Subkulturen

Wie aus der Antifa die Migrantifa wurde

Lange Zeit war die zentrale Instanz im Kampf gegen rechte Gewalt die Antifa. Heute ist nur noch die Rede von der Migrantifa. Was ist da in der linken Szene geschehen? Die Rekonstruktion eines Wandels in der Einwanderungsrepublik.

Eine Fahne mit Botschaft: Schon auf dieser linken Demo aus dem Jahr 2020 war die Migrantifa ein fester Bestandteil im kollektiven Aufgebot. Die Kundgebung, die am Oranienplatz endete, war ein antifaschistisches Lebenszeichen während der Corona-Pandemie – auch anlässlich der zähen Aufklärung des NSU-Komplexes. Foto: Imago/JeanMW

Migrantifa: Umbruch in der linken Szene

Das Wort, das einen Umbruch in der linken Szene anzeigt, ist auf inflationäre Weise verbreitet. „Migrantifa“ lautet dieser Claim, und er ist Bezeichnung für ein junges Kollektiv aus Berlin ebenso wie allgemeine Losung auf Textilien, Stickern, Memes.

Man musste nur einen Blick auf Kundgebungen im antifaschistischen Milieu in diesem Jahr werfen. Etwa während der Gedenkveranstaltung am 19. Februar zum Jahrestag des rechtsextremen Amoklaufs von Hanau auf dem Hermannplatz oder im Zuge der revolutionären Mai-Demo in Kreuzberg und Neukölln.

Bei der Ikonografie rund um diese Märsche spielte dieser Schriftzug eine Rolle, er war etwa auf einer Fahne zu sehen. Ein Zeichen im Kampf gegen Neonazis, AfD und strukturellen Rassismus.

Die Demos sind mitgetragen worden von der gleichnamigen Gruppe „Migrantifa Berlin“, in der sich junge Menschen mit BIPoC-Hintergrund versammeln. Auch in den vergangenen Jahren hat „Migrantifa Berlin“ schon öffentliche Aktionen geprägt. Als treibende Kraft oder Sidekick.

Die Migrantifa und die Mythen der Protestkultur

Gleichzeitig ist ein anderer mythischer Begriff aus dem ABC der Protestkultur weitgehend verschwunden.

„Antifa“, das war in Deutschland über Jahrzehnte hinweg gewissermaßen der geschützte Begriff für den Widerstand gegen rechte Umtriebe gewesen. In den 90ern vor dem Panorama der Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie den Pogromen von Mölln und Solingen. Genauso in den Nullerjahren, als nach 9/11 eine Welle der Islamophobie hiesige Communitys erschütterte. Ebenso in den 2010er-Jahren, als die mörderischen Einzelheiten des NSU-Terrors ans Licht der Öffentlichkeit gelangten.

Was ist da passiert?

Wer sich in der Szene umhört, ob unter Insidern oder im Plausch mit einem Sympathisanten wie dem Linken-Mann Ferat Kocak, Mitglied des Abgeordnetenhauses, der gewinnt Einblicke, die sich zur Geschichte über einen soziokulturellen Wandel verdichten.

Diese Story erzählt dabei viel über die Debatten unserer Zeit rund um Identität und politische Repräsentation. Sie handelt von einer neuen Machtfülle, die politisierte Menschen mit Einwanderungsgeschichte errungen haben – in einem linken Underground, der ihnen lange die Teilhabe erschwert hat. Weil dort eine biodeutsche Mehrheit ihre Ressentiments pflegte gegenüber Ayse oder Hassan aus der Hochhaussiedlung. Heutzutage verteilen sich „Migrantifa“-Gruppen flächendeckend auf der Landkarte. Ob in Berlin, Bochum oder Braunschweig.

Das Wort, das diese neue Bewegung klammert, wurzelt eigentlich in einer früheren Epoche. Der Begriff „Migrantifa“ ist schon aufgetaucht in einem Text der aktivistischen Gruppe Café Morgenland aus Frankfurt. Das Elaborat stammt aus  den 90ern, vielleicht auch frühen Nullerjahren – die genaue Datierung ist unklar.

Es war jene Ära, in der migrantischer Widerstand gegen teutonische Verhältnisse, selbst angeleiert, häufiger mediale Aufmerksamkeit erregt hat. Unter den Hauptfiguren waren nicht nur die Antirassisten von Café Morgenland.

Zu örtlichem Ruhm brachten es auch die „36 Boys“ aus Kreuzberg, jene Streetgang, deren Leute mit geballten Fäusten in den battle gegen Faschos gezogen waren. Eine andere Strömung war eben „Kanak Attak“ aus Hamburg – Diskursritter mit intellektuellem Anstrich.

