Konzertkritik

No Fear! Madonna feiert in Berlin 40 Jahre Popgeschichte und sich selbst

Mode, Sex, Aids und die New Yorker Clubkultur: Mit einer sensationellen Show blickte Madonna am 28. November auf vier Jahrzehnte ihrer Karriere zurück – und spielt in Berlin noch ein zweites Mal. Dass sie auch 2023 die unangefochtene Queen of Pop ist, wurde nach diesem Abend mehr als deutlich.

Madonna badet im glänzenden Körperballett, Foto vom Londoner Konzert am 14. Oktober 2023. In Berlin waren Fotografen nicht zugelassen. Foto: Kevin Mazur/WireImage for Live Nation
Madonna badet im glänzenden Körperballett, Foto vom Londoner Konzert am 14. Oktober 2023. In Berlin waren Fotografen nicht zugelassen. Foto: Kevin Mazur/WireImage for Live Nation

New York in den späten 70er-Jahren: So beginnt das erste Berliner Konzert von Madonnas „Celebration Tour“

Bilder von New York, Wolkenkratzer, Lichter, gelbe Taxis, die U-Bahn. Wir schreiben die späten 1970er-Jahre, dort hat alles begonnen und so beginnt auch das erste Berliner Konzert von Madonnas „Celebration Tour“. Der Anlass sind 40 Jahre im Popgeschäft, und Gründe zu feiern hat sie genug.

„Ich wollte Tänzerin werden, hatte aber keine Lust, magersüchtig und pleite zu sein, also nahm ich eine Gitarre und lernte zu spielen“, sagt Madonna, schnallt sich die E-Gitarre um und brettert jenen Song, mit dem sie erstmals eine Konzertbühne betrat: „Everybody“. Der Rest ist Geschichte. „Der Club, in dem ich den Song damals spielte, hieß CBGB’s“, sagt sie. Es sind heiligen Hallen, eigentlich aber ist es nur eine schäbige Absteige in der damals verruchten Bowery, wo der Punk in den USA laufen lernte und wo Madonna gut und gerne eine zweite Debbie Harry hätte werden können.

Die 1958 in Bay City, Michigan geborene Madonna Louise Ciccone wollte aber mehr. Sie tauchte in der Clubszene ab. Paradiesvögel und Hedonismus, das Spiel der Geschlechter und schrille Kostüme, all das, was auf der Catwalk-Bühne, die tief in den Raum der Mercedes-Benz Arena reichte, im atemberaubendem Tempo aus- und angezogen wurde, die gewaltigen Projektionen, die sich bewegenden Bühnen, die Choreographien, die irre überwältigende, coole Ästhetik – all das lernte sie im Ansatz bereits in jener queeren Party-Subkultur der 1980er.

Madonna hat nicht Popgeschichte geschrieben, sie ist die Manifestation Pop

„Into the Groove“ und „Burning Up“ inszeniert sie im Sexy-Punk-Kostüm, Bob the Drag Queen führt durch die Szenerie, eine Clubtür zum legendären Paradise Garage, dem Berghain jener Tage, wandelt sich symbolisch zur Himmelstür. Ihre Tänzer zucken und schlängeln, Lichtfontänen, Laserstrahlen und Filmprojektionen schmelzen zu einem atemberaubenden Erlebnis. Madonna zelebriert ein Hochamt des Pop, sie hat nicht Popgeschichte geschrieben, sie ist die Manifestation Pop. Keith Harring, Vanilla Ice, Britney Spears oder Michael Jackson, dem sie zum Ende des Konzerts ein liebevolle Hommage widmet, stehen in ihrem Kosmos direkt nebeneinander.

Dann taucht sie in einem futuristischen Kimono auf, das dem schrillen Countertenor und passioniertem Kuchenbäcker des New Yorker Undergrounds Klaus Nomi auch gut gestanden hätte. Ihr alter Hit „Holiday“ erklingt, doch wie alle Songs an dem Abend, kommt er in einem auf den Punkt produzierten Gewand daher. Ein Soundtrack aus dem Playback, das ja, Bands, Musiker, DJs, all das gibt es nicht, die Musik ist einfach da, sie füllt den Raum. Aus Pop, Hip-Hop, Techno, Dance fließen die Versatzstücke zusammen und ordnen sich zu einem Gesamtkunstwerk, einem Flow.

Sie erinnerte an die Aids-Toten der 1980er- und 1990er-Jahre

Sie erinnert an die Aids-Toten der 1980er- und 1990er-Jahre. Schwarz-Weiß-Fotos von Weggefährten aus den Mode-, Kunst-, Party- und Musikszenen, die an der tödlichen Krankheit starben: Der Designer Halston, der Fotograf Robert Mapplethorpe, ihr alter Tanzlehrer Christopher Flynn. Dann schwebt sie in einem Käfig hoch über dem Publikum, zu sakralen Klängen und in eine schwarze Mönchskutte gehüllt. Es fahren Neonlichtkreuze aus dem Boden empor. Der Skandalsong „Like A Prayer“ erinnert an ihre Spiritualität, später am Abend rezitiert sie einen mystischen Text. Das Profane und das Heilige stehen bei Madonna seit jeher gleichberechtigt nebeneinander.

