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„Das Thema ist Wahrheit“: İlker Çatak über seinen Oscar-nominierten Film „Das Lehrerzimmer“

Der Berliner Regisseur İlker Çatak ist mit „Das Lehrerzimmer“ für den Oscar in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert. Wir sprachen im Frühling 2023 mit ihm über seinen Film, in dem er einen vielschichtigen sozialen Kosmos entwirft.

Der Regisseur Ilker Çatak ist 2024 mit seinem Film „Das Lehrerzimmer“ für einen Oscar nominiert. Foto: Florian Mag

„Man hat bemerkt, dass den Leuten da etwas auf der Seele brennt“

tipBerlin: Herr Çatak, Sie haben einen Film über eine Schule in Deutschland gemacht. Wie kamen Sie auf das Thema?

Ilker Çatak: Anfangs ging es gar nicht um Schule. Ich war mit meinem Freund und Co-Autor Johannes Duncker im Wanderurlaub. Und da erzählte ich ihm von einem Vorfall bei meinen Eltern zu Hause. Die hatten eine Putzkraft, die hat geklaut und wurde überführt, und meine Eltern haben diskutiert: geben wir ihr noch eine Chance? Mein Vater war dagegen, meine Mutter war dafür, sie hat sich letztlich durchgesetzt. Die Person bekam eine zweite Chance, und hat es wieder getan. Wir fanden das beide spannend. Denn da zeigt sich ja auch ein Gerechtigkeitssinn, dass sich da jemand sagt: hey, mir wurde vom Leben nichts geschenkt, deswegen nehme ich mir die Dinge. Interessant war aber auch die Dynamik, die zwischen meinen Eltern entstand, weil das auch für Reibung gesorgt hat. Dann hat Johannes von seiner Schwester erzählt, die Mathematik-Lehrerin in NRW ist, und die in ihrer Schule einen ähnlichen Vorfall hatte, wie er im Film erzählt wird. Und so haben wir angefangen, über die Figuren nachzudenken.

tipBerlin: In „Das Lehrerzimmer“ sehen wir die Schule als ein komplexes System, mit sehr vielen Beteiligten. Der Film hat offensichtlich den Anspruch, das repräsentativ zu zeigen.

Ilker Çatak: Uns war relativ schnell klar, dass das eine gute Geschichte geben könnte, und dass die Schule ein Ort ist, wo die Hierarchien stark denen eines Staates ähneln. Es gibt einen französischen Film „Entre les murs“ („Die Klasse“), der zeigt auf vergleichbare Weise ein Panorama der französischen Gesellschaft. Wir haben auch noch einmal „Der Wald vor lauter Bäumen“ von Maren Ade gesehen, mit Eva Löbau, die nun auch in „Das Lehrerzimmer“ eine wichtige Rolle spielt. Und so kam eines zum anderen.

„Schule ist ein Reizthema“

tipBerlin: Haben Sie viel recherchiert?

Ilker Çatak: Schule ist ein Reizthema. Wenn es um Pädagogik geht, muss man wasserdicht sein, deswegen haben wir viel recherchiert. Wir haben mit allen Parteien gesprochen, zum Beispiel mit der Schulleiterin meiner alten Schule, mit Psychologinnen, mit Schülerinnen und auch mit Eltern. Man hat gemerkt, dass den Leuten da auch etwas auf der Seele brennt. Mir wurde schnell klar: wenn da etwas im Detail nicht stimmt, dann fliegt dir das um die Ohren. Wir haben zum Beispiel eine Szene: Zwei Mädchen kommen in das Sekretariat und fragen nach einem Hygieneartikel. Das fällt dir nicht beim Schreiben ein. Das ist Hospitanz.

Leonie Benesch hat als Lehrerin Carla Nowak in „Das Lehrerzimmer“ zu kämpfen.

tipBerlin: Im Mittelpunkt steht die Lehrerin Carla Nowak. Sie unterrichtet Mathematik und Sport. Was war an dieser Kombination passend?

Ilker Çatak: Bei Sport dachten wir eher visuell. Sport ist das Gemeinschaftsding, man steht aber auch in Konkurrenz, das hatte eine physische Komponente, die wir gut daran fanden. Und Mathematik, weil es in der 7. Klasse tatsächlich so etwas wie eine Beweisführungslehre im Lehrplan gibt, und das ist dann ein großes Thema für den Film: wie wird Wahrheit passend gemacht? Was bedeutet es, Wahrheit für sich zu beanspruchen? Es geht in unserer Geschichte ja sehr stark darum, wie absolut dieses Wort Wahrheit überhaupt ist.

tipBerlin: Wie kamen Sie auf Leonie Benesch für die Hauptrolle?

