Ausstellungen

12. Berlin Biennale: Kunst und die Krisen dieser Welt

Mehr als 70 Künstler:innen Kunst zeigen an sechs Orten Berlins Kunst zu den Krisen dieser Welt. Und versuchen, Antworten auf die Frage zu geben, wie wir aus ihnen herausfinden können. Ein Rundgang, der Mut macht.

Haupthalle in den Kunst-Werken mit „Women Now“ (2018) von Alex Prager (große Fotografie Mitte links), „Grand Tableau Antifasciste Collectif“ (1960), (Mitte rechts) sowie Dokumenten zur Publikationsgeschichte politisch engagierter Künstler:innen (vorn). Foto: tip

Die 12. Berlin Biennale: 77 Künstler:innen und Gruppen aus fünf Erdteilen

Um es gleich zu sagen: Die 12. Berlin Biennale ist so freundlich zum Publikum wie lange keine mehr. Einladend wirkt sie – trotz der großen Zahl teilnehmender Künstler:innen und Kunstgruppen, 77 aus fünf Erdteilen, und trotz der sechs Ausstellungsorte, die Kurator Kader Attia und seine fünf Beraterinnen aus vier Kontinenten für diese Biennale mit Kunst bestückt haben. Die Orte sind gut gewählt. Mit S- und U-Bahn oder 9-Euro-Ticket lassen sich die Hallen von der Moabiter Akademie der Künste über die Kunst-Werke (KW) in Mitte bis zur ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg rasch ansteuern, letztere bei freiem Eintritt.

An allen sechs Orten haben Attia und sein Team die grob thematisch sortierten Arbeiten luftig platziert. Kaum etwas kommt sich in die Quere, die Arbeiten mit Klang sind sorgfältig aufeinander abgestimmt. Filme, Gemälde, Skulpturen, Fotos, Zeichnungen, historische Dokumente und Installationen ergeben einen abwechslungsreichen Parcours, der weder überfordert noch überwältigt. Ein übersichtlicher Faltplan sorgt für Orientierung.

Sogar der Katalog ist handlich, ist ein Kurzführer, keine Aufsatz-Sammlung zur Rechtfertigung eines Konzepts. Kader Attias Ideen haben das nicht nötig. Sie leiten sich ab aus rund 200 Jahren Theorie und Praxis von Menschenrechtsbewegungen, Unabhängigkeitserklärungen und Emanzipationskämpfen, von der Entlassung Schwarzer aus der Sklaverei bis zur Verteidigung angestammter Lebensmittelpunkte indigener Bevölkerungsgruppen im Regenwald.

Attia geht es darum, unter dem Stichwort „Reparatur“ historische und gegenwärtige Verletzungen und Verwerfungen zu thematisieren, verschwiegenes, verdecktes oder vergessenes Unrecht sichtbar zu machen. So soll deutlich werden, was sich wie kitten, flicken, ersetzen, retten oder vielleicht gut machen ließe. Nur ungeschehen machen lässt sich Unrecht nicht. Attia hat für seine Biennale ein pragmatisches, ein lebensnahes Konzept gewählt. Dessen Umsetzung erzeugt allerdings einige neue blinde Flecken.   


Kunst-Werke: Bilder der Widerstandsfähigkeit

Binta Diaw: „DIÀ SPORA“, Installationsansicht KW, 12. Berlin Biennale 2022, Foto: tip

Im zentralen Ausstellungsort, den Kunst-Werken (KW), geht es um Lebenswillen und Resilienz, ein Thema, das sich von hier aus als roter Faden durch die weiteren Orte dieser Biennale schlängelt. Trotz allem, was Menschen anderen Menschen, anderen Lebewesen antun, welchen Schaden sie Landschaften zufügen, scheint der Wunsch, nicht nur zu überleben, sondern besser zu leben, nicht zu brechen zu sein.

In den KW legt davon vor allem Kunst Zeugnis ab, die die Aufmerksamkeit auf das Handeln von Frauen lenkt und das von Menschen, die nicht dem Bild eines ganzen Kerls entsprechen. Der Rundgang führt von Nil Yalters Installation zu Überlebensstrategien in dem Pariser Frauengefängnis La Petite Roquette (gemeinsam mit Judy Blum und Nicole Croiset) bis zu Binta Diaws Bodeninstallation aus geflochtenem schwarzen Kunsthaar und jungen Pflanzen. „DIA SPORA“, so der Titel, erinnert an Landkarten, die Sklavinnen in Nordamerika aus ihrem Haar geflochten haben sollen, um Fliehenden den Weg aus den Plantagen zu weisen.

