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Berlin verstehen

Die Philosophie der Berliner Straße: 12 urbane Notizen, die uns berühren

Es gibt viele große philosophische Texte, die uns immer wieder über die Welt, das Leben und unsere Rolle darin nachdenken lassen. Und es gibt fantastische Romane, die auf Hunderten Seiten Geschichten erzählen, die das Leben nur mit Mühe besser schreiben können. Und dann gibt es kleine urbane Notizen – ein Zettel, ein Graffiti –, die kurz unsere Aufmerksamkeit erhaschen. Und hängen bleiben. Mehr als jede großes Literatur. Besonders in Berlin.

Hobby-Fotograf und Ur-Berliner Talel Ben Jemia lebt in Neukölln, geht gern auf „irgendwie ja auch inspirierende“ Spaziergänge durch seinen Stadtteil (und gelegentlich auch durch andere) – und fotografiert die kleinen, auf Papier, Beton oder anderem hinterlassenen „Denkanstöße“. Für tipBerlin öffnete er seine Sammlung und wählte zwölf Bilder aus, die auf unterschiedlichste Weise philosophisch bis nachdenklich sind. Oder einfach nur lustig.


Erst einmal etwas Hoffnung

Nach Berlin kommen viele Menschen mit großen Träumen. Sie glauben, dass sie hier den Durchbruch schaffen. Egal ob mit der Kunst, am DJ-Pult, mit Talent, Stimme oder Körper. Nicht allen wird dies gelingen, nicht alle werden sich einen Namen machen. Umso wichtiger ist es, dass andere uns Mut machen: „Deine Träume werden jetzt wahr.“ Bleibt die Frage, frei nach dem Lied von The Smiths: How Soon is Now?


Liebe ist schön!

Wir kennen weder Ali noch Meli. Aber dass sie sich gefunden haben, das ist wunderbar. Denn wir wissen: In einer anonymen Großstadt ist es manchmal schwer, Menschen zu finden, auf die man sich verlassen kann. Vielleicht hatten Ali und Meli ein Tinder-Date, vielleicht haben sie sich beim Fußball kennengelernt oder auf der Club-Toilette. Vielleicht haben sie grandiosen Sex, vielleicht gehen sie ab und an sonntags gemeinsam Enten füttern, vielleicht sehen sie gern gemeinsam mit ihren Freunden die romantischsten Sonnenuntergänge Berlins. Wen interessiert es? Solange die beiden für einander da sind, ist Neukölln ein kleines Stück besser.


Geld auch!

Wir geben zu, Zettel dieser Art vermuten wir eher in Zehlendorf als in Neukölln, was aber natürlich Unsinn ist. Denn erstens sind auch Neuköllner*innen daran interessiert, ihr Kapital zu binden (ein paar zumindest). Und zweitens wohnen nun mal mehr Studierende in Neukölln als in Zehlendorf. Und damit auch mehr Menschen, die VWL und BWL und WasnichtL studieren, um irgendwann ein Loft in Charlottenburg zu beziehen. Wem das alles viel zu kompliziert ist, der kann im Kapital am Karl-Marx-Platz 18 in Neukölln ganz hervorragend an der Verschwendung seines eigenen selbigen arbeiten. Denn die Bar mit dem Namen dort ist echt ganz wunderbar.


Existenzielle Fragen, zwischendurch gestellt

Nichts Böses ahnend, marschiert man durch den Stadtteil, betrachtet ein paar Spuckis zu irgendwelchen neuen Soundcloud-Releases, die keine Sau je hören wird, und Wohnungsgesuche, und dann konfrontiert einen irgendein Vandale mit den ganz großen Fragen. „Warum bist du heute hier?“, das ist eine gute Frage. Man kommt da ganz gut raus mit der offensichtlichsten Antwort: „Um im Penny schnell noch Käse zu kaufen“, vielleicht. Oder „Um mich mit Ali und Meli zu treffen.“ In Wahrheit bohrt sich das Gelesene aber tiefer ins Hirn. Ja, warum bin ich das? Hier, jetzt? Wir wissen es doch auch nicht.


Ist das eine Mitleidsnummer?

Es ist schwer zu sagen, ob Größe und Sexualität mit dem nicht endenden Drang des Urhebers zu weinen in Bezug stehen. Es könnte sein, muss aber nicht. Vielleicht will da einfach jemand drei Merkmale seiner Existenz auflisten. Die, das müssen wir an dieser Stelle einfach mal sagen, alle kein Grund sind, sich schlecht zu fühlen. Erstens ist gay völlig okay, auch wenn das nicht alle begriffen haben und wir deswegen weiter bei der Pride auf die Straße gehen. Zweitens kommt es nicht auf die Größe an. Drittens ist Weinen auch völlig in Ordnung. Manchmal muss es eben raus, die Zeiten sind hart.


