Musik

Alexander Winkelmann und Tegel Media: Vereinte Berliner Indie-Power

Alexander Winkelmann arbeitet mit vereinter Berliner Indie-Power. Der Musiker veröffentlicht mit „Sorry, falscher Chat“ sein zweites Album – auf dem faszinierenden Label Tegel Media. Über schräge Videos, schrulligen Pop und die Nosatalgiewelle für die Zeit der Jahrtausendwende, die ganz sicher über uns rollen wird.

Immer diese Waschbären – und Alexander Winkelmann. Foto: Max Creasy

Alexander Winkelmann: Eine fast kindliche Welt

Im Musikvideo zu „Gelegentlich“ tropft der Espresso aus der Siebträgermaschine, eine Kühlschranktür öffnet sich, und dort steht er: Alexander Winkelmann, winzig wie ein Marmeladenglas. Er schüttelt ergriffen die Fäuste und lässt seinem Zorn freien Lauf, zu klimpernden Akkorden kommt die große Beschwerde über den Morgen: Aufstehen, nein, bitte nicht, das geht auf keinen Fall.

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Er singt auf seinem neuen Album über kleine Ärgernisse, Unbequemlichkeiten und simple Alltagsbeobachtungen. „Sorry, falscher Chat“ heißt die Platte, seine zweite nach dem Debüt „Danke der Nachfrage“. Zunächst wirkt alles so klein wie er selbst im Musikvideo, eine fast kindliche Welt wird da skizziert: Es geht um das, was man im Laden kaufen kann, um Tiere, mit denen man sich identifiziert, um Vögel, die den Schwarm verlassen, und auch mal um schlechten Service im Urlaubsresort auf dem Mars. Poppig-punkige Dreiminüter, vorgetragen mit einer leicht lispelnden, leiernden Stimme, Genörgel mit Charme und dem Mut, mit einfachsten Reimen zu arbeiten: „Der Vogel ist erpicht auf Sonnenlicht.“

Es erinnert an die letzten Punk-Ausläufer wie Bärchen und die Milchbubis oder an Zeiten, als Arne Zank von Tocotronic nebenher grandiosen Blödsinn gemacht hat („Die Mehrheit will das nicht hören, Arne“). Aber den Tonfall, bei dem alles ein bisschen off ist, kennt man am ehesten von der großen Christiane Rösinger, hinter den gefühlvollsten Tracks ahnt man manchmal sogar ein wenig Daniel Johnston. Und klein bleibt das Kleine dann eben nicht, im Gegenteil.

Denn „Sorry, falscher Chat“ lässt sich durchaus programmatisch verstehen: Beim Zuhören hat man das Gefühl, dass sich immer wieder ein neuer Tab öffnet und Winkelmann abgleitet. Anderer Ton, anderes Thema, plötzlich auch eine andere Tiefe – wie bei einer Pfütze, in der man herumspringen will und die sich als knöcheltief erweist. Den schmalen Grat zwischen Weisheit und Banalität beherrscht Winkelmann perfekt: „Wir alle haben Päckchen zu tragen, auch die Menschen, die das nicht sagen. Diese Päckchen sind verschieden schwer, aber niemals vollkommen leer“, so geht der Song „Päckchen“, bei dem glockenheller Background-Gesang noch an den Pathos-Reglern dreht.

Alexander Winkelmann vereint auf „Sorry, falscher Chat“ Berliner Indie-Power. Foto: Max Creasy

An anderer Stelle wird das Kinderspiel richtig morbide. Die Waschbären, die Winkelmann besingt? „Spielen üble Streiche“ und „knabbern an deiner Leiche“. Sweet.

Überhaupt wird hier viel versteckt, das vielleicht am ehesten auffällt, wenn Winkelmann uns im finalen Track einmal durch die Weltgeschichte mitreisen lässt, von Pyramiden zu Vulkanausbrüchen. Denn „Farn“ verschleiert als ausuferndes Sixties-Psychedelic-Stück zum Schluss gar nicht mehr, wie komplex das vermeintliche Lo-Fi-Projekt sein kann – und dass da eine Menge Expertise drinsteckt: Albertine Sarges ist auf dem Album dabei, Sam Vance-Law