Zwischen diesen beiden Eckpunkten: Jonathan, ein junger Rom, der im Knast einen liebevollen Brief an Freund:innen und Familie diktiert, gefilmt von Mathieu Pernot. Etinosa Yvonnes kunstvoll verfremdete Fotoporträts von Mädchen, die von Mitgliedern der Terrorgruppe Boko Haram entführt und misshandelt wurden. Sie kamen frei und gaben der Künstlerin zu Protokoll, wie sie überlebten, wie sie weitermachen und welchen Beruf sie ergreifen wollen. Und schließlich androgyne Männer mit freiem Oberkörper, die vor dem türkisen Mauerwerk eines Tempels stricken, mit mauvefarbener Wolle. Das ist Asim Abdulaziz `so hinreißend schöner wie bitter beißender Kommentar aus dem kriegsgeschüttelten Jemen auf die merkwürdige Sitte abendländischer Frauen, im Krieg für Soldaten an der Front Wollsocken zu fertigen. 

  • Kunst-Werke (KW) Auguststr. 69, Mitte, Mi–Mo 11–19 Uhr

Akademie der Künste, Hanseatenweg: ein sprechendes Nashorn

Sammi Baloji: „…And Those North Sea Waves Whispering Sunken Stories II“, Installationsansicht 12. Berlin Biennale, 2022, Foto: dotgain.info

Der spätmoderne Bau im Tiergarten beherbergt das ökologische Kapitel der Biennale. Hier finden sich tropische Pflanzen zart gezeichnet (Temitayo Ogunbiyi), wachsen echte Pflanzen unter Glas (Sammy Baloji, Abb.), hängen Sven Johnes Fotomontagen von Heilkräutern, die entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, auf dem sogenannten Grünen Band wachsen. Auf den Narben, die der Kalte Krieg hinterlassen hat, wächst buchstäblich neues Leben. Doch dass der Planet gefährlich aus der Balance ist, benennt dieses Kapitel klipp und klar.

In einer zweiteiligen Videoprojektion lässt Tuân Andrew Nguyên ein Java-Nashorn und eine Schildkröte einen Aufstand der Tiere gegen ihr Aussterben erörtern. Susan Schupplis kunstvolle Dokumentarfilme berichten unter anderem vom Widerstand der First Nations gegen Pipelines durch ihre Gebiete.

  • Akademie der Künste Hanseatenweg 10, Tiergarten, Mi–Mo 11–19 Uhr

Dekoloniale Erinnerungskultur: rote Schrift

 
Poster-Workshop, Teil von Nil Yalters Plakatserie „Exile Is a Hard Job (1983/2022)“ mit Nagham Hammoush und Rüzgâr Buşki
Foto: Silke Briel

Der temporäre Projektraum der Biennale befindet sich nahe jener Stelle in der Wilhelmstraße, an der das Reichskanzlerpalais stand, die Stätte der „Berliner Konferenz“, auf der Vertreter europäischer Kolonialmächte im Winter 1884/85 die Aufteilung des afrikanischen Kontinents beschlossen. Von dem neoklassizistischen Gebäude ist nichts mehr zu sehen, dafür sorgten Bomben des Zweiten Weltkriegs und die sozialistische Stadtplanung. Nun erinnert an das historische Haus ein Ladengeschäft, das die Biennale für Veranstaltungen gemietet hat.

Die Fenster sind verklebt: mit einer Folge der Plakate aus Nil Yalters Arbeit „Exile Is a Hard Job“, die auch in den KW zu sehen sind: mit Fotos von eingewanderten Familien aus der Türkei, aufgenommen in den 60er-Jahrenen in Paris. Die Plakate in der Wilhelmstraße  wurden, Ergebnis eines Workshops, mit großen roten Schriftzügen übermalt. Sie geben den Titel der Arbeit unter anderem in Arabisch und Englisch wieder.

