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Drehbuchautor

Zum Tod von Wolfgang Kohlhaase: „Hör‘n Se nie uff, et hört von selbst uff“

Am 5. Oktober 2022 ist Wolfgang Kohlhaase, der wichtigste und beste Drehbuchautor, den Deutschland je hatte, mit 91 Jahren gestorben. Im Jahr 2005 hatte tipBerlin-Redakteur Martin Schwarz zum Kinostart von „Sommer vorm Balkon“ die einmalige Gelegenheit, Kohlhaase zwei Stunden lang im Café Einstein Unter den Linden über seinen Werdegang zu befragen. Den Text könnt ihr hier noch einmal lesen.

Wolfgang Kohlhaase (13.3.1931–5.10.2022) zählt zu den wichtigsten Drehbuchautor:innen Deutschlands. Eine Begegnung im Jahr Foto: Imago/Teutopress

Wolfgang Kohlhaase: „In dem Alter denkt man ja: Tod ist für andere“

Da kann einem ganz „blümerant“ werden vor dem Treffen mit Wolfgang Kohlhaase. Was hat der Mann nicht schon alles aus seiner Schreibfeder gezaubert: „Berlin –Ecke Schönhauser“ von 1957: Wenn man so will das berühmte Ostberliner Pendant zu Georg Tresslers „Die Halbstarken“; „Berlin um die Ecke“, der nach „Spur der Steine“ beste Verbotsfilm des legendären DEFA-Jahrgangs 1965/66; Konrad Wolfs Meilensteine „Ich war Neunzehn“ und „Solo Sunny“; Frank Beyers „Der Aufenthalt“; Bernhard Wickis „Die Grünstein-Variante“; Volker Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“. Und nun Andreas Dresens Geniestreich „Sommer vorm Balkon“. So ein Output hat ein gewisses Einschüchterungs-Potenzial.

Und nun sitzt er da in einem Café Unter den Linden, blickt einen mit neugierigen Augen an und wartet darauf, erzählen zu können. Denn wenn Wolfgang Kohlhaase, Jahrgang 1931, etwas kann, dann ist es erzählen. Mündlich und schriftlich. Und er erzählt, von der Kindheit in Adlershof („einmal im Jahr zu Hertie am Alex, Spielzeuge ankucken bei der Weihnachtsausstellung“), Einkaufsgewohnheiten („Westberlin bedeutete die Entdeckung der Kreppsohle, sprich: Schuhe kaufen in Neukölln“), und er erzählt vom Krieg: Luftschutzbunker, Bombenangriffe, Volkssturm. An dem war er mit 14 gerade noch so vorbeigeschrammt.

Die Kinos von Kohlhaases Kindheit

„Und dann kam eines Tages die Meldung: ‚Verbände des Heeres und der Waffen-SS haben in einem entschlossenen Gegenangriff den S-Bahnhof Köpenick zurückerobert.‘ Ich dachte mir: Jetzt müssen sie ja nicht mehr weit fahren, um etwas zurückzuerobern.“ Wirkliche Angst hatte er keine: „Aus biologischen Gründen: In dem Alter denkt man ja: Tod ist für andere.“

Ins Kino ist Kohlhaase damals schon regelmäßig gegangen, das Capitol in der Dörpfeldstraße und das Central, heute Casablanca, in der Friedenstraße waren die Lichtspielstätten seiner Kindheit. „Und jeden Abend kamen die ‚Moskitos‘, es gab also Luftangriffe. so 30 bis 40 Maschinen. Man schaffte selten einen ganzen Film, bevor der Alarm losging – zu unserem Vergnügen.“ Kohlhaase grinst verschmitzt. „Denn dann folgte der entscheidende Satz: ‚Karten behalten ihre Gültigkeit!‘“

Nach Kriegsende folgten dann russische Filme wie „Tschapajew“, aber auch US-amerikanische wie „Die Spur des Falken“ oder „Meine Frau, die Hexe“ – vor Ausbruch des Kalten Krieges liefen auch US-Filme in Adlershof. Und später dann die italienischen Neorealisten wie De Sica oder Rossellini. Von denen war Kohlhaase besonders angetan – was seinen Filmen bis heute anzusehen ist.

Wolfgang Kohlhaase hielt „Tom Sawyer“ fürs schönste Buch der Welt

Und das Schreiben? Das begann mit dem Lesen. Kohlhaases Lieblingsbuch mit 11: Mark Twains „Tom Sawyer“. „Ich war überzeugt: Dies ist das schönste Buch der Welt. Deshalb muss es keine anderen Bücher geben, man kann dieses immer wieder lesen.“ Er hat sich dann später doch auch am Schreiben versucht: „Ein Mitschüler hatte einen Kriminalroman geschrieben, einfach so. Dann sagte ich mir: Det kann ick ooch. 40 Seiten habe ich am Stück durchgeschrieben – dann hatte ich zwei abgebrannte Häuser, sieben Tote und keine Handlung.“ Doch bald klappte es mit dem Autorendasein, Kohlhaase landete erst bei der Jugendzeitschrift „Start“ und dann für ein halbes Jahr bei der „Jungen Welt“. Nur um dann Anfang der 50er Jahre zur DEFA zu gehen, in die Dramaturgie. Er schrieb einige Beiträge für die satirische Kurzfilmreihe „Stacheltier“ – „das hab‘ ich alles vergessen“ – und landete 1954 mit dem vergnüglichen Jugendkriminalfilm „Alarm im Zirkus“ gemeinsam mit Stammregisseur Gerhard Klein 1954 einen Renner und erhielt den Nationalpreis. Eine mehr als solide Karriere entwickelte sich, mit „Eine Berliner Romanze“, „Berlin – Ecke Schönhauser“, „Der Fall Gleiwitz“.