Madonna und ihr Ensemble. Foto: Kevin Mazur/WireImage for Live Nation
Madonna und ihr Ensemble. Foto: Kevin Mazur/WireImage for Live Nation

„Werden in Berlin wirklich so viele Drogen genommen, wie man immer sagt?“

„Werden in Berlin wirklich so viele Drogen genommen, wie man immer sagt?“, fragt sie das Publikum, und welche genau, will sie wissen. „MDMA“, ruft ein Fan. „Das kenne ich, ich brauche es aber nicht“, antwortet sie, „ich bin die Droge selbst“. MDMA-Madonna, der Gleichklang ist da. Zum Ende kommt sie zum Thema Drogen noch einmal zurück und will wissen, wer high ist und wer betrunken, das Publikum jubelt, es jubelt aber auch, wenn sie fragt, wer nüchtern ist.

Die ausverkaufte Arena jubelt eh bei jedem Song, es wird sogar mitgesungen, in Berlin keine Selbstverständlichkeit. Madonna wird innig geliebt, sie ist die Schutzpatronin der Queerness und der Kinder der 80er- und 90er-Jahre. Und sie alle sind gekommen, im Glitzerfummel, im Holzfällerhemd oder in Jeans und Jackett, und niemand scheint sich groß an der fast zweistündigen Verspätung zu stören. Auch nicht an einem Dienstagabend im kalten November. Der Königin verzeiht man eben alles, so viel Ehrerbietung darf sein. Nur junge Menschen sieht man im Saal kaum, das mag an der astronomischen Ticketpreisen liegen, vielleicht braucht die nächste Generation aber auch andere Stars. Doch auch diese tragen alle ein Stück Madonna in sich. Ob Helene Fischer, Beyoncé oder Taylor Swift.

Madonna ist ein Bindeglied zwischen dem alten Glamour aus Marilyn Monroes Zeiten, an die sie in blonder Perücke auch beim Berliner Konzert erinnert, und der Zukunft, die die surrealen KI-generierten Welten visualisieren, die immer wieder den Raum ausfüllen. Sie taucht als Dark Cowgirl auf, dann wieder wird die Bühne in einen Boxring verwandelt. „Living My Life“, „Erotica“ und „Justify My Love“ leiten das Sex-Segment der Show ein. Madonna erhebt sich aus einem Sasha-Waltz-Körperballett, Begehren, Lust, Trieb sind Teil ihrer Geschichte. Ihre Libido sorgte regelmäßig für Schlagzeilen, sie zog sich aus, sie küsste Britney Spears auf der Bühne, sie griff sich zwischen die Beine, sie tat all das, was ihre männlichen Popstarkollegen schon immer taten und sie normalisierte es für die Frauen und wurde so zur Wegbereiterin einer selbstbestimmten Sexualität.

„No Fear“, keine Angst, Madonnas Credo zog sich durch den Abend

„No Fear“, keine Angst – Madonnas Credo zieht sich durch den Abend, wenn sie mit der Pianistin Mercy James in elegant-intimer Atmosphäre in einem Lichtkäfig inmitten des Raumes steht und „Bad Girl“ singt oder wenn sie zu „Vogue“ mit ihrem Ensemble eine amtliche Modeshow ins Programm nimmt und an ihre Zeit mit Jean-Paul Gaultier erinnert und an die Tatsache, dass sie, neben all ihren anderen Inkarnationen, eben auch eine Stilikone des 20. Jahrhunderts ist.

Am Ende des Abends erscheinen riesige Fotos von Stars an den Leinwänden, es ist Madonnas persönliche Heldengalerie. Nina Simone und Angela Davis stehen für revolutionäre Frauen, der Schriftsteller James Baldwin ist dabei ebenso wie David Bowie und die kürzlich verstorbene Sinead O’Connor, sie sogar gleich zweimal. Und dann zieht sie noch Bilanz: Aus Fotos, Schlagzeilen, Videoclips collagiert sich das Bild einer Karriere, Skandale und Erfolge, Abgründe und Höhepunkte kommen zusammen und darüber erklingt ihre Stimme: „Der größte Skandal, den ich verursacht habe, ist die Tatsache, dass ich immer noch da bin.“

Ein Seitenhieb auf ignorante Stimmen, die sie als „lebende Mumie“ oder „Botox-Queen“ bezeichnen und scheinbar nicht mit dem Umstand zurechtkommen, dass eine Frau auch jenseits der 60 ein Popstar sein kann. Sie kann, aber Madonna ist mehr als das, wie eine Kritikerkollegin feststellte, die bei dem Konzert neben mir sitzt und in ihr Smartphone tippt: „She is the Queen of fucking everything“.


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