  • Dekoloniale Erinnerungskultur Wilhelmstr. 92, Mitte, 0–24 Uhr (Fenster), kein Eintritt

Akademie der Künste, Pariser Platz: Landkarten von Ideen

Dokumentationsabteilung: anonyme Christusdarstellungen, Akademie der Künste, Pariser Platz

Im Neubau der Akademie am Pariser Platz führt der Rundgang in die kolonial geprägte Kunstgeschichte. Das Themenspektrum reicht von Sammeln und Bezahlen im Allgemeinen (Khandakar Ohida und Taloi Halvini) über geraubte Kunstgegenstände im Besonderen (Emil Nolde und Karl Schmidt-Rotluff) und die Rückgabe geraubter menschlicher Schädel und Gebeine im Speziellen (Deneth Piumakshi Veda Arachchige). Höhepunkt sind die großen Landkarten, die Moses März aus Berlin im ersten Saal von der Decke hängen lässt. Mindmaps sind es, gezeichnet und geklebt, voller Gedanken zu Schwarzer Geschichte, Emanzipationsbewegungen und kolonialen Eigenheiten von Städten, darunter Berlin.

Trotz aller poetischen Überlagerungen und Assoziationen geben sie eine Übersicht über Ereignisse und Geistesströmungen. Und vielleicht kommen Künstler und Kurator:innenteam noch auf die Idee, diese Zeichnungen tiefer zu hängen, damit auch etwas kleiner gewachsene Besucher:innen sie vollständig lesen können.

  • Akademie der Künste Pariser Platz 4, Mitte, Mi–Mo 11–19 Uhr

Ehemalige Stasi-Zentrale: Überwachung und Propaganda

12. Berlin Biennale auf dem Campus für Demokratie, ehem. Ministerium für Staatssicherheit. Foto: tip

Der perfekte Ausstellungsort dieser Biennale ist ein Komplex an der Lichtenberger Normannenstraße, die ehemalige Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit. Hier planten bis zu 7.000 Mitarbeiter:innen Überwachungen und verwahrten die Ergebnisse in Aktenschränken. Im Januar 1990 stürmten Demonstrant:innen das Gebäude. Perfekt für die Biennale aus vier Gründen.

Erstens, weil die Biennale eine gute Gelegenheit bietet, nachzusehen, was aus der Schreckenszentrale geworden ist, ein Ort für politische Bildung mit Museum, Freiluft-Ausstellung, Infozentrum, Buchladen und Tagungsräumen.

Zweitens: Weil im Info-Zentrum Berliner Stadtpläne ausliegen, die weitere Ort der friedlichen Revolution von 1989 verzeichnen. So kann jede:r von hier aus zu seiner und ihrer eigenen historische Stadterkundung aufbrechen.

Drittens, weil die ständige Dokumentarausstellung im Hof einen Überblick über die letzten Monate der DDR gibt. Sie macht Hoffnung, dass kein Überwachungsstaat von Dauer sein muss.

Dokumentarausstellung vor dem Stasi-Museum zu der Revolution von 1989, Innenhof ehem. Ministerium für Staatssicherheit. Foto: tip

Und viertens, selbstverständlich, weil die Kunst der Biennale herausragend an den Ort passt. Hier geht es um Überwachung und Propaganda.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Der in Berlin lebende Künstler Omer Fast veranschaulicht auf drei kleinen Displays mittels Aussagen ehemaliger Polizisten, wie in Großbritannien erfolgreiche kriminalpolizeiliche Ermittlungen in der Bevölkerung zur Akzeptanz der umfassender Kameraüberwachung führte.

Omer Fast hat die Arbeit in einem Garderobenschrank platziert. Die Präsentation könnte lapidar genannt werden, wäre die Choreografie von Bilder und Ton nicht so stimmig – und hinge in dem Schrank nicht Kinderkleidung. Denn die Ermittlungen fanden in zwei Fällen von Morden an Kindern statt.

  • Stasi-Zentrale Campus für Demokratie, Ruschestr. 103, Haus 7 + 22, Lichtenberg, Mi–Mo 11–18 Uhr

Hamburger Bahnhof: Lachen und Weinen

Noel W Anderson: „Hood Dreams I“, 2019–21, aufgerauter Baumwellstoff, Wandteppich
Calida Garcia Rawles: „High Tide, Heavy Armor“, 2021, Acryl auf Leinwand. Foto: Laura Fiorio

Und plötzlich herrscht Leben in der Bude. Aus den Rieck-Hallen, den lang gezogenen Lagerhallen am Museum Hamburger Bahnhof, ist die Kunst des Sammlers Friedrich Christian Flick abgezogen, diese oft materialintensiven Installationen, die in den Hallen wie zu Grabe getragen wirkten. Jetzt ist die Biennale zu Gast, und nun wird hier in Foto, Film, Installationen,  auf Bildschirmen, Leinwand und Papier musiziert und getanzt, gesprochen und gestritten, gelacht und getrauert, gewählt und abgewählt, geforscht und, ja, auch, gefoltert und getötet.

