Filmkritik

„Borga“ von York-Fabian Raabe: Flucht in Flip-Flops

York-Fabian Raabes Film „Borga“ entwickelt vor der Kulisse einer riesigen ghanaischen Mülldeponie und später der Hamburger Hafengegend eine fesselnde Geschichte: von postkolonialer Ausbeutung, Flucht und der Anziehungskraft westafrikanischer Kultur. Die tipBerlin-Filmkritik von Eva Apraku.

Christiane Paul und Eugene Boateng im Film „Borga“. Foto: Chromosom Film GmbH/Tobias von dem Borne

„Borga“ erzählt von postkolonialer Ausbeutung

Es ist eine Endzeitlandschaft in grau und rostbraun: Durch  Rauchschwaden, vorbei an aufgetürmten Altreifen, abgewrackten Motoren und schäbigsten Hütten verfolgt Kofi (Jamal Baba), er ist vielleicht 13, seinen jüngeren Bruder Kojo (Emmanuel Affadzi), einen vielleicht Zwölfjährigen. Wieder einmal hat Kojo die Schule geschwänzt, um auf der berüchtigten Elektronikschrott-Deponie in Agbogbloshie, einem Bezirk der ghanaischen Hauptstadt Accra, aus Europa exportierte Alt-Kabel zu verbrennen.

Noch bevor Kofi seinen Bruder erwischen kann, hat dieser die übrig gebliebenen Drähte zusammengerafft und flieht trotz der abgeranzten Flip-Flops an seinen nackten Füßen in erstaunlichem Tempo: Die Beute der gesundheitsschädlichen Kinderarbeit in seinen Händen – sie hat noch nicht mal den Gegenwert einer Cola.

York-Fabian Raabe, der Regisseur und mit Toks Körner auch einer der beiden Drehbuchautoren von „Borga“, dem Spielfilm, aus dem diese Szene stammt, ist mit der Müllhalde in Agbogbloshie gut vertraut. In seiner Doku „Sodoms Kinder“ begleitete er 2013 zwei Straßenkinder, die dort auf und von der Deponie lebten. Und auch in seinem Kurzfilm „Zwischen Himmel und Erde“ (2010) beschäftigte sich Raabe mit dem wirtschaftlichen Gefälle zwischen Westafrika und Europa: Nach einer realen Begebenheit erzählt er darin von der Flucht zweier ivorischer Brüder, die – in Ermangelung alternativer Reisemöglichkeiten – erhoffen, im Fahrwerk eines Flugzeuges versteckt, der Armut entfliehen zu können.

Lässige Würde: „Borga“ überzeugt mit seiner Beobachtungsgabe

Auch der herangewachsene Kojo (Eugene Boateng), der in Ghana trotz seiner Schulbildung keine andere Arbeit als die auf dem Schrottplatz findet, beschließt eines Tages, ein „Borga“ zu werden, ein  Mann, der es im deutschen Hamburg zu Wohlstand bringt. Dass die Realität vor Ort ganz anders aussieht, ihn ein Leben in Illegalität, Obdachlosigkeit, Selbstverleugnung und unterbezahlter Schwerstarbeit, ja, sogar Drogenkriminalität erwartet, merkt er zu spät.

Trotzdem wird in „Borga“ nicht nur eine depressive Story postkolonialer Ausbeutung erzählt. Zu gut ist die Beobachtungsgabe seiner beiden Drehbuchautoren – und zu groß ihre Faszination von westafrikanischer Kultur. Bereits in den Anfangsszenen des Films ist auch der Überlebenswille ghanaischer Kids stets unterschwelliges Thema: Die Straßenkinder auf der Mülldeponie mögen zwar in Second-Hand-Lumpen aus dem Ausland herumlaufen – Jungs, wie Nabil (Solomon Anim) tragen diese jedoch dermaßen würdig und beiläufig-lässig, dass jede:r Grunge-Influencer:in vor Neid erblassen würde.

Und Thelma Buabeng als Hamburger Afro-Shop-Besitzerin Choga spielt so lustvoll die Bandbreite ghanaischer Ausdrucksmöglichkeiten herunter, dass schon dies alleine einen Besuch des Films rechtfertigt: Die Schnalz- und Zischlaute etwa, mit denen vor allem ghanaische Frauen ein Gegenüber in die Schranken verweisen, werden längst auch von den weißen Besucher:innen der hierzulande zunehmend populären Afrobeat-Partys begeistert nachgeahmt. „Borga“ ist zwar alles andere als Tourismus-Werbung. Trotzdem macht der Film neugierig auf Ghana und seine Leute – denen man nicht erst nach der 104. Filmminute unbedingt mehr globale Gerechtigkeit wünscht.

D/ GHA 2021; 104 Min.; R: York-Fabian Raabe; D: Eugene Boateng, Christiane Paul, Prince Kuhlmann, Thelma Buabeng; Kinostart: 28.10.


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Den Überblick über die Filmstarts der Woche haben wir hier. Sie spielt auch in „Borga“ mit, aber mit Christiane Paul sprachen wir über „Es ist nur eine Phase, Hase“. Alle Texte zu Kino und Streaming findet ihr hier.

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