1993 verführten Preußen-Nostalgiker mit der Stadtschloss-Attrappe die Stadtgesellschaft. Auf Polyestertuch, das insgesamt eine Fläche von 9.300 Quadratmetern bot, war die Fassade gemalt. Die gigantische PR-Aktion unter dem Titel „Schlosssimulation“ ebnete den Weg für die spätere Rekonstruktion des Schlosses, mit der bis heute viele Leute fremdeln.
Stadtschloss-Attrappe: PR-Aktion aus Polyester
Am Ende sind die Bauteile der architektonischen Illusion nur mittelmäßige Attraktionen fürs Auktionshaus. Bei Sotheby’s, dem Haus für spektakuläre Versteigerungen, kommen einige Versatzstücke rund ein Jahr nach der Attrappen-Aktion unter den Hammer, also Fenster, Portale und andere Ausschnitte aus dem gemalten Fassadenwerk. Lauter Imitate, teils verhökert zu jeweils enttäuschenden 2.500 Mark.
Auf einer Fläche von 9.300 Quadratmetern hatte sich die Plane aus Polyester um ein Stahlgerüst in Quaderform gespannt, über mehrere Jahreszeiten hinweg, 1993 und 1994 war das. Eine PR-Aktion für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Die gigantomanische Kulissenschieberei einer Kamarilla neo- bis rechtskonservativer Preußen-Nostalgiker im ideologischen Vakuum der Nachwendestadt. Eine „Potemkin’sche Riesenfassade“, fand der „Spiegel“ über die sogenannte „Schlosssimulation“.
Man muss sich die damaligen Geschehnisse ausmalen, um zu verstehen, warum heute in Berlins Mitte diese alte Hohenzollern-Residenz tatsächlich auferstanden ist – in Gestalt des Humboldt Forums. Ein 680-Millionen-Euro-Koloss, der Elemente des einstigen Palasts mit modernen Bauweisen verbindet. Unter den Dächern sind ethnologische Sammlungen samt Raubkunst zu besichtigen sowie Exponate des Stadtmuseums – neben anderen Räumlichkeiten.
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Als am 30. Juni 1993 auf einer Fläche vor dem Palast der Republik, dem damaligen Marx-Engels-Platz, die Attrappe des Stadtschlosses aus dem monarchistischen Gestern präsentiert worden war, hätte jedwedes neopreußische Reenactment erst einmal als Spleen gegolten.
Stadtschloss-Attrappe war das Projekt eines Junkers
Fortan sollte die Schimäre für den Wiederaufbau werben. Jenes Bauwerk, das in früheren Jahrhunderten unter anderem Winterdomizil für preußische Könige und deutsche Kaiser war, bis in den Ersten Weltkrieg. Ein Symbolbau vor allem zu Zeiten, als Piefkes und Pickelhauben das nationale Selbstbild prägten. Im Barockzeitalter hatten zwei zeitgenössische Architekten, Andreas Schlüter und Johann Friedrich Eosander, dem historischen Bau ihre Stempel aufgedrückt.
Das Diorama im wiedervereinigten Deutschland der 1990er-Jahre sollte die Idee eines Wiederaufbau-Projekts in die Köpfe einpflanzen. So äußerte sich der Regisseur des Schauspiels: ein Adeliger mit Goldknöpfen am blauen Blazer namens Wilhelm von Boddien, während der Aktion knapp über 50 Jahre alt. Das Stadtschloss war im Zweiten Weltkrieg von US-amerikanischen Bomben getroffen worden und fast völlig ausgebrannt. Den Torso des Gebäudes sprengten Arbeiter 1950 in der jungen DDR. Ein Bildersturz im Gesellschaftslabor.
Wilhelm von Boddien, der Gewährsmann einer Neugeburt, leitete in seinem bürgerlichen Leben eine Fertigungsstätte für Mähdrescher in Schleswig-Holstein („Boddien Land- und Kommunaltechnik GmbH“). Ein Mann, der sich für preußische Geschichte und Architektur interessierte. Bereits 1992 hatte der Junker den „Förderverein Berliner Schloss“ gegründet. Eine Interessensgruppe, die mit Geld von reichen Gönnern und ein bisschen Publicity ein sozioökonomisches Fundament für die Rekonstruktion des Stadtschlosses legen sollte. Zeitweise amtierte dabei ein Mitglied der „Republikaner“ als Vize-Vorsitzender. Mit dem gemalten Kulissen-Barock lud dieser Förderverein dann ins royale Phantasialand.