Umstrittene Arbeiten sind dabei wie die von Jean-Jacques Lebel. Der Pariser Künstler hat in einem Irrgarten vergrößerte Internetbilder von Tätern und Opfern der Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib aufgehängt. Vor seinem Kabinett hängt eine Trigger-Warnung.

Wer sich Lebels Labyrinth der Gewalt zumutet, findet vielleicht Verbindungen zu Layth Kareems kleinem Film. Der Künstler lud Bewohner:innen von Bagdad in ein Schrottauto ein, um in der vorübergehenden Privatheit der Wagenruine darüber zu sprechen, wie müde sie der Gewalt in ihrem Land sind – um zu schimpfen, zu fluchen und zu weinen. 

Am Ende der Ausstellung aber wartet „Les Indes Galantes“ (2019). Clément Cogitore filmte Schwarze Tänzer:innen auf der Bühne einer Pariser Oper. Zu Opernmusik Jean-Philippe-Rameau, rhythmisch stärker akzentuiert als im barocken Original, entlehnen sie dem Street Dance Schritte und Bewegungen und choreografieren einen kraftvollen Tanz der Emanzipation. Vielleicht ein bisschen pathetisch, aber am Ende der Saalflucht ein erhebender Tusch.

  • Hamburger Bahnhof Invalidenstr. 50–51, Tiergarten, Di–Fr 10–18, Do 10–20, Sa–So 11–18 Uhr

Alles in allem: Stoff für mehr

 
Myriam El Haïk: „Please Patterns, 2022, Installation und Performance für Zeichnungen, Teppiche und Klavier,
Installationsansicht Kunst-Werke, 2022. Foto: Silke Briel

Groß ist die Welt, die Kader Attia und sein Team vor den Besucher:innen ausbreiten. Doch keine Biennale kann den Globus komplett erfassen. Immer dann, wenn es auf dieser Biennale um Ökologie, Klima und das Wissen Indigener geht, fällt der geringe Anteil von Kunst aus und zu Australien und dem Pazifik schmerzlich auf.

Der Krieg gegen die Ukraine wiederum lässt deutlich erkennen, dass diese Biennale wenig zur (post-) kommunistischen Welt zwischen Prag und Ulan Bator, Tiflis und Kamtschatka zu sagen weiß. Die Wahl des ehemaligen Stasi-Zentrale zum Ausstellungsort wiegt diese Leerstelle nicht auf. Denn die ständigen Ausstellungen im Stasi-Museum erinnern daran, dass die ökologische Schadenbilanz kommunistischer Staaten groß war, sonst hätte die Opposition in der DDR ihren Ursprung nicht in der Umweltbewegung gehabt. Und sie gemahnen daran, dass (post-)kommunistische Staaten aktuell neokoloniale Politik verfolgen.

So hat diese Biennale, die das Unsichtbare sichtbar machen will, blinde Flecken. Keine Biennale kann alles leisten. Und so bleiben genügend offene Fragen für die Gespräche und Konferenzen, die bis September stattfinden – und für den Kurator, die Kuratorin, die 13. Ausgabe in zwei Jahren leiten wird, eine Steilvorlage.

12. Berlin Biennale: bis 18.9., Tickets für alles: 18/ 9 €, bis 18 J. +  1.So/ Monat frei, online buchbar hier

Veranstaltungen

  • Konferenz Imperiale Ökologien: 22-.23.6., Hamburger Bahnhof
  • Gespräch Afrofeminismen. Brücken schlagen. 24.6., EOTO, Togostr. 76, Wedding
  • Konferenz Wessen Universelles? 2.-3.7., Akademie der Künste, Hanseatenweg
  • Workshop und Performance Schutz und Zufluchtsorte schaffen. 12.-13.8., Projektraum Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt
  • Präsentation Antlitz wahren, 17.-19.8., Ort wird angekündigt
  • Konferenz Bandung des Nordens, 3.-4.9., Akademie der Künste, Pariser Platz
  • Präsentation „Objekte“ (wieder) verbinden, 9.9., Akademie der Künste, Pariser Platz
  • Konferenz Von der Restitution zur Reparatur, 10.-11.9., Akademie der Künste, Hanseatenweg
  • Konferenz Die digitale Kluft, Stasi-Zentrale, Campus für Demokratie

Programm und Anmeldung hier 


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