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Platten im Test

Alben der Woche: Dawn Richard rettet die Zukunft, Danger Dan aus Berlin die Kunstfreiheit

„Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ von Danger Dan ist wohl der Song der Stunde – oder gar der Song der Saison? Bei unseren Platten der Woche ist der Berliner von der bekannten Berliner Hip-Hop-Crew Antilopen Gang jedenfalls mit High-Five-Wertung dabei. Und sonst?

Dawn Richard (einst Mitstreiterin von Puff Daddy) rettet die Zukunft mithilfe der Vergangenheit. Oder war es umgekehrt? Die Norwegerin Girl In Red, 22, ist die Ikone schlechthin für junge Queers. Hält sie auch auf Albumlänge durch? Die tollste Zeile bei unseren Alben der Woche kommt diesmal wohl von Bonnie ‚Prince‘ Billy: „God Can Fuck Herself!“, zu Deutsch: „Die Göttin kann sich mal ficken!“ Ja, das ist der Satz den man fluchen will, angesichts unserer globalen Megabaustelle. Ein Glück, dass es noch Musik gibt. Und das sind unsere Alben der Woche.


Dawn Richard: „Second Line: An Electro Revival“ (Merge Records/Cargo)

Future-R’n’B Wie klingt es wohl, wenn die Zivilisation, wie wir sie kennen, untergegangen ist und nur noch Androidenwesen mit unseren Erinnerungen in ihren mechanischen Körpern über die übriggebliebene Wüstenlandschaft tanzen? Wahrscheinlich ein bisschen so wie Dawn Richards neues Album „Second Line: An Electro Revival“: teils Erinnerung an das goldene Zeitalter von Techno; teils Afrofuturismus; teils karibische Sounds von Dancehall bis Calypso direkt aus dem Meltingpot New Orleans. Vor allem: Richards hypnotische Stimme.

Dawn Richard hat in ihrer Karriere schon so ziemlich alles durch, was man sich vorstellen: vom Castingshow-Ruhm mit Danity Kane in den frühen 2000ern über Songwriting für ganz große Namen als Teil einer Art Supergroup gemeinsam mit P. Diddy bis hin zum radikal eigenständigen Projekt unter dem eigenen Namen und auf dem eigenen Label. Nun beginnt wieder eine neue Zeitrechnung, zumindest ein wenig: „Second Line“ ist ihr Debüt beim ikonischen Indie-Label Merge Records, das sonst eher für Acts wie Neutral Milk Hotel, Destroyer und Arcade Fire bekannt ist. Jetzt also eine afrokreolische Queen, die auf Genregrenzen pfeift. Da passt es nur gut, dass sie auf diesem Album in die Rolle ihres Alter Egos „King Creole“ schlüpft, eine Kämpfer*in gegen Vorurteile und für Selbstermächtigung.

Wie das klingt? Na, schon gleich zu Albumbeginn nach postapokalyptischer Wüstenlandschaft im Androidenboogie, zu dem uns „Nostalgia“ mitnimmt. Oder wie eine New-Orleans-Bounce-Ode an Richards Heimat und ihre Feiertraditionen auf „Bussifame“. Aber genauso klingt es nach schönstem, von präzisen Elektrokompositionen begleitetem R’n’B wie auf „The Potter“. Mit „Second Line“ möchte Richards Stereotype aufbrechen, wie Musik einer Schwarzen Frau aus Nola zu klingen hat. Und zeigt dabei, wie gut Nostalgie und Futurismus zusammenpassen. (Aida Baghernejad)


Danger Dan: „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ (Antilopen Geldwäsche/Warner)

Agitprop-Piano Die Idee ist natürlich bestechend: Danger Dan, ein Drittel der Autonomen HipHop-Crew Antilopen Gang, setzt sich ans Klavier und überführt deren linksalternative bis radikale Inhalte in ein Balladen-Setting. Während er nun also scheinbar harmlos daherklimpert, kriegen die Neue Rechte, die Hipster bei ihren After-Hour-Partys und ihrer Selbstausbeutung, Sextouristen, Antisemiten und die desinteressierte Mehrheit ihr Fett weg. Kurz: feinster Agitprop am Piano. Konstantin Wecker bekommt ernsthafte Konkurrenz. (Thomas Winlker)


Girl In Red: „If I Could Make It All Go Quiet“ (World In Red/AWAL)