Stadtschloss-Attrappe: Ein Schelmenstück als Reklame
So wenig begehrt die Überreste der Staffage auf dem Kunstmarkt waren, so erfolgreich war dieses Husarenstück als breitenwirksame Reklame. Die Attrappenschau, ursprünglich für 100 Tage angedacht, wurde sogar verlängert, bis Ende September des darauffolgenden Jahres. Typisch für die plötzlichen Sympathien war die Wahrnehmung des damaligen stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Wolfgang Thierse. Die „Nachbildung“ demonstriere den Wert der einstigen Bausubstanz im Stadtbild, flötete er. Eberhard Diepgen, CDU, regierender Bürgermeister, lobte den „wichtigen Beitrag zur städtebaulichen Diskussion“.
Dass die mediale Begleitmusik der „Schlosssimulation“ speziell war, schien die neuen Fans aus der Society nicht zu stören. Unter den Werbemaßnahmen des Fördervereins war eine Anzeige in der „Jungen Freiheit“, dem Zentralorgan der Neuen Rechten. Instanzen des großbürgerlichen Feuilletons wie FAZ-Herausgeber Joachim Fest machten die Rekonstruktionsidee mit pathetischen Worten salonfähig.
„In der Tat war es die geniale Boddien’sche Inszenierung der gemalten Schlosskulisse 1993, die die Ablehnungsfront der Rekonstruktionsskeptiker aufzuweichen begann“, sollte später der Kunsthistoriker Adrian von Buttlar in einem Text resümieren. Der war eigentlich ein progressiver Geist, der einen Schloss-Neubau verschmähte – doch dem populistischen Geschick des obersten Schloss-Lobbyisten Wilhelm von Boddien seine Anerkennung zollte. Zwischen 1996 und 2009 war der Laudator der Vorsitzende des Landesdenkmalrats in Berlin.
Die Pariser Künstlerin Catherine Feff hatte das Tuch aus Kunststoff zusammen mit 100 Kunststudenten bemalt. Eine Nachahmung in sandigem Gelb. Spender aus der Großindustrie machten die rund 4,5 Millionen Mark teure Show erst möglich. Schering und BMW ließen Penunzen springen – und Thyssen stellte für den Aufbau des Stahlgerüsts, 600 Tonnen schwer, weniger als den Selbstkostenpreis in Rechnung.
Die Stadtschloss-Attrappe drängte den Palast der Republik ins Abseits
Als der Marketing-Gag abmontiert wurde, war das Wiederaufbau-Projekt gesellschaftskompatibel geworden. Zehntausende Besucher hatten das Plagiat des einstigen Stadtschlosses erblickt. Im Inneren machte eine Ausstellung die Einwohner Berlins mit dem vermeintlichen Glanz und Gloria der früheren Residenz vertraut. Die Schloss-Promoter wollten sogar punkten mit Merchandise-Waren: Armbanduhren im Swatch-Look zum gehobenen Preis von je 127 Mark – mit Stadtschloss-Motiv.
Infolge dieser Festspiele war die Aura des großen Konkurrenzgebäudes im repräsentativen Teil von Berlin-Mitte teils verblasst. Der Rückhalt für den Palast der Republik, vormals ein populäres Multifunktions-Mekka, bröckelte. Ein Abtörner war auch die Mumifizierung dieses Werks sozialistischer Baukunst: Schon seit September 1990 waren in „Erichs Lampenladen“ die Jalousien heruntergezogen. Wegen Asbest.
Unter dem Vorsitz des ehemaligen Wiener Baustadtrats Hannes Swoboda entschied 2001 eine Expertenkommission aus 17 Fachleuten und sechs Politikern, dass sie einen Nachbau des Stadtschlosses mit seinen barocken Fassaden empfehlen werde. Mit einer Stimme Mehrheit. Ein Pyrrhus-Sieg zugunsten eines baulichen Pomps, der während der 2010er-Jahren in Stahl und Stein gehauen worden ist – nachdem Landes- und Bundespolitiker die Pläne durchwinkten. Der Palast der Republik wurde zwischen 2006 und 2008 abgerissen. Vor dem Richtfest an der Baustelle des Humboldt Forums im Sommer 2015 sagte Wilhelm von Boddien, der Geburtshelfer: „Wenn ich ganz ehrlich bin, begreif ich’s immer noch nicht.“ Er war baff über die Materialisierung einer spinnerten Idee.
Mehr über Stadtschloss und Humboldt Forum
Die Inkarnation des Stadtschlosses im heutigen Berlin ist das Humboldt Forum – es soll das Gesellschaftsleben mit Ausstellungen und kulturellen Brückenschlägen bereichern. Doch bis heute reißt die Kritik an dem Prestigeprojekt nicht ab – vor allem, weil die ethnologischen Sammlungen auch Raubkunst aus dem Kolonialzeitalter präsentieren. Im Inneren sorgt das „Deli Alexander“ für kulinarischen Genuss. Die Stadtschloss-Attrappe verdeckte den Palast der Republik – Berlins wohl berühmtestes Gebäude, das nicht mehr existiert. Andere sind zurück: Wir zeigen euch erfolgreich rekonstruierte Berliner Bauten.