In anderen europäischen Ländern gab es sie schon länger: Seit einigen Wochen häufen sich in Berlin Berichte über Needle-Spiking auf Partys. Dabei injizieren die Täter:innen Menschen im Club mit einer Spritze unbemerkt Drogen. Unsere Autorin Livia Lergenmüller hat mit einer Betroffenen gesprochen.
Kollabiert auf dem Dancefloor nach Needle-Spiking
Statt auf einer After Hour endete ihr letzter Berghain-Besuch in einem „traumatischen Horrortrip“. So charakterisiert Alison Lewis die Stunden nach dem Überfall. Der 32-jährigen Australierin sollen in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai im Berliner Club Berghain mithilfe einer Spritze unbemerkt Drogen verabreicht worden sein.
„Es war wie ein gruseliger, psychedelischer Trip“, so beschreibt Alison Lewis ihre Erfahrung. „Ich stand mit meinen Freunden auf dem Floor und hatte unfassbar viel Spaß. Doch auf einmal veränderte sich alles. Es war, als würde ich meinen Körper verlassen und meine gesamte Identität verlieren.“
Ihre Augen seien geöffnet gewesen, doch sie habe ihre Umwelt nicht mehr wahrgenommen. Sie beschreibt ihr Erlebnis als eine „Nahtoderfahrung“, es sei gewesen, als würde sie die Realität verlassen. „Meine Freunde erzählten mir später, ich sei kollabiert und habe aufgehört zu atmen.“ Die Security vor Ort habe sie im Backstage versorgt. Kaum sei sie wieder ansprechbar gewesen, sei sie jedoch des Clubs verwiesen worden.
Das Berghain hat inzwischen eine Warnung vor Needle-Spiking veröffentlicht
Ihren anschließenden Zustand beschreibt sie als desorientiert und verwirrt, sie habe nicht mehr gewusst, wie man ein Handy bedient. Zudem berichtet sie von Schamgefühlen, auch durch die Reaktion des Club-Personals ausgelöst. Anstatt ein Krankenhaus zu besuchen, fuhr sie daher nach Hause.
Inzwischen hat das Berghain eine Warnung vor Needle-Spiking veröffentlicht. Der Club geht grundsätzlich extrem sparsam mit Informationen, die über Party-Line-Ups hinausgehen, um. Auch die Hinweise auf die neue Bedrohung kamen in Anbetracht dessen, dass die Vorfälle sich seit einigen Wochen häufen, eher spät. Auf der Informationsseite stehen neben Stellen, an die man sich als Opfer von Needle-Spiking wenden kann auch Vorschläge, wie Betroffene und alle anderen Gäste sich im Club verhalten sollten.
Dass Menschen gegen ihren Willen sogenannte K.O.-Tropfen verabreicht bekommen und so außer Gefecht gesetzt werden, ist im Berliner Nachtleben leider fast schon ein alter Hut. Neu ist jedoch, dass die Substanzen mutmaßlich über Spritzen verabreicht werden. Bereits im Herbst letzten Jahres waren zahlreiche solcher „Needle Spiking“-Fälle in Großbritannien, zuletzt auch in Frankreich, bekannt geworden. Erst vor wenigen Wochen musste das „We R Young“-Festival in Belgien abgebrochen werden, nachdem 24 Frauen Erfahrungen schilderten, die der von Alison Lewis sehr ähnlich klingen. Zehn von ihnen wurden ins Krankenhaus gebracht, bei vieren wurden Einstichstellen gefunden.
Needle-Spiking: Einstichstelle an der Schulter
Viele Clubgänger:innen reagieren verunsichert auf die Erzählung von Alison Lewis, denn die Handlungsspielräume der Institutionen scheinen begrenzt. Die Taschenkontrollen sind gerade in Clubs wie dem Berghain bereits sehr streng, die Floors sind voll und unübersichtlich. Konnte man bisher noch sein Getränk im Blick behalten, scheint man nun nahezu machtlos zu sein.
Dass sie überhaupt Opfer einer Spritzen-Attacke geworden war, realisierte Lewis erst am nächsten Tag. Eine befreundete Mitarbeiterin des Clubs riet ihr, sie solle ihren Körper auf Einstichstellen absuchen. An der Schulter fand sie eine. Ihr Arm habe sich zudem empfindlich, „wie bei einem Bluterguss“ angefühlt, erzählt sie. Da sie sich an keinen Moment erinnern konnte, an dem ihre Getränke unbeaufsichtigt gewesen seien, zudem alle ihre Freund:innen aus den gleichen Flaschen getrunken hätten, hält sie eine Spritzen-Attacke für die einzig mögliche Erklärung.
Die Berliner Polizei sagt, ihr liegt bislang kein derartiger Fall vor. In sozialen Medien kursieren jedoch weitere Meldungen von Frauen, die von ähnlichen Vorfällen erzählen. Der Krankenhausbetreiber Vivantes berichtet, kürzlich eine Betroffene in der Rettungsstelle versorgt zu haben. Die Clubcommission hat am 16. Juni einen runden Tisch zum Thema veranstaltet, an dem Maßnahmen diskutiert wurden .
