Sinnfrage

Clubkultur in Berlin: Warum sie unbedingt schützenswert ist

Immer wieder wird in Berlin über Clubkultur diskutiert. Dabei geht es vor allem oft um die Frage, wie schützenswert sie denn nun eigentlich ist. Klar, viele sehen im Ausgehen in der Hauptstadt eine ungesunde, hedonistische Melange aus Ballern, Bumsen und Berghain. Horror-Geschichten über Endlos-Partys, Heidi Klum im Kater Blau, die beschwingte Homo-Sause ohne Regeln – wer braucht das alles? Das ist aber zu kurz gedacht – denn was hinter den oft gut behüteten Türen der Berliner Clubs geschieht, ist weit mehr. 12 Gründe, warum die Clubkultur nicht nur wichtig, sondern überlebenswichtig für viele ist.


Safe Spaces

Refugess welcome – das Yaam ist ein Beleg für die offene Club-Kultur Berlins. Hoch Zwei Stock/Angerer

Der wohl wichtigste Punkt für jede Person, die in irgendeiner Form nicht dem Durchschnitt entspricht – und der dem Durchschnittsmenschen schwer begreifbar zu machen ist. Egal ob lesbisch, Schwarz oder mit körperlichen Einschränkungen: Es gibt in Berlin Orte, Clubs und Partyreihen, die absolut inklusiv sind. Warum das so wichtig ist? Dazu ist es wichtig, das Konzept „Safe Space“ erst einmal zu begreifen. Denn viele Menschen erfahren im Alltag aufgrund von Hautfarbe, Sexualität oder anderen Faktoren Diskriminierungen und Hass.

Wenn ein Schwuler ins Schwuz geht, weiß er, dass sich dort niemand darum schert, dass er Männer liebt. Das ist eine Sicherheit, die ihm viele hauptsächlich von Heterosexuellen besuchten Orte nicht geben. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich dort jemand an queeren Personen stört, ist hoch. Auch in Berlin gibt es wieder mehr Rassismus, Antisemitismus und homophobe Angriffe. Die hohe Wahrscheinlichkeit, beim Feiern mal keinem Arschloch zu begegnen, ist Gold wert. Abgesehen davon gibt’s von Gothic bis Rock, von Rap bis RnB für jede Richtung etwas. Weil Geschmäcker nun mal auch verschieden sind.


Politische Haltung

Bass statt Hass: Wenn die AfD ruft, rufen die Clubs in Berlin lauter. Nazis werden hier weggebasst. Foto: Imago Images/Contini

Wenn die AfD in Berlin am Brandenburger Tor demonstriert wie vor drei Jahren, schließen sich die meisten Berliner Clubs mal eben zur Mini-Loveparade „AfD wegbassen“ zusammen und die Berliner:innen tanzen dort, wo kurz zuvor noch die Nazis standen. Mitten in der größten Krise der Club-Kultur, der Corona-Pandemie, spenden die #unitedwestream-Clubs trotzdem noch einen Teil der Einnahmen für Seenotrettung. Wer auf der Gästeliste steht, wird in vielen Lokalitäten dringend gebeten, trotzdem ein bisschen Eintritt zu zahlen – als Spende für Refugees, etwa im About:Blank. Und selbst das notorisch unpolitische Berghain hat die Homepage zeitweise abgeschaltet, um auf eine andere Seite mit den Namen getöteter Schwarzer als Support für #blacklivesmatter weiterzuleiten. Gut, die Boot-Demo, die zum Rave wurde, ging daneben und war mehr Bärendienst als alles andere. Das können alle Beteiligten besser.

Dass das alles nicht nur in eine Richtung funktioniert und das Publikum nicht nur kritisch in Richtung politischer Entwicklung im Land, sondern auch in Richtung Clubs ist, zeigt sich in Berlin immer wieder. Das About:Blank hat viele Sympathien verloren, weil pro-israelische Positionen vertreten werden, das Revier Südost legte seinen Clubbetrieb nach Rassismus-Vorwürfen gegen Securitys auf Eis.


Wirtschaftsfaktor

Berlin verdiente 2018 mal eben 1,48 Milliarden Euro mit Club-Touristen, das ergab eine Studie. Die Clubs und Veranstalter setzten in dem Jahr davon 168 Millionen Euro brutto um. 9.000 Menschen arbeiten mit, in oder wegen der Szene, so kommt einiges an Steuern dazu. Dazu sind ein paar Millionen Touristen einzig des Feierns wegen jedes Jahr in der Stadt. Die aber auch essen, schlafen, den Nahverkehr und Taxis nutzen.


Sexuelle Entfaltung

Nichts wie rein – und dann raus aus den Klamotten! Schlange vor dem Kitkat, bekannt für ausschweifende Partys. Foto: Imago Image/Pemax

Ja, es gibt in Berlin Clubs, in denen Menschen nicht nur vertikal, sondern auch horizontal die Hüften kreisen lassen. Die Darkrooms sind legendär, sexpositive Partys richten sich an Menschen, die ihre Sexualität nicht als etwas beschämendes, sondern auszulebendes betrachten. Königsklasse des sexuell expressiven Feierns ist natürlich das Kitkat. Dazu gibt es Reihen wie Pornceptual, die ausdrücklich das (einvernehmliche!) Erkunden diverser Körper wünschen. Und auch hier ist das Schöne: Wer nicht will, der muss gar nichts. Gerüchteweise wird auf der Tanzfläche des Berghains am Ende auch immer noch mehr getanzt als gebumst. Egal, was die Legende besagt. Wobei wir dies nicht für alle Bereiche des Clubs bestätigen können. Schön ist in jedem Fall, dass hier niemand abgestempelt dafür, dass er:sie Lust auf Sex haben.