Queer-Pop Angesichts der exorbitanten Klickzahlen der 22-jährigen Norwegerin kann der Musikindustrie nur schwindelig werden. Jetzt beweist die junge Queer-Ikone, dass sie nicht „nur“ CSD-Hits, sondern auch Langstrecke aka Debütalbum auf eigenem Label kann. Mit erweiterter Klangpalette: Zu den verhuschten Signaturgitarrensounds gesellen sich Rap, Bombast-Synthies, extratiefe Billie-Eilish-Bässe. Sie singt von Selbstzweifeln und (queerer) Selbstliebe wie keine Zweite zurzeit. (Stefan Hochgesand)


Matt Sweeney & Bonnie ‚Prince‘ Billy: „Superwolves“ (Domino/GoodToGo)

Folk Was für eine Partnerschaft: Matt Sweeney – als Gitarrist mit Johnny Cash über Adele bis Tinariwen hat er alles erlebt – baut bei diesem nach 16 Jahren zweiten Superwolf-Album das Gebäude für die Träumereien von Will Oldham alias Bonnie ‚Prince‘ Billy. „Good To My Girls“ ist dabei Lobgesang, aber auch Geständnis des Scheiterns von Familienleben, „Hall Of Death“ ist afrikanisch angehaucht, „God Is Waiting“ ist Konfrontation mit der Vergänglichkeit („God can fuck herself“), wie überhaupt die kritischen Lebenssäfte hier den Motor bilden. Implosiv wie explosiv,  getrennt entstanden, verschmolzen auf hohem Niveau. (Christine Heise)


Marianne Faithfull & Warren Ellis: „She Walks in Beauty“ (BMG Rights Management/Warner)

Poesie Eigentlich ist es makaber. Marianne Faithfull in letzter Sekunde dem mit Covid-19 ausgerüsteten Sensenmann von der Schippe, während sie gerade Gedichte vertonte, die allzu oft vom Tod erzählen. Die schmerzhaft schöne Poesie von Percy Bysshe Shelley, John Keats oder Lord Byron unterlegt nun Nick-Cave-Mitstreiter Warren Ellis mit dunkel dräuenden Ambient-Klängen, während Faithfulls Stimme endlich tatsächlich so alt ist, wie sie immer schon klang, aber leider halt nicht mehr zum Singen taugt. (Thomas Winkler)


Ya Tseen: „Indian Yard“ (Sub Pop/Cargo)

Indigener Pop Dieses Album hat vor allem eine Botschaft: „Ihr und eure Schubladen könnt mich mal!“ Denn hinter Ya Tseen versteckt sich der international gefragte Künstler Nicholas Galanin, der in seinen genreübergreifenden Werken seine indigene Herkunft und das Leben der Tlingit und Aleuten in Alaska verarbeitet. Das Debütalbum seines Trios bedient aber kein bisschen Ethno- oder Weltmusik-Romantik, sondern popt, soult und triphopt sich durch eine fast schon unverschämt eingängige Pop-Algebra, die jederzeit und überall anschlussfähig sein will. (Thomas Winkler)


Scorpion Kings X Tresor: „Rumble In The Jungle“ (Platoon Music)

Amapiano Der Titel ist eine Finte. Denn diese LP bietet keinen Trip durch den Urwald, sondern ein Gipfeltreffen: Die süd­afrikanischen Top-Produzenten DJ Maphorisa und Kabza De Small tun sich mit dem kongolesischen Afro-Pop-Star Tresor zusammen. Klingt nach Kalkül, macht auf Platte aber Spaß. Gekonnt arrangierte Rhythmen, pluckernde Amapiano-Bässe und pathetische Vocals: Drei Hits sind garantiert. Der Rest? Perfekter Soundtrack für laue Sommernächte. (Kristoffer Cornils)


Damon Locks / Black Monument Ensemble: „Now“ (International Anthem)

Polit-Jazz Wie kann, wie muss Jazz 2021 klingen? Unter den Eindrücken einer mörderischen Pandemie und von Black-Lives-Matter-Protesten, die rassistische Herrschaftsstrukturen in Frage stellen? Damon Locks und das Chicagoer Künstler:innenkollektiv Black Monument Ensemble loten den Möglichkeitsraum aus: an Afrobeat und Funk geschulte Rhythmen, Steve-Reich-eske Soundcollagen, aktivistische Texte und gospelhafte Chöre. Alles in einem Take aufgenommen, unmittelbar, dringlich und zum Dahinschmelzen schön. (Aida Baghernejad)


Mehr Musik

Wer fürs lange Maifeiertagswochenende eine Extradosis Musik braucht (die bitteschön nicht aus der Dose kommen soll!): Wir haben noch mehr für euch, denn International Music träumen von Enten und Dinosaur Jr. machen wunderschönen Krach. In der Woche davor sahen wir London Grammar auf der Überholspur und haben das neue Paul-McCartney-Coveralbum gehört.

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