Eine Nahtoderfahrung
Kilian Laurinck stellt mit der „Berlin Club Awareness Association“ die Awareness-Teams in mehreren großen Berliner Clubs, wie dem Salon zur Wilden Renate, dem Revier Südost oder der Anomalie. Ausgehend von Lewis Beschreibung vermutet der ausgebildete Sanitäter Laurinck, dass es sich bei der Substanz um Ketamin handelt. „Bei einer Überdosierung von Ketamin landet man schnell im sogenannten K-Hole. Das kann sich mitunter anfühlen wie eine Nahtoderfahrung“, sagt er. Auch der beschriebene Realitätsverlust und die außerkörperliche Erfahrung passe laut Laurinck zu der in Feierkreisen weit verbreiteten Droge.
Dafür spricht in seinen Augen auch, dass es sich bei Ketamin um ein Anästhetikum handelt, das für die intramuskuäre Injektion geeignet ist. Bei GHB/GBL, als K.O.-Tropfen bekannt, handele es sich hingegen um Säuren, die bei einer Injektion Schmerzen verursachen würden. Benzodiazepine könnten zwar ebenfalls durch Spritzen verabreicht werden, die Beschreibungen der Betroffenen passen jedoch nicht zur Wirkung der eigentlich angstlösenden Medikamente.
„Schützen kann man sich vor solchen Attacken nur bedingt“, sagt Laurinck. Umso wichtiger sei es, das Miteinander innerhalb des Clubs zu stärken und aufeinander acht zu geben. Die Clubcommission empfiehlt: Wer sich beim Feiern unwohl fühle, sollte eine Vertrauensperson informieren und sich an das Personal wenden. Wichtig sei es auch, im Anschluss Beistand zu suchen, mit dem das Erlebte verarbeitet werden kann.
Viele denken, sie seien selbst Schuld
Laurinck empfiehlt, im Falle eines mutmaßlichen Spiking-Angriffs sofort eine:n Ärzt:in aufzusuchen. Alison Lewis sagt, sie wünschte, sie hätte es getan. Wichtig ist dann nicht nur, sich auf alle verdächtigen Substanzen testen zu lassen, sondern auch, sich innerhalb der nächsten 48 Stunden einer Postexpositionsprophylaxe (PEP) zu unterziehen. Mit dieser kann eine Ansteckung mit dem HI-Virus, also HIV, unterbunden werden. Wird eine Spritze bei mehreren Menschen verwendet, stellt dies ein mögliches Infektionsrisiko dar.
„Die meisten schämen sich, da sie vorher schon selbst konsumiert haben und denken, sie seien mit daran schuld“ sagt Laurinck. Das sei völliger Quatsch. „Die Allermeisten, die in einen Club gehen, konsumieren Drogen.“ Die polytoxische Wechselwirkung, die sich aus der verabreichten Substanz und den bereits zuvor konsumierten Drogen ergibt, mache die Situationen häufig lebensgefährlich. „Wenn dich jemand spiked, dann ist einzig und allein diese Person schuld. Hier sollte keine Täter-Opfer-Umkehr betrieben werden.“
Situationen wie diese werfen auch erneut die Frage nach dem Umgang mit GHB/GBL im Nachtleben auf. Seit einigen Jahren fahren die meisten Clubs eine rigide Null-Toleranz-Politik gegenüber der Droge. Zwischen Rausch und Blackout liegen oft nur wenige Tropfen, die vielen Überdosierungen machen den Clubs seit Langem zu schaffen. Wer mit der Droge erwischt wird, erhält in der Regel Hausverbot.
Intention bleibt im Dunkeln
Die Maßnahme ist nachvollziehbar, führt jedoch dazu, dass sich Clubgänger:innen, die sich überdosiert haben, lieber auf den Toiletten verstecken, als Hilfe zu suchen – was lebensgefährlich sein kann. Menschen, die von Spiking betroffen sind, sind genauso von dieser Nulltoleranz gegenüber grenzwertigen Rauschzuständen betroffen. Das Personal fragt vor dem Rausschmiss schließlich nicht, wie die Drogen eigentlich in den Körper gelangt sind. So war es auch bei Alison Lewis der Fall. „Hätte mich das Clubpersonal anders behandelt, hätte ich vielleicht die Kraft gehabt, ein Krankenhaus aufzusuchen“, sagt sie.
Ratlos zeigen sich ausnahmslos alle Gesprächspartner:innen bezüglich der Intention der Täter. Bisher schienen die Betroffenen stets umgeben von Freund:innen, erhielten zudem unmittelbar Hilfe. Die üblichen Motive, wie sexualisierte Gewalt oder Diebstahl, scheinen auf den ersten Blick nicht zu greifen. Lewis jedenfalls hofft, dass sie mit ihrer Geschichte Aufmerksamkeit auf das Thema lenken kann: „Damit wir in Zukunft wieder sicher feiern gehen und einfach Spaß haben können.“ Ohne ein ganz böses Erwachen.
Auch wenn gerade die Angst umgeht: Das Berghain ist eigentlich ein Ort zum Loslassen. Ein paar Tipps, die euch beim Reinkommen ins Berghain helfen könnten, hat unser Autor aufgeschrieben. Der Club fasziniert, auch wegen des Publikums und der Art, wie es feiert. Wir haben ein paar Fehler aufgeschrieben, die man im Berghain nicht machen sollte. In Friedrichshain gibt’s nicht nur das Berghain. An diesen Orten spielt sich das Nachtleben in Friedrichshain noch ab. Lust auf Party? Unser Club-Update verrät immer donnerstags, was am kommenden Wochenende so geht. Einen wesentlichen Teil von Berlins Anziehungskraft macht die Clubkultur aus. Immer wieder neue Geschichten zu Berlins Clubs und Partys gibt’s in unserem Club-Ressort.