Alternative Kunst und Kultur erleben

Beim CTM-Festival tritt J’Kerian Morgan alias Lotic im Berghain auf – die Grenzen von Gender und Identität sprengen viele Clubs in Berlin fortwährend. Foto: Imago/Owsnitzki

Nun ist es leicht zu sagen: Im Berghain gibt es geilen Techno! Stimmt auch. Aber die Club-Szene ist größer und eben auch nicht nur elektronisch. Wenn im Ritter Butzke ein chilenisches DJ-Team Bass mit Live-Musik kombiniert, Rapperinnen das Yaam fast zerlegen mit ihren Songs, Birgit und Bier zu internationalen Food-Markets lädt und die Drag Queens, die oft Schwuz auftreten wie Bambi Mercury, am Ende sogar noch bei Pro Sieben landen, weiß jede:r: Wer diese Räume zerstört oder vor die Hunde gehen lässt, raubt der Stadt die kulturelle Vielfalt, die sie so einzigartig macht.


Legenden

Um die Berliner Club-Szene ranken sich viele Legenden. Manche sind wahr, etwa dass ausgerechnet Scooter beim Geburtstag des Sisyphos als Überraschungsgast aufspielten, und dass Blümchen gern ins Berghain geht, auch. Ob Britney Spears und Sido wirklich nicht ins Berghain durften, wissen wohl nur die beiden beziehungsweise die Türsteher genau. Apropos: Ein DJ soll mal in der Panorama Bar einfach so „Baby One More Time“ gespielt haben, zum Entsetzen vieler elitärer Gäste. Und kurz vor dem Lockdown lief genau dort mal „Lay All Your Love On Me“ von ABBA – wie geil ist das denn? Auch (k)eine Legende: Das Matrix hat wirklich jede Nacht auf, wenn nicht gerade Pandemie ist. Und ja, „Berlin Tag & Nacht“ wurde da auch gedreht. Ist für manche auch legendär, und zum Glück ist Toleranz (siehe Safe Spaces) ja ein großes Thema in Berliner Clubs. Wer jetzt auf die ganz miesen Drogen- und Sexgeschichten gehofft hat, möge gern woanders danach suchen.


Sich ausprobieren

Der persönlichen Entfaltung geht meist eine Phase des Ausprobierens voran. Und wer so tut, als würde im Leben der meisten nicht auch mal das Überschreiten von Grenzen und die ein oder andere Dummheit gehören, lügt. Heißt: Ja, Drogen sind scheiße. Ja, Vollrausch ist Kontrollverlust. Und ja, manch einer fragt sich am Morgen nach der Orgie sicher auch, ob das nun unbedingt gegen die Leere geholfen hat. Macht aber nichts: Im Zweifel sind es Erfahrungen, die Menschen sehen lassen, wer sie sind oder sein wollen. Und selbst, wenn dieses ganze pseudo-psychologische Geschwafel nicht stimmt und man sich einfach mal gehen lassen will: Ist auch okay. Übrigens genauso wie manchmal nur mit einem Wasser allein im Dunkeln zu tanzen.


Drogen

Ja, Drogen sind ein Teil der Club-Kultur in Berlin (und überall sonst). Foto: Imago/Panthermedia/Jagamia

Ja, Drogen sind ein Bestandteil der Club-Kultur, und das nicht erst seit ein paar Jahren. Drogen sind gefährlich und töten. Das Problem des ungehemmten Konsums lässt sich nicht totschweigen, die Zahlen steigen, es fahren zum Beispiel auch immer mehr Koks-Taxis durch Berlin. Die Club-Commission kämpft für die Legalisierung von Schnelltests in Berliner Clubs, damit die Menschen wenigstens wissen, was sie ballern. Bewusstseinserweiternde Drogen haben Künstler:innen schon vor Hunderten Jahren beeinflusst. Das macht diese Droge am Ende nicht weniger gefährlich – und vor allem G, KO-Tropfen, das inzwischen Trenddroge ist, ist einfach richtig gefährlicher Scheißdreck. Tatsächlich ist die Drogenkultur auch kein Grund, dass die Berliner Clubkultur gerettet werden muss. Aber auch keiner dagegen: Es ist ein gesellschaftliches Problem, dessen Beendigung nicht von Clubs und erst Recht nicht von ihrem Sterben gelöst werden kann. Das nur so Rande.


Hedonismus

Laut Duden ist Hedonismus das Streben nach Sinnenlust und -genuss, das private Glück wird „in der dauerhaften Erfüllung individueller physischer und psychischer Lust gesehen“. Und damit sind wir dann, was einige Protagonisten in Berliner Club-Welt angeht, tatsächlich bei Ballern, Bumsen und Bass. Aber auch diese Menschen brauchen (und irgendwie ja manchmal auch sehr viel) Liebe. Ist tatsächlich blöd, dass viele sich dazu berauschen müssen. Aber auch das kann in Berlin in Safe Spaces geschehen – statt einfach irgendwo anders, wo auch das gefährlicher ist.


Mehr zum Thema

Nicht nur Orte gehören zum Unesco-Weltkuturerbe, sondern auch Traditionen – wie der Berliner Techno. Neuigkeiten zu Clubs in Berlin lest ihr immer hier. Und wenn ihr Angst vorm Türsteher habt: So kommt ihr ins Berghain. Wer es nicht geschafft hat, findet gerade in Friedrichshain zig alternative Feierorte: Unser Nachtleben-Guide. Aber bitte benehmen – drängeln, grabschen, labern: Die 12 nervigsten Typen im Club.

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