konkurrenzmarkt. Liyun und Yaojun reagieren auf diese Anforderungen, indem sie einmal quer durch das Land weit in den Süden ziehen, später kehren sie aber wieder nach Hause zurück. Wang Xiaoshuai erzählt die Geschichte dabei so, dass sie sich erst allmählich zu einem Erzählfaden zusammensetzen lässt, als wollte er die Brüche in den Biografien auch formal betonen.
Wang Xiaoshuai wird in China zur sechsten Generation der Regisseure gezählt, das sind die Kinder der Kulturrevolution in den 1960er Jahren. Unter dem Diktat des Großen Vorsitzender Mao sollte das kommunistische China damals einen „großen Sprung vorwärts“ machen, das Ergebnis war eines der brutalsten Experimente einer beschleunigten Modernisierung in der Geschichte. Wang Xiaoshuai ist ein Sohn dieser Generation. 1993 debütierte er mit „Wintertage, Frühlingstage“ im Forum der Berlinale, und stieß sofort auf großes Interesse, denn man meinte, in diesem unabhängig produzierten Film eine neue künstlerische Stimme inmitten des beginnenden Wirtschaftsbooms in China zu erkennen.
Tatsächlich verlief die Karriere von Wang Xiaoshuai dann aber vielschichtiger. Er war niemals ein oppositioneller Filmemacher, er wurde aber auch nie zu einem Staatspropagandisten, wie es bei seinem fünfzehn Jahre älteren Kollegen Zhang Yimou phasenweise der Fall war. Wang und Zhang galten lange Zeit als die beiden wichtigsten Regisseure des Landes, in dem Schaffen des einen spiegelte sich das des anderen. Es war eine spannende Konstellation, dass vergangenen Februar ausgerechnet diese beiden Regisseure bei der Berlinale nebeneinander im Wettbewerb vertreten sein sollten. Völlig überraschend wurde „One Second“ von Zhang Yimou dann aber sehr kurzfristig zurückgezogen, und tauchte seither auch nicht mehr auf. Der Vorgang ist bis heute relativ rätselhaft, und deutet darauf hin, dass sich das kulturelle Klima in China zuletzt wieder verschärft hat.
Wang Xiaoshuai hat mit „Bis dann, mein Sohn“ nun sein Hauptwerk vorgelegt: eine komplexe (und auch dramaturgisch nicht unkomplizierte) Doppelfamiliengeschichte, in der sich die Entwicklung des modernen China mit seinem wirtschaftlichen Boom und den damit einher gehenden Entfremdungen spiegelt. Im Grunde hätte die Zensur auch hier reichlich Anhaltspunkte, um einzuschreiten, doch gehört es eben zu den Bedingungen eines solchen Systems, dass es unberechenbar bleibt. Die große Messlatte für diesen Film ist dann wohl auch dort zu sehen, wo das kritische Kino in China in den letzten zwanzig Jahren seine beste Ausprägung gefunden hat: im Werk von Jia Zhangke. Offensichtlich versucht Wang Xiaoshuai, sich an den Epen des Kollegen zu orientieren, der seit „Platform“ (2000) in immer neuen Anläufen so großartig Familien, Landschaften, Modernisierungen zusammengedacht hat.
Auf dieser Ebene hat nun auch „Bis dann, mein Sohn“ seine Qualitäten: ein Film, bei dem das Gezeigte und das implizit Gemeinte immer gleich wichtig sind. Man muss intensiv mitdenken, um diesem Film mit seinem oft nicht sofort zugänglichen Reichtum gerecht zu werden. Man wird dann aber mit Einblicken in eine Welt belohnt, die der europäischen in vielerlei Hinsicht fremd gegenübersteht – die aber nicht zuletzt mit ihrem Kino für Vermittlung sorgt.
Bis dann, mein Sohn Di jiu tian chang VRC 2019, 180 Min., R: Wang Xiaoshuai, D: Wang Jingchun, Yong Mei, Qi Xi, Wang Juan, Start: 14.11.