Ursache und Wirkung

Wir sind uns sicher einig, dass der Ton dieser kleinen Nachricht hier nicht unbedingt ein guter ist. Nun geht es aber irgendwie auch um Ursache und Wirkung. Und ganz ehrlich: Wenn wir durch derartige Hinterlassenschaften anderer im Fahrstuhl waten müssten, wären wir auch gut angesäuert. Und gleichzeitig fühlen wir uns besser: Weil wir keinen Fahrstuhl haben, kann dort auch niemand urinieren. Man muss das Gute sehen. Und im Ernst, wer auch immer das war: Bitte WENIGSTENS vor die Tür gehen, wenn es so sehr drückt. Und manchmal ist ja sogar eine öffentliche Toilette in der Nähe – auch, wenn die in Berlin gern sexistisch und ein Traum für Voyeure sind.


Feminismus kontra Haarausfall

Wir vermuten jetzt einfach mal, dass hinter diesem Satz ein feministischer Ansatz steht. Heißt: Ob Achseln, Beine und was sonst noch rasiert wird, das sollte im eigenen Ermessen liegen und nicht von irgendwelchen patriarchalischen Schönheitsvorstellungen geprägt sein. Ganz richtig ist der Ausspruch aber nicht. Denn nicht alle Glatzen hier in der Redaktion sind Folge einer Entscheidung – zumindest keiner, die die Betroffenen selbst getroffen haben. Aber wir wollen mal nicht zu haarspalterisch (LOL) sein.


030/Sultan

Dass sie vor allem über ihren Job definiert werden, sind Paketzusteller*innen gewohnt. „Hallo DHL“, „Hey GLS“ oder eben „Lieber Hermes“, lesen sie häufiger auf an sie gewandte Notizen. Nicht immer ist der Rest freundlich, „der Sultan“ aber beherrscht die Regeln der Kommunikation. Allerdings hoffen wir, dass Hermes den Sultan auch wirklich kennt. Und nicht doch bei Emir, Zar oder Kaiser landet.


Gott? Schwul!

Das mit der Religion ist so eine Sache. Irgendjemand hat entschieden, dass Gott ein weißer Mann ist, zumindest für die weiße Mehrheitsgesellschaft (außer es ist Morgan Freeman in „Bruce Almighty“). Nun ist Glaube frei. Und die Bibel wird gern so umfassend nach eigenen Wertvorstellungen interpretiert, dass Deutschlehrer*innen begeistert wären, würden ihre Schäfchen sich ähnlich Mühe mit Goethes „Faust“ geben. Entsprechend kann Gott alles sein. Schwarz, eine Frau, schwul. Und sogar alles gleichzeitig. Denn wer, wenn nicht Gott? Seinen Sohn hat er ja auch nur über Umwege bekommen – davon können schwule Väter ein Lied singen.


Nochmal Existenz, nur komplizierter

Die Frage, warum wir hier sind, stellte uns ja eben schon ein Graffito. Nun wird es komplexer. Ein bisschen Zen-Buddhismus, ein bisschen Rechtschreibverwunderung, und irgendwie sind wir am Ende nicht klüger als vorher. Vielleicht ist dieses irritierende Element in der Formulierung ja aber auch beabsichtigt. Wer sind wir, und was bedeutet das? Nichts, womöglich. Alles, vielleicht. Und das alles auf dem Nachhauseweg nach vier Bier.


Die klare Ansage

Weiterhin ist Gewalt keine Lösung, allerdings, das ergibt sich aus dem „Again“, wurde Sender*in hier wohl schon vormals von Empfänger*in irgendwie belästigt, angegangen, im schlimmsten Fall missbraucht. Kritisiert werden darf hier also nicht die heftige Ansage, sondern der Umstand, dass sie überhaupt notwendig wurde. Leider geschieht es nicht selten, dass Menschen Grenzen überschreiten und andere verbal bis physisch angreifen. Inzwischen gibt es häufiger Aktionen im öffentlichen Raum, die für derartige Übergriffe sensibilisieren wollen. Cat Calls Of Berlin etwa macht sexuelle Belästigung mit Kreide öffentlich.


Eine Prognose, sicherer als der Wetterbericht

Mit dem Blick in die Glaskugel haben sich schon ganz andere schwer getan. Allerdings ist die Ankündigung, „Neukölln bleibt dreckig“, zumindest nicht gänzlich realitätsfern. Denn machen wir uns nichts vor: Ja, die Gentrifizierung schreitet voran. Trotzdem ist noch so viel alternative Energie, so viel Wut, so viel Freude am Protest vorhanden, dass wir auch in den kommenden Jahren nicht nur saubere Hauswände sehen werden. Und irgendwie gehört das zu Neukölln – dem Stadtteil zwischen Clubkultur und Kulturschock. Und bis dahin gehen wir entspannt was Trinken in einer dieser 12 guten Bars in Neukölln von Ankerklause bis Truffle Pig (oder einer anderen).

Poetischer als die Graffiti und Zettel in Berlin ist eigentlich nur der Sperrmüll – 12 Fotos, mal ganz kunstkritisch betrachtet.

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