Und dann kam das Jahr 1965 und mit ihm jenes vermaledeite 11. Plenum des ZK der SED, das eine ganze Verbotswelle für neue oder noch nicht ganz fertig gestellte DEFA-Spielfilme nach sich zog. Mit dabei: „Berlin um die Ecke“, Regie: Gerhard Klein, Buch: Wolfgang Kohlhaase. „Keiner hatte damit gerechnet, wie das mit Gewalt über uns kam. Es ist den Politikern nicht schwergefallen, von Film nichts zu verstehen – da waren sie sehr sicher.“ Eine gewisse Bitterkeit schwingt in Kohlhaases Stimme trotz der Ironie mit. „Letztlich ging es auch nicht mehr um Sozialismus, der war nur noch ein Gespenst, sondern um den Alleinvertretungsanspruch in Sachen Kultur. Mit einer ungeheuren Leichtigkeit haben diese Leute Freunde zu Feinden erklärt. Das Ganze war ein Disziplinierungsversuch, der der ganzen Gesellschaft galt.“

Und Kohlhaase kommt in Rage: „Man schreibt doch nicht vorsätzlich kritisch oder unkritisch, sondern aus seiner Lebenslage heraus. Wer schreibt, hat meist ein paar Fragen, entweder an den nächsten Tag oder an das nächste Jahrhundert. Das Schreiben a priori kritisch ist, hat die damalige Kulturpolitik nie verstanden. Die würden auch nicht verstehen, das traurige Lieder nicht traurig machen und lustige Lieder nicht unbedingt froh, sondern dass das die Sozialisierung von Gefühlen ist.“

Filmemachen in der DDR: Ein Drahtseilakt

Obwohl dem Drehbuchautor der Drahtseilakt mit dem Filmemachen in der DDR immer bewusst war: „Wenn Filme sich permanent einmischen, wird man sich auch in die Filme einmischen. Das muss man einfach durchstehen. Das war die permanente Debatte Bilder oder Traumbilder. Und wir wollten reale Bilder.“ Was der Staatsapparat damals angerichtet hat, lässt sich heute noch gut überprüfen: Filme wie „Karla“, „Spur der Steine“ und „Berlin um die Ecke“ gehören zum Besten, was die DEFA je produziert hat. Erst 1990 konnten sie der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Aber als Kulturschaffender im Arbeiter- und Bauernstaat musste es ja irgendwie weitergehen. Und da kam es zum Glück zur Zusammenarbeit zwischen Wolfgang Kohlhaase und Konrad Wolf, dem 1982 verstorbenen und für viele heute noch wichtigsten Regisseur der DEFA. Das Ergebnis der Liaison: „Ich war Neunzehn“ (1968), „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ (1973), „Mama, ich lebe“ (1977) und „Solo Sunny“ (1980). Es folgten Frank Beyers „Der Aufenthalt“ nach Hermann Kant, Bernhard Wickis „Die Grünstein-Variante“ und Ende der 80er „Der Bruch“ mit Götz George. Nach der Wende brillierte Kohlhaase im Kino vor allem mit dem Buch zu Volker Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“.

Und jetzt also „Sommer vorm Balkon“. Und da ist es gar nicht schwierig, von Sunny einen Bogen zu Nike und Kathrin zu schlagen, den beiden Frauenfiguren in Dresens Film. Die sind Verwandte im Geiste, Frauen aus Prenzlauer Berg, die sich nicht so leicht unterkriegen lassen. „Ich wollte erzählen: Es wird hier nicht leicht gelebt, aber es wird kräftig gelebt,“ sagt Kohlhaase und erzählt ausgiebig von den Vorbereitungen zum Dreh. Wie Figuren ausformuliert wurden, welches Detail welche erzählerische Funktion hat, wie er aus seinen eigenen Erfahrungen geschöpft oder recherchiert hat für Themen wie Altenpflege oder Arbeitslosen-Trainings. Und man merkt: Hier ist einer auch nach mehr als 50 Jahren Drehbuchschreiberei noch mit Feuer bei der Arbeit. Aber er weiß auch, was er kann: „Sowohl bei Dresen, bei Wolf als auch bei so einem Egozentriker wie Wicki galt: Wenn ein gediegen ausformulierter Satz geändert werden soll, muss man anrufen. Kannste ja nich‘ einfach n’ Satz ändern, ick denk mir ja was dabei.“

Klein, Wolf, Beyer – Kohlhaase war vielen seiner Regisseure treu. Und hat wohl nun in Andreas Dresen einen neuen Kompagnon gefunden, oder? Die gefühlte Ähnlichkeit von Dresen-Filmen wie „Halbe Treppe“, „Nachtgestalten“ oder „Die Polizistin“ mit Kohlhaase-Filmen wie „Berlin – Ecke Schönhauser“ oder „Solo Sunny“ ist doch unverkennbar. Tragikomischer Neorealismus könnte man das nennen. Dazu der Autor: „Stimmt, das ist eine ähnliche poetische Provinz, in der wir wohnen.“ Und ohne ins Detail zu gehen, deutet Kohlhaase an, dass da vielleicht noch was nachkommen kann mit ihm und Dresen. Und irgendwann mal aufhören, in Pension gehen? Schließlich ist Wolfgang Kohlhaase 74. „Wissen Sie, was eine alte Portiersfrau mal zu mir gesagt hat: ‚Hör‘n Se nie uff, et hört von selbst uff!‘“


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