Nachdem 1989 die Mauer gefallen war, entbrannte im organisierten Verbrechen Berlins ein blutiger Kampf. Es ging um die Dominanz in illegalen Geschäftszweigen. Ob im Feld der Schutzgelderpressungen, des Handels mit illegalen Zigaretten oder bei der Hehlerei. Der Grund: Die Karten wurden in dieser anarchischen Zeit neu gemischt. Mehr als 50 Tote hat es gegeben.
Mord im Jahr 1990: Düstere Phase der Berliner Kriminalgeschichte
Das kriminelle Gewerbe konnte in der Wendezeit ein tödliches Abenteuer sein. Einige seiner Akteure enden als Wasserleichen in Seen im Umland. Etwa Alexander K., ein Krämer auf dem Schwarzmarkt: Am 2. Juni 1990 wird sein lebloser Körper im Jungfernsee gefunden, nahe der Glienicker Brücke, wo zu Mauerzeiten noch ein innerdeutscher Grenzübergang war.
Früher einmal war K., ein Mann mit russischen Wurzeln, Rotarmist in der DDR gewesen; im politischen Chaos nach dem Zusammenbruch des Arbeiter- und Bauernstaats hehlte er Waren. Seine Handelsgüter: Ikonen, eingeschmuggelt aus der UdSSR. Also Heiligenbilder, wie sie sonst auch orthodoxe Kirchen schmücken. Zugleich Exportschlager, vermarktet mittels eines internationalen Netzwerks. K., der Glücksritter, hatte dabei wohl Geschäfte auf eigene Rechnung machen wollen. Ein Bruch, der womöglich Rächer auf den Plan gerufen hatte. An den Körper befestigte Steine zogen ihn in die Tiefe.
Der Mord im Jahr 1990, wenige Monate vor der Wiedervereinigung, steht für eine düstere Phase in der Berliner Kriminalgeschichte.
Als der Ostblock zusammenbrach und zum Stoff für Historiker wurde, drängten massenweise schwere Jungs in die Halbwelt – darunter ortsansässige Berliner, aber auch Menschen aus Gegenden rund um den Ural oder aus Vietnam, dem einstigen Bruderstaat der SED-Diktatur. Sie witterten Profite in der Anarchie nach dem Epochenbruch von 89/90.
Organisiertes Verbrechen: Rivalitäten in Marzahn, aber auch in Grunewald
Diese Leute machten Geschäfte mit Schutzgelderpressung und unverzollten Zigaretten, auch mit Hehlerei und Drogen. Im Rotlichtmilieu wollten die Neulinge die alten Unterweltkönige der City West von ihren Thronen stürzen. All die Gruppierungen lieferten sich brutale Revierkämpfe, im bescheidenen Marzahn wie im gehobenen Grunewald. In den 1990er-Jahren dürften dabei in Berlin und seiner Peripherie mehr als 50 Menschen ums Leben gekommen sein.
Die blutigen Konflikte um illegale Profite sind auch ein Lehrstück darüber, wie Menschen mit Vergangenheit in kommunistischen Gesellschaftden vom großen Kuchen des Kapitalismus nagen wollten. Leute, die in der „freien Marktwirtschaft der Kriminalitätsbegehung“ mitmischen wollten, wie Bernd Finger durchdekliniert, früher einmal Chefermittler der Berliner Polizei in der Organisierten Kriminalität. Eastern Promises in der wiedervereinten Stadt. Die Fehden waren klandestine Angelegenheiten: Sie vollzogen sich meist innerhalb der vertrauten Strukturen der jeweiligen Communitys.
Es sei die ideale Zeit gewesen, um sich im organisierten Verbrechen zu etablieren, erzählt Finger, der Zeitzeuge, heute Anfang 70. Er war damals politischer Aufbauhelfer in der ehemaligen DDR-Hauptstadt, fungierte beispielsweise 1990 und 1991 als Abteilungsleiter für Öffentliche Sicherheit und Ordnung im Magistrat, der damaligen Stadtregierung von Ost-Berlin.
Zollgrenzen habe es in dieser Transformationsphase nur formal gegeben, berichtet er. Die Sicherheitsorgane aus der alten BRD und dem gestürzten Honecker-Staat wuchsen nur langsam zusammen. Es habe keine geübte Zusammenarbeit gegeben.
In die Schlagzeilen gerieten die Banden der „Russen-Mafia“ – ein Begriff, der heute nicht mehr korrekt wäre. Unter den Delinquenten dieser Provenienz waren Leute aus Armee- und Geheimdienstkreisen, aber auch frühere Häftlinge, die in den Zuchthäusern des sowjetischen Strafvollzugs eingebuchtet waren. Lebenswege mit Gewalterfahrungen.
