Das klassische Erzähl- und Illusionskino war die Sache von Wim Wenders nie. Seine Filme bauen in aller Regel eine Metaebene mit ein: Sie erzählen, dass sie etwas erzählen und thematisieren, dass die zu erzählende Geschichte manchmal erst noch gesucht werden muss.
Der Schlüssel zu seinem Werk findet sich bereits in den ersten Kurzfilmen aus den späten 1960er-Jahren: In „Same Player Shoots Again“ (1967) zeigt der Regisseur fünfmal hintereinander die gleiche etwa zweieinhalbminütige Sequenz, lediglich variiert durch eine unterschiedliche Farb-Virage: Ein womöglich angeschossener Mann mit einem Gewehr taumelt eine Straße hinunter – bis man schließlich glaubt, jeden Stein des Pflasters zu kennen.
Wim Wenders feiert 75. Geburtstag – ARD zeigt 30 seiner Filme in der Mediathek
Hier verbinden sich Flipperautomat und Gewehre, Experiment und Genre – zugleich ist die Faszination für die Mythen Amerikas spürbar, die Wenders in seiner Karriere immer wieder beschäftigten: von „Paris, Texas“ (1984), einem seiner größten Erfolge, bis zur Neuorientierung im „Land of Plenty“ (2004) nach den Terror-Anschlägen des 11. September 2001. Auch das berühmte Roadmovie „Im Lauf der Zeit“ (1976) war im Grunde nichts anderes als ein Versuch, das innerdeutsche Grenzgebiet, in dem ein Kinotechniker provinzielle Lichtspieltheater abklappert, in eine Art mythisches Amerika zu verwandeln.
Den Blick der Kamera für das Publikum erfahrbar zu machen und ihn zu hinterfragen, war Wenders, dem die ARD anlässlich seines 75. Geburtstags eine 30 Filme umfassende Werkschau in der Mediathek widmet, stets ein wichtiges Anliegen: Für „Silver City Revisited“ (1968) stellte er eine unbewegte Kamera ans Fenster und ließ sie bis zum Ende der jeweiligen Filmrolle durchlaufen. Die Kamera blickt auf Münchner Straßen, registriert dabei die Veränderungen und erinnert allein schon durch die Dauer der Einstellungen an ihre eigene Präsenz.
„Alice in den Städten“ (1974) ist eine Studie über den Unterschied zwischen der Realität und ihrem Abbild: Zu Beginn sitzt ein Journalist (Rüdiger Vogler) mit einer Polaroid-Kamera in den USA am Meer. Dass auf den Bildern nie das drauf sei, was man tatsächlich gesehen hat, stellt er dabei fest – und wird im Folgenden in ein fast aussichtsloses Unterfangen verwickelt. Nur anhand einer alten Fotografie sucht er in den gleichförmig wirkenden Arbeitersiedlungen des Ruhrgebiets gemeinsam mit einem kleinen Mädchen nach dem Haus ihrer Großmutter. Das Foto bekommt etwas nahezu irreal Geisterhaftes – bis die beiden das Haus tatsächlich finden … Kann man die Realität also doch greifbar machen?
Seinem eigenen Lieblingsregisseur Yasujiro Ozu war Wenders schließlich 1983 in Tokio auf der Spur: Der Tagebuchfilm „Tokyo-ga“ erzählt jedoch nicht nur Interessantes über Ozus Kino (so in Interviews mit dem Schauspieler Chishu Ryu und dem Kameramann Yushun Atsuta) und über die Veränderungen in Tokio 20 Jahre nach Ozus letztem Film, sondern gibt letztlich auch einen schönen Einblick in Wenders’ Art zu denken und zu filmen: Es geht um den Respekt vor dem Bild in einer schnelllebigen Zeit der Bilderfluten.
- ARD Mediathek, abrufbar bis 14.9.2020
Mehr zu Wim Wenders
Bereits 2015 wurde Wim Wenders auf der Berlinale für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Im selben Jahr trafen wir den legendären Regisseur zum Interview, das ihr hier noch einmal nachlesen könnt. Einer von Wenders’ bekanntesten Filmen heißt „Der Himmel über Berlin“ – wie auch unser August-Heft, das ihr hier kaufen könnt.