Ilker Çatak: Ich hatte Leonie auf dem Schirm seit „Das weiße Band“.  Beim Schreiben habe ich schon oft an sie gedacht, denn die Frau, die Carla Nowak spielen sollte, musste in der Lage sein, zu erröten. Bei ihr wusste ich immer, sie kann das. Es gab zwei Castings, ich wusste aber schnell, sie ist unsere Carla.

„Eva Löbau hat ganz klar dafür plädiert, diese Frau unschuldig zu spielen“

tipBerlin: Die Rollen in „Das Lehrerzimmer“ sind auch alle sehr klug besetzt. Welche war noch besonders wichtig, neben Carla?

Ilker Çatak: Die Rolle von Liebenwerda, ihrem Kontrahenten im Kollegium. Da war die Idee von Simone, den mit Michael Klammer zu besetzen, einer Person of Color. Liebenwerda-Wasser stand beim Schreiben neben dem Computer, so kam ich auf diesen Namen, der klingt extrem Deutsch. Und da hat die Casterin Simone Bär gesagt: Das machen wir mit Michael Klammer. Das hat eine Tür aufgemacht. Natürlich haben wir auch nachgedacht, was wäre, wenn Carla eine Türkin ist, oder etwa Schwarz. Das ging mir aber alles zu sehr auf die 12, dieses ganze Spiel um diverses Besetzen wollte ich gar nicht mitspielen. Zu der Zeit las ich ein Buch von Margarete Stokowski. Darin schreibt sie,  was es für sie bedeutet, mit ihren Eltern aus Polen nach Deutschland zu kommen. Simone sagte damals zu mir, „du weißt, dass Polen in Brandenburg keinen guten Stand haben.“ Deswegen haben wir Carla einen polnischen Hintergrund gegeben. Eine weitere entscheidende Figur ist Eva Löbau gewesen, sie spielt die Schulsekretärin, die in Verdacht gerät, etwas gestohlen zu haben. Sie hat ganz klar dafür plädiert, diese Frau unschuldig zu spielen. Wir haben eine Leseprobe gemacht mit dem ganzen Ensemble, da saßen 20 Leute, und 18 haben geglaubt, dass die Sekretärin die Diebin war. Das hat Eva fertig gemacht. Sie nimmt sich dieser Figur an und muss diesem Druck standhalten, während die Menschen gleich mit der Keule kommen. Daraus ist das entstanden, was wir im Film sehen, nämlich dass sie sich mit Händen und Krallen wehrt.

tipBerlin: Sie haben eine etwas unorthodoxe Ausbildung an einer privaten Filmhochschule gemacht.

Ilker Çatak: Meine Eltern wollten nicht, dass ich Film studiere. Ich sollte etwas Anständiges machen, und habe auch tatsächlich eine Weile BWL versucht, dann aber abgebrochen. Meine Bewerbungen an den Filmhochschulen in Deutschland waren alle erfolglos, manche haben mich sogar zweimal abgelehnt. Ich bin dann an eine der privaten Filmschulen gegangen und habe das Studium mit Eisverkaufen finanziert.

In „Das Lehrerzimmer“ spielt Identität eine Rolle, aber nicht so übergeordnet“

tipBerlin: Sie sind Deutscher mit türkischer Familiengeschichte. Ist so eine Konstellation heute eher ein Vorteil?

Ilker Çatak: In meinem Abschlussfilm habe ich eine türkische Geschichte erzählt und ein bisschen Sorge gehabt, dass ich nur noch solche Stoffe angeboten bekomme – die Migrantenschublade. „Es war einmal Indianerland“ war ein Versuch, sich aus dieser Schublade zu befreien. „Es gilt das gesprochene Wort“ war danach aber genau das, der Mantel einer Liebesgeschichte, um die beiden Kulturen unter einen Hut zu bekommen. Bei „Räuberhände“ wurde mir selber so klar, wie man sich als türkisches Kind unsichtbar macht. Ich weiß noch, wie ich als Jugendlicher bei den Eltern meiner deutschen Freunde abends zu Tisch saß. Man isst, und dir geht die Düse, dass du irgendwas falsch machst, du willst alles richtig machen, bloß nicht als Schwarzkopf auffallen. Und es passiert, dass du Wörter benutzt, die viel zu gestochen klingen, einfach weil du demonstrieren willst: Ich bin einer von euch. Und diese zwei Filme waren ganz klar auch eine Auseinandersetzung mit den zwei Kulturen in mir. In „Das Lehrerzimmer“ spielt Identität eine Rolle, aber nicht so übergeordnet.

tipBerlin: Diversität ist an Schulen auch längst ein Riesenthema.

Ilker Çatak: Wir haben viel darüber nachgedacht, wie divers wir diese Klasse machen. Es gab einen Wunsch von Senderseite, dass auch das Kollegium diverser sein könnte. Da stießen wir aber an Grenzen, denn es ist nun einmal Faktum, das in Deutschland im Gymnasium nur drei Prozent Lehrkräfte nicht weiß sind. Aber die Klasse konnten wir diverser machen. Und der Rassist unter den Lehrern ist PoC. Die Diversitäts-Thematik wird aber zum Teil inzwischen ad absurdum geführt, ich komme auch nicht mehr hinterher und bin manchmal überfordert. Dann würde ich gern sagen: Leute, ihr habt ganz viel white guilt in euch, ihr müsst uns nicht erklären, was uns kränken könnte.

tipBerlin: Mit der Schülerzeitung nehmen Sie diese Rechthaberei ein bisschen aufs Korn.

Ilker Çatak: Diese kleine Gruppe ist natürlich zugespitzt, die haben alle einen Punkt, aber ein bisschen die Hybris der Jugend. Mit 39 ist man milder. Ich würde sagen: Ja, empört euch, die Erwachsenen kriegen mal auf die Mütze, am Ende des Tages sind wir alle gecancelt, und dann lasst uns wieder normal reden.

tipBerlin: Wie lief die Finanzierung?

Ilker Çatak: Die Finanzierung ging relativ schnell. Aber wir hatten eine große Hürde. Das Drehbuch wurde nicht ganz klar als Kinostoff verortet. Es gab Stimmen, die meinten, dass das Fernsehen wäre. So was verunsichert einen natürlich, weil man ja sowieso in einer dauernden Selbstbefragung ist. Ich habe mich  gefragt: wie filmisch ist das? Es wird ganz viel geredet. Was unterscheidet unsere Arbeit vom Fernsehen? Und dann haben wir argumentiert. Mein Vater geht gern ins Kino, und für ihn heißt das: er lässt sich das Spektakel geben, mit Dolby 7.1.. Für mich ist das Kino ein Ort, der mir den Spielraum für eigene Interpretationen lässt, um mir den Rest auszumalen. Für Macher ist das auch ein anderer Prozess. Wir hatten 27 Drehtage, das heißt, wir hatten morgens auch immer die Zeit, zu reden und uns auf den Tag gut vorzubereiten. Das geht nicht, wenn du acht Minuten am Tag schaffen musst. Kino ist für mich in erster Linie eine große Suche.

„Berlin ist Heimat“

tipBerlin: Wann haben Sie das Kino entdeckt?

Ilker Çatak: Als Kind bin ich immer mit meinem Vater sonntags in den Zoopalast gegangen, da hat sich nun bei der Berlinale Premiere von „Das Lehrerzimmer“ ein Kreis geschlossen, als mein Vater auch da saß. Aktiv habe ich selbst das Kino mit Anfang 20 entdeckt. In dem Moment, in dem du durch die Brille eine Filmemachers auf das Leben schaust, schärft das deinen Blick, und du siehst: Hey dieser Beruf ist so viel mehr. Ich bin groß geworden mit Christian Petzold, Fatih Akin, Maren Ade. Ich weiß noch, 1999 war so ein Filmjahr, da sah ich Fight Club und Matrix. Neulich habe ich einen Podcast mit Todd Field gehört, „Tár“ ist ein extrem spannender Film. Field redet mit Spike Jonze, und ich begreife, dass sich auch die Großen mit den gleichen Problemen und Unsicherheiten rumschlagen, wie wir.  Das ist ein seltsam beruhigendes Gefühl.

tipBerlin: Wie sehen Sie heute Berlin?

Ilker Çatak: Ich bin im Wedding groß geworden, am Gesundbrunnen, und in Reinickendorf zur Schule gegangen. Nach acht Jahren Istanbul kam ich zurück, jetzt lebe ich ihn Schöneberg am Gleisdreieck. Es ist seltsam, für mich war Berlin immer das alte, graue Berlin. Ab 2005 wurde das aber so zu einer Marke, die weltweit funktioniert hat: Ach, ihr feiert in Berlin dauernd irre Partys. Ich habe das immer mit einem leichten Fremdheitsgefühl wahrgenommen. Aber ich bin sehr glücklich hier leben zu dürfen. Berlin ist Heimat.

Zur Person

Ilker Çatak ist gebürtiger Berliner, Jahrgang 1984. Er ging einige Jahre in Istanbul zur Schule und machte dann in Hamburg an der Media School eine Filmausbildung. Bekannt wurde er mit „Es war einmal Indianerland“, nach dem Roman von Niels Mohl. Es folgten „Es gilt das gesprochene Wort“ und „Räuberhände“. Für „Das Lehrerzimmer“ tat er sich beim Drehbuch wieder mit Johannes Duncker zusammen, den er in Istanbul kennengelernt hatte. Çatak lebt heute in Berlin-Schöneberg.

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