Weitere Leichen im „Ophelia“-Stil kamen am 2. Juli 1991 an die Oberfläche: Im Töpchiner Obersee entdeckten Angler die sterblichen Überreste von Jurij B., 26, und Ruslan B., 22. Zwei Jünglinge, die an der Truppen-Niederlassung des sowjetischen Militärs im benachbarten Wünsdorf tätig waren. Die Mörder hatten die polizeibekannten Opfer aneinandergefesselt und mit einem Betonpfahl beschwert. „Zahlreiche Stiche in den Lungen, durchschnittene Kehlen, eingeschlagene Schädel“, bemerkte ein Arzt.
Die beiden hatten einen windigen Handel mit Ladas betrieben – und waren dabei mit einer anderen Clique von Auto-Dealern in Clinch geraten. Es zirkulierte auch das Gerücht, dass einer der armen Teufel ein KGB-Spitzel gewesen sein könnte. Die Beweggründe hinter dem Doppelmord: ein Mysterium.
Organisiertes Verbrechen: Shootout im „Da Gianni“ an der Fasanenstraße
Knapp drei Wochen nach dem grausigen Fund vor der Stadtgrenze rückt das Gewaltpotenzial von Berufsverbrechern aus dem kollabierten Sowjet-Imperium ins Bewusstsein des Bürgertums. Tatort ist das Restaurant „Da Gianni“ an der Fasanenstraße 40 in Wilmersdorf. Statt Teller mit knusprigen Pizzen sind dort Patronenhülsen die Gedecke. An einem Montagabend gegen 21.30 Uhr eröffnet Jegor B., 23, das Feuer auf Gäste. Der Anschlag richtete sich gegen Kontrahenten mit georgischen Profilen, die dort eingekehrt waren. Mit seiner Pistole verletzt B. fünf Menschen. Aus dem überwältigten Pulk heraus schießt der Bandenchef der gegnerischen Gruppierung zurück, ein Mann namens Tengis M. Er trifft den Angreifer, der nach einem Aufenthalt in der Intensivstation überleben wird.
Das Landgericht verurteilt diesen Jegor B., einen Asylbewerber, zu sieben Jahren und drei Monaten Gefängnis. Auf der Anklagebank schweigt der mutmaßliche Auftragskiller über Hintergründe. Tengis M. ist unterdessen in die Benelux-Region geflohen. Im April 1994 wird seine Leiche in einem Amsterdamer Kanal geborgen. Es hatte wohl ein anderer Brutalo den angefangenen Auftrag vollendet.
Nach der Schießerei im „Da Gianni“ an der Fasanenstraße führt eine Spur ins Umfeld von Schutzgelderpressern, die Zahlungen von Exil-Russen mit eigenen Geschäften einforderten. Dabei sind offenbar rivalisierende Seilschaften in Zwist geraten.
Der Shootout in Charlottengrad, wo Import- und Exportläden ins Visier von Geldeintreibern geraten waren, bildete nur einen Bruchstein im Sittengemälde. Das Polizeipräsidium gründete im September 1991 eine Sonderkommissariat für Verbrechen von GUS-Bürgern. „GUS“, ein Kürzel mit 90er-Jahre-Patina: So nannte man damals bekanntermaßen die Staaten der zerfallenen UdSSR.
Trotzdem setzte sich die Blutspur fort. Allein zwischen 1993 und 1996 sind mehr als ein Dutzend russischstämmige Menschen in der Spree-Metropole von Auftragskillern gemeuchelt worden. Noch einmal Bernd Finger, der nah dran war: „Der Stärkere gewinnt, das war damals die Losung.“
Verbrechen im Jahr 1994: Mehr Tötungsdelikte als in London
Viele Verbrechen hat die Exekutive nicht aufklären können – auch weil den deutschstämmigen Beamten aus den Polizeidirektionen die Zielgruppen ihrer Ermittlungen oftmals fremd blieben und sich die Parallelwelt kaum mit V-Leuten infiltrieren ließ.
Überhaupt war das wiedervereinigte Berlin damals von schwerer Gewalt gezeichnet. Ein paar statistische Größen aus dem Jahr 1994: Die Rate von Menschen, die eines gewaltsamen Todes starben, war in diesem Jahr höher als in Paris oder London. 245 Tötungsdelikte wurden verzeichnet. Im Jahr 2022 gab es 114 Fälle von Mord und Totschlag, nur so als Vergleich.
Der postsozialistische Ostteil der Stadt war Kulisse für weitere crime scenes. In den dortigen Armenvierteln wohnten Existenzkämpfer aus der vietnamesischen Community, die Zigaretten ohne Steuersiegel an geizige Qualmer verkauften. Auf Bahn- und Bürgersteigen.
Die Händler, darunter frühere vietnamesische Vertragsarbeiter aus Zeiten der DDR, mussten dabei Standgebühren an mafiöse Landsleute abzweigen. Um die Absteckung der Reviere entbrannte zwischen den Paten und deren Gefolgschaften ein fast paramilitärischer Konflikt.
Ein Frühlingsabend Ende April 1995. Ein Massaker in einem Plattenbau an der Havemannstraße 36 in Marzahn. Wohnung 901, Drei-Raum-Einheit, neunter Stock: Privatsphäre, die Killer mit Feuerwaffen betreten. Sechs Vietnamesen, darunter zwei Frauen, sterben. Danach fleht CDU-Innensenator Dieter Heckelmann rauchende Berlinerinnen und Berliner an: „Kauft keine Schmuggelzigaretten!“
Es war die Eskalation des Wettbewerbs um die lukrativsten Verkaufsorte für den Absatz von Glimmstängeln. Die Todesschützen hatten ihre Opfer einem konkurrierenden Syndikat zugerechnet. Die Sechsfach-Exekution ist bis heute ungesühnt.
Der Krieg in der vietnamesischen Gemeinde tobte seit den frühen 1990ern. In Wohnheimen, auf einer Hochzeitsfeier, aber auch auf offener Straße in Neukölln und Tempelhof sind Menschen umgebracht worden. „Es gab Zeiten, da hatten wir fast jeden Tag eine Leiche“, erinnert sich ein Oberstaatsanwalt.
Organisiertes Verbrechen: Mammut-Prozess in Moabit
Die üblen Zuspitzungen rund um den illegalen Zigarettenhandel, ob in Berlin oder anderswo, instrumentalisiert der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther, CDU, für eine xenophobe Abschiebekampagne gegen Menschen mit vietnamesischen Wurzeln.
Im Mai 1996 der nächste Schock, wieder in Marzahn, wieder in einem Plattenbau. In einer Wohnung an der Marchwitzastraße werden Vietnamesen zwischen 23 und 28 gefesselt, geknebelt und dann mit je zwei Kopfschüssen getötet. Erneut sind es sechs Mordopfer.
Die Behörden sind alarmiert. Ins Leben gerufen wird die „Ermittlungsgruppe Vietnam“, mit 40 Fahndern. Knotenpunkte der Szene bespitzeln die Beamten, sie hören außerdem Telefonate ab. Alles binnen 15 Monaten.
Der Mehrfach-Mord an der Marchwitzastraße und andere Straftaten münden unter anderem in einen Mammutprozess am Kriminalgericht Moabit, mit 16 Angeklagten und 32 Verteidigern. Vor dem Kadi: die „Ngoc-Thien-Bande“. Die Justiz verurteilt 13 Männer wegen Delikten von Mord bis Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.
Wegen solcher Ermittlungs-Coups lichtet sich das Schlachtfeld. Aber auch, weil Befehlshaber gelernt haben, dass bestialische Gewalt die besseren Kreise aufschreckt. Die Kapitalverbrechen waren sozusagen Anfängerfehler. Alpha-Figuren haben erbeutetes Kapital in den Wirtschaftskreislauf geschleust. Sie ließen das Geld waschen; dann floss es ab in die Gastronomie, legale Prostitution oder die Immobilienbranche, die übliche Vorgehensweise.
Das Geschehen nach dem Fall der Mauer war die Potenzschau einer Schattenindustrie, die schmutziges Geld in Millionenhöhe einstreicht.
Mehr über Verbrechen und halbseidene Geschäfte in Berlin
Auch schon früher war die Großmetropole Berlin ein Tummelplatz für Berufsverbrecher und üble Gesellen, darunter Namen, die sich in die Stadtgeschichte eingeschrieben haben, wie während der 1920er-Jahre die Sass-Brüder oder der Serienmörder Carl Großmann. Ein heutiges Aufregerthema sind Berliner mit arabischen Wurzeln, die tatsächlich oder nur vermeintlich als Gangster agieren. Blaulichtreporter sprechen von „Clan-Kriminalität“ – doch die Rolle der sogenannten Clans wird medial übertrieben. Manchmal kommt es auch vor, dass Straftäter zu Unrecht verurteilt werden. Der Star-Anwalt Stefan König betreibt mit Kolleginnen und Kollegen ein Projekt, das sich für Wiederaufnahmeverfahren einsetzt. Wir blicken gern zurück: Besucht unsere Rubrik zur Berliner Geschichte.