Konzert

Konzert-Highlight des Jahres: Air in der Zitadelle Spandau

Mit „Moon Safari“ revolutionierte das französische Duo Air die Elektronische Musik. Nie zuvor klangen Synthesizer so schwerelos. Nun spielen Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel ihr Meisterwerk in voller Länge – und schicken die Zitadelle Spandau auf eine Weltraumreise. Unsere Musikredakteure Jacek Slaski und Lennart Koch sind sich sicher: Der Auftritt gehört zu den Konzert-Highlights des Jahres.

Ein audiovisuelles Spektakel: Air spielen ein Konzert in der Zitadelle Spandau. Foto: Imago/Justin Ngx/Avalon

„Moon Safari“ von Air gilt längst als Klassiker

„Sie dachten viel an die Musik ihrer Grande Nation. Besannen sich auf Debussy und Ravel, erinnerten sich an Serge Gainsbourg und Jack Arel, bis im Sommer ein verträumter Mix aus der Waldhütte drang“, hieß es in einer Rezension im „Spiegel“ aus dem Jahr 1998. Damals war das Internet noch nicht so weit verbreitet, die meisten Menschen telefonierten noch übers Festnetz und schauten lineares Fernsehen, Céline Dion dominierte die Charts. Was dann aber plötzlich aus dem CD-Player erklang, vor einem Vierteljahrhundert das Abspielgerät der Wahl, mutete schon sehr nach Zukunft an.

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Elektronische Sounds, die so zart getuscht daherkamen wie das stilprägende Albumcover, sexy und entspannt und dabei niemals kitschig noch belanglos. Eine dringlich unaufdringliche Musik, die die ausgehenden 1990er-Jahre musikalisch untermalte. Die beiden Produzenten Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel nannten sich schlicht Air, das legendäre Album, um das es hier geht, hieß „Moon Safari“. Und tatsächlich fühlen sich die Songs des Duos so luftig und schwerelos an wie nichts zuvor und wenig danach. Wenn überhaupt! 

The New Cool mit analogen Synthesizern, künstlichen Hollywood-Geigen, gezupften Akustikgitarren, groovy Bassläufen, verzerrten Stimmen und ungreifbaren Strukturen, eingefangen auf dem Mehrspurrecorder und Akai-Sampler. Und das nach Grunge, MTV,  Take That und den anderen 100 Boy-Groups der Zeit, nach den Fanta Vier und „Titanic“. Kein Problem für die Soundtüftler aus Versailles. Nicht umsonst gilt die Platte längst als Klassiker, nicht nur  in der elektronischen Musik. Sie ebnete den Weg für das Downtempo-Genre und findet sich in nahezu allen Listen mit so und so vielen Platten, die man gehört haben muss, bevor man stirbt.

The New Cool: Jean-Benoît Dunckel (l.) und Nicolas Godin (r.) schufen als Air eine ganz neue Lässigkeit

Sicher ist: Niemand bleibt von dieser unfassbar entspannten Weltraumsafari unberührt. Nostalgisch und zukunftsorientiert, analog und digital, Pop und Avantgarde, Band, DJs, Produzenten und Orchester zugleich: Air sind die musikalische Verkörperung des Retrofuturismus und Ergebnis einer Zeit, in der es plötzlich möglich war, mit alten und neuen Techniken zu zweit große Kunst zu erschaffen. Wer die Vorbilder der ganzen Bedroom-Produzent:innen heutzutage sind, dürfte wohl klar sein.

Musik aus der Zukunft

Für Air war das frühzeitige Meisterwerk Fluch und Segen zugleich, denn was sollte nach so einem Debüt noch kommen? Tatsächlich veröffentlichten Godin und Dunckel noch fünf weitere Studioalben und komponierten Soundtracks, etwa für Sofia Coppolas Film „The Virgin Suicides“ aus dem Jahr 2000. An den großen Erfolg des Erstlings konnten sie aber niemals anknüpfen. Vielleicht weigerten sie sich deshalb, mit ihrem Geniestreich auf Tour zu gehen. Jetzt, erst 25 Jahre später, bringen Air „Moon Safari“ doch noch auf die Konzertbühne. Nach einem sofort ausverkauften Konzert im Theater des Westens im März wurde ein weiterer Termin verkündet. Im Rahmen des Citadel Music Festivals in Berlins schönster Freiluft-Location spielen die Franzosen das Album in voller Länge. Air können halt alles: Theater und Open-Air, Hochkultur und Sundowner-Rave, Retreat und Party.

Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel alias Air spielen "Moon Safari" in Berlin. Foto: Promo
Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel alias Air spielen „Moon Safari“ in Berlin. Foto: Promo

Beim Air-Konzert wird die Zitadelle zum Raumschiff

In der Zitadelle Spandau verschwimmen am 21. Juli Gestern und Morgen. Die Festung aus der Hochrenaissance könnte sich plötzlich so anfühlen wie ein Raumschiff, und der Himmel über Spandau wird sich bei den sphärischen Klängen und verträumten Sounds noch weiter erstrecken. Unendliche Weiten sozusagen. In Konzertvideos aus dem Theater des Westens zeigt sich bereits die raumeinnehmende Atmosphäre, die Godin und Dunckel mit einer Vielzahl an Tasteninstrumenten, Bass, Gitarre und der Unterstützung eines Schlagzeugers schaffen. Das Besondere: Air spielen ihre vielschichtigen Kompositionen live. Anders als bei vielen Gruppen im elektronischen Bereich kommen sie ohne Background-Tracks aus. So klingen bekannte Songs nie genau so wie auf ihren Alben. Durch die minimalistischen Bühneninterpretationen entsteht eine besondere Intimität, die Fülle des Sounds geht verrückterweise trotzdem nicht verloren.

Für Synthesizer-Freaks dürfte der Abend eine Erleuchtung sein. Denn jeder weiß: Alte, analoge Synthesizer wie den vielverwendeten Korg MS-20 oder diverse Moog-Klassiker auf der Bühne zu beherrschen, ist eine große Herausforderung. Dazu kommen natürlich auch noch Beatles-Mellotron und jazzy Fender Rhodes. Ein Tastentraum! Während sich ein Großteil des Publikums wahrscheinlich in den Soundwelten verliert und in schöne Erinnerungen und Fantasien abschweift, dürften andere verzweifelt versuchen, die perfekten Einstellungen zu entschlüsseln.

AIR – Moon Safari (Full Album – Official Audio)

Verloren in Soundwelten

Auch visuell dürfte die Show auf ihre ganz eigene zurückhaltende Art beeindruckend sein. Halluzinogene Projektionen und warmes Licht verstärken den gemütlichen Rauschzustand. Wie das alles Open-Air funktioniert, bleibt mit Spannung abzuwarten. So oder so ist der Sonnenuntergang über den historischen Gemäuern immer ein Highlight.  Wenn dann auch noch diese wunderschönen Flötensounds und Vocoder von „New Star in the Sky“ erklingen, ist ein unvergesslicher Sommermoment programmiert. Hoffentlich spielt das Wetter mit. Wobei, irgendwo tief im Weltall regnet es doch eh nicht, oder?

  • Zitadelle Spandau Am Julisturm 64, Spandau So 21.7., 19 Uhr, ausverkauft, weitere Infos hier

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