Der Schriftsteller Hubert Fichte nahm viel von dem vorweg, was heute Ethnologie ausmacht – auch deren Krise. Das HKW lädt jetzt zur Reflektion über diesen fast vergessenen Autor und den kolonialen Blick in der Kunst ein
Der Schriftsteller, Journalist und – in seiner eigenen Weise – Wissenschaftler Hubert Fichte ist eng verbunden mit den Disziplinen der Queer-Studies und Postcolonial-Studies, die heute in aller Munde sind, zu Lebzeiten dieses Pioniers aber keinen Namen hatten, sondern irgendwo am Rande der Disziplinen der Soziologie und Ethnologie eine Art Schattendasein führten. Hubert Fichte selber, der von den 60ern bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts ein bundesweit bekannter und viel gelesener Journalist und Autor war, und dessen Werk nicht geringen Einfluss auf nachkommende Generationen von Schriftstellern hatte, ist heute doch ein wenig in Vergessenheit geraten. Fichte hatte sich die Grundzüge, Methoden und Ergebnisse der Ethnologie ebenso wie eine ganze Reihe von Fremdsprachen von Altgriechisch bis hin zum senegalesischen Wolof autodidaktisch aneignet. Zentral für sein schriftstellerisches Schaffen und seine lebenslange und intensive Auseinandersetzung mit der Ethnologie war der Ansatz einer „Ästhetik des Unreinen“.
Diesem Denkkosmos spürt die aktuelle Ausstellung „Liebe und Ethnologie – Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW) nach und setzt ihn einer diskursiven Kritik aus. Kuratiert wurde die multimediale Schau von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke: „Als Deutscher halbjüdischer Herkunft, Homosexueller und uneheliches Kind war Fichte ein klarer Außenseiter in der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik. Hieraus leitet sich – auch in klarer Abgrenzung zum Faschismus – mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ablehnung jeglicher Reinheitsfantasien bei Fichte ab. Dieser Tendenz setzt er in Anknüpfung an Ideen und Theorien der Vorkriegsavantgarde die Vermischung entgegen“, erläutert Franke. Anders als die deskriptive Herangehensweise der klassischen Ethnologie lieferte Fichte sich erlebend aus, lernte die Sprachen und stellt der Deskription seine Form der Poetik und die Unmittelbarkeit des Erlebens gegenüber. Natürlich, darauf weisen beide Kuratoren hin, entkommt auch Fichte so nicht der grundlegenden Problematik des kolonialen Blicks. Er bleibt am Ende trotz aller Annäherung eben doch das koloniale Gegenüber, ein „weißer Man“. Allerdings nahm Fichte einige der heute so präsenten Kritiklinien an – und in der Ethnologie in seiner eigenen Ablehnung der klassisch-deskriptiven Herangehensweise der Disziplin vorweg.
Trotz der zentralen Bedeutung von Fichte und seinem Werk handelt es sich bei „Liebe und Ethnologie“ keineswegs um eine Ausstellung nur über Fichte. „Das Projekt begann vor drei Jahren mit der Übersetzung ausgewählter Texte aus Fichtes ursprünglich auf 19 Bände angelegter, unvollendet gebliebener Geschichte der Empfindlichkeit. Diese Übersetzungen existierten bis dahin nicht und machten eine Auseinandersetzung mit seinen Ideen und Fragestellungen in den von ihm bereisten und auf seine sehr eigene Art erforschten Ländern, Gesellschaften und Kulturen unmöglich“, so Diedrich Diederichsen.
Auf die Übersetzungen folgten insgesamt sechs Ausstellungen unter anderem in Portugal, Brasilien, Dakar und New York. Für diese wurden jeweils Künstler eingeladen, sich mit Fichtes Schriften künstlerisch auseinanderzusetzen. Die so entstandenen, selbstverständlich ganz unterschiedlichen Arbeiten beziehen sich dabei mal mehr und mal weniger auf die Schriften Fichtes und werden in einer Auswahl im Haus der Kulturen der Welt neben einer Vielzahl an kontextuellen Dokumenten von und zu Fichte beziehungsweise dessen Fragestellungen und Forschungsinteressen ausgestellt.
Dabei sind unter anderem nativ gezeichnete Murals von Pap Samb alias Papisto Boy aus dem Senegal der 1960er und 70er Jahre. Zu sehen sind aber auch aktuelle Videoarbeiten, zum Beispiel „The Labyrinth“ der Konzeptkünstlerin Tiona Nekkia McClodden (2017), die darin Cruising-Footage aus den 1970er Jahren verarbeitet hat, oder „Rome, 1st and 2nd November 1975“ von Lili Reynaud-Dewar (2019), in der 20 Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft Pierre Paolo Passolini an dem letzten Tag und der Nacht vor seinem Tod spielen. Von Leonore Mau stammen die ungeschönten New-York-Bilderserien aus den noch ungentrifizierten Stadtteilen Harlem und Brooklyn, ebenfalls in den 1970er Jahren entstanden.
Zusammengenommen entsteht ein essayistischer Parcours aus Videos, Skulpturen, Fotografien, Malerei, Büchern, Zeitschriften, Materialsammlungen und Arbeits-Skizzen mit Fichte und seinem Werk, der zu einer diskursiven Auseinandersetzung mit der „Ästhetik des Unreinen“, dem Fremden, der Ethnologie als einer Wissenschaft in der Krise und ganz allgemein dem kolonialen und postkolonialen Blick mit all seinen teils unlösbar erscheinenden Verstrickungen einlädt.
Haus der Kulturen der Welt Liebe und Ethnologie – Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten, Mi–Mo 12–19, Do bis 22 Uhr, 7/ erm. 5 €, Mo Eintritt frei, bis 6.1.