Es sollte bis in die Spätphase der Merkel-Ära dauern, genau genommen bis ins Jahr 2019, ehe das Schlagwort „Migrantifa“ erneut aufpoppte. In dieser Zeit wüteten rechte Mobs in Ostdeutschland gegen Kriegsflüchtlinge aus dem Mittleren Osten; die AfD münzte die xenophobe Stimmung in Wahlerfolge um. Graswurzel-Bewegungen konterten mit lautem Protest – zum Beispiel auf einer #Unteilbar-Kundgebung in Dresden im Spätsommer mit 40.000 Menschen, vor den sächsischen Landtagswahlen. Ausrichter war das „Welcome United“-Bündnis, ein Sammelbecken der Zivilgesellschaft.

Eine Symbolik, die verfängt: Migrantifa-Emblem, garniert mit roter Rose. Foto: Imago/Müller-Stauffenberg

Vor dieser Massenveranstaltung hatte eine Grafikerin aus dem „Welcome United“-Netzwerk eine bahnbrechende Idee: Sie reaktivierte das Wort „Migrantifa“ als Kampagnen-Slogan – ohne sich der Vorgeschichte bewusst zu sein. Zehntausende Aufkleber mit dem Slogan sind gedruckt worden. Fortan war der Begriff der letzte Schrei. Als Code, als Hashtag, als Sensation. „Migrantifa“ sollte dabei zunächst den Schulterschluss signalisieren zwischen Protestmilieu und Flüchtlingen, speziell auf der Demo in der Pegida-Hochburg. Später entstanden auch schwarze T-Shirts mit Inprints.

Im Februar 2020, rund ein halbes Jahr später, verschärfte sich die Lage.

Der Amoklauf eines Rechtsextremen in Hanau schockierte die Republik. Zehn hier lebende Menschen, unter anderem mit kurdischen, türkischen und osteuropäischen Familienhistorien, ermordete der Täter.

Jetzt eigneten sich Kinder und Kindeskinder aus Einwanderungsfamilien den catchy Begriff an. Kurz nach dem Terrorakt bildete sich an der Spree die Gruppe „Migrantifa Berlin“. Auch in anderen Bundesländern wurde die Genese von Migrantifa-Gruppen publik.

Allein hätten sie sich gefühlt, erinnerte sich eine Aktivistin von „Migrantifa Berlin“ namens Naima in einem öffentlichen Gespräch an die damalige Stimmung in der migrantischen Gemeinschaft. Das Bekenntnis einer Gruppierung, die selten ins Rampenlicht einer etablierten Institution tritt. In der Urania in Schöneberg war das, im Juni 2022, während einer Podiumsrunde. Naima, Tochter aus einem deutsch-marokkanischem Elternhaus, vielleicht Mitte 20, machte dort auch ein bisschen Krawall: „Es ist korrekt, Nazis zu klatschen.“

Migrantifa: Ein Schlagwort, das sexy ist

Manche Migrantifa-Gruppen in Deutschland seien alte Antifa-Gruppen, die unter neuem Namen segeln würden, berichtet ein Szenekenner. Der Triumph eines Schlagworts, so sexy, dass es sich auch Trittbrettfahrer anheften. „Migrantifa Berlin“ war derweil eine Neugründung.

Weiße sind in dieser Gruppe unerwünscht. Das ist bemerkenswert, weil der „Migrantifa“-Claim auf der stilprägenden #Unteilbar-Demo in Dresden noch anders gedacht gewesen war. Dort sollte er Fraternisierungen symbolisieren. Die Genealogie des Worts führt also auch mitten in die aufgehitzte Debatte um Identitätspolitik: Stammesdenken oder Symbiose?

Die Kompromisslosigkeit von „Migrantifa Berlin“ ist nicht untypisch für die Generation Z. Eine Altersgruppe, deren politische Erweckung die „Black Lives Matter“-Rebellion in den USA gewesen ist. Der Instagram-Kanal der Aktivist:innen bringt es übrigens auf 33.000 Follower. Dort steht: „Von Migrant*innen für Migrant*innen. Yallah!“ Auf der Social-Media-Präsenz findet sich auch Streetwork-Spirit: Die Aktivistinnen haben in diesem Sommer ein Gartenfest veranstaltet; in einem Neuköllner Café geben sie zudem Hausaufgabenhilfe. Sie sind jung, feurig und tonangebend.


Mehr über die linke Szene

Das symbolträchtigste Datum für linke Bewegungen ist der 1. Mai – ein Protesttermin, der bislang sowohl Arbeiterinnen und Arbeiter als auch organisierte Subkulturen auf die Straße getrieben hat. Das Kompendium „Rebellisches Berlin – Expeditionen in die untergründige Stadt“, erschienen 2021, beschreibt die vielfältigen Widerstandsbewegungen in der Geschichte Berlins. Eine bedeutsame Ikone ist bis heute Rosa Luxemburg, ermordet 1919, die für soziale Gerechtigkeit kämpfte und auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde begraben ist. Weitere Texte lest ihr in unserer Politik-Rubrik.

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