Drama

„Willkommen in Marwen“ im Kino

Im Schutz der Fantasiewelt: Hollywood-Altmeister Robert Zemeckis schildert die Überlebensstrategie eines traumatisierten Mannes

Universal Pictures

Belgien während des Zweiten Weltkriegs. Captain Mark „Hogie“ Hogencamp überlebt einen Absturz über Feindgebiet ­nahezu unverletzt. Plötzlich findet er im ­unwegsamen Gelände ein Paar Frauenschuhe, das ihn derart fasziniert, dass er sich die unpraktischen High Heels gleich selbst anzieht. Doch kurz darauf fällt er einer Einheit SS-Soldaten in die Hände: Der Amerikaner wird ausgelacht und übel misshandelt, ehe ihn einige schwerbewaffnete Frauen retten.

Aber Moment mal – an diesem merkwürdigen Kriegsabenteuer stimmt doch etwas nicht. Warum sehen die Gesichter aller ­Beteiligten so unbewegt aus? Warum bewegen sich die Leute so seltsam? Und weshalb ­haben alle Frauen Wespentaillen und Endlosbeine? Willkommen in Marwen (eigentlich: Marwencol), einer von dem Amerikaner Mark Hogancamp erdachten Fantasiewelt, die sich der heute 56-Jährige mit Utensilien aus dem Hobby-Shop sowie einer Reihe von Barbie- und Action-Puppen im Maßstab 1:6 hinter ­seinem Haus selbst zusammengebastelt hat. Und das nicht etwa zum Spaß: Die ­Geschichten, die er für sein Alter Ego Hogie erfindet, in Szene setzt und in Fotos dokumentiert, sind für ihn ein Weg, mit einer posttraumatischen Belastungsstörung umzugehen.

Denn Hogancamp erlebte in der Realität, was die in einer Kombination aus Motion-Capture basierter Computeranimation und Live-Action inszenierte Eingangssequenz von Robert Zemeckis’ Spielfilm „Welcome to ­Marwen“ in fiktionalisierter Form erzählt: Als Hogancamp im Jahr 2000 eines Abends eine Bar in Kingston, New York verließ, lauerten ihm fünf Schläger auf, denen er zuvor in trunkenem Zustand erzählt hatte, dass er als Crossdresser auch gern einmal Frauenschuhe trage.

Die Täter hatten derart auf ihn eingeprügelt, dass ihn die Ärzte in ein künstliches Koma versetzen mussten, aus dem er erst nach neun Tagen mit erheblichen Hirnschädigungen erwachte. Hogancamp verlor sein Gedächtnis durch den Überfall fast völlig, und er musste wieder neu erlernen zu laufen, zu essen oder zu schreiben. Als die Versicherung den Krankenhausaufenthalt nicht mehr zahlte, entließ man ihn kurzerhand nach Hause. Die psychischen Folgen der Gewalttat blieben unbehandelt – mit seiner Wut, seinen Ängsten und Wünschen blieb das Opfer allein.

Seither dienen die Abenteuer in der Fantasiewelt für ihn als Therapieersatz, wie Mark Hogancamp in der exzellenten Dokumentation „Marwencol“ (2010, R: Jeff Malmberg) erzählt, die als Vorlage für Zemeckis‘ Spielfilm diente. Auf diese Weise kann Hogancamp seine Rachegelüste an den fiesen SS-Nazis ausleben, und die taffen Barbies, die Captain Hogie anhimmeln und ihn aus ­jeder Bredouille retten, dienen (auch) als erotische Projektionsflächen. Vor allem aber geben ihm die Puppen, die er mit den Namen und Charaktereigenschaften all seiner Bekannten ausgestattet hat, Sicherheit: In Marwencol (der Name steht für Mark, Wendy und ­Colleen) fühlt sich Hogie beschützt von Freunden.

Zemeckis’ Film erzählt Hogancamps Lebensgeschichte zeitlich sehr verdichtet. Im Mittel­punkt stehen dabei die von der Angst vor Ablehnung geprägten tapsigen Annäherungsversuche Hogancamps (Steve Carell) an ­seine neue Nachbarin Nicol (Leslie Mann) und die Frage, ob er genügend Courage aufbringen wird, um bei einer New Yorker Vernissage seiner Marwencol-Fotos und bei der Gerichtsverhandlung gegen seine Peiniger aufzutreten. Die animierten Abenteuer der Marwencol-Puppen spiegeln dabei seine inneren Kämpfe wider.

Technisch ist das zweifellos toll gemacht: Regisseur Robert Zemeckis ist seit langem auch für Filme bekannt, die sich an der Schnittstelle zwischen Real- und Animations­film bewegen („Falsches Spiel mit Roger Rabbit“, „Der Polarexpress“). Für „Welcome in Marwen“ haben seine Animationsspezia­listen nun eine Möglichkeit gefunden, die Gesichter der Schauspieler*innen auf die per Motion Capture erstellten Computermodelle der Figuren zu projizieren – und ihnen dann die geglättete Aura von Puppen zu verleihen.

Zugleich zeigen die animierten Puppen­abenteuer auch das Problem des Films auf: Was für den echten Mark Hogancamp eine essenzielle – und gar nicht lustige – Notwendigkeit ist, wird in einem Unterhaltungsfilm zu einer Mischung aus anrührendem Drama, Actionabenteuer und Komödie verquirlt. Als respektlosen Verrat an Hogancamps Lebensgeschichte sollte man „Welcome to Marwen“ trotzdem nicht begreifen: Zemeckis’ Film ist ein guter Einstieg ins Thema. Wer sich intensiver dafür interessiert, sollte sich ergänzend die (auf DVD erhältliche) Doku „Marwencol“ ansehen, die vielleicht noch deutlicher macht, dass Hogancamp keineswegs ein hilfloser Spinner, sondern ein sehr reflektierter, beeindruckender Mensch mit einem psychischen Problem ist.

Willkommen in Marwen USA 2018, 116 Min., R: Robert Zemeckis, D: Steve Carell, Leslie Mann, Diane Kruger, Start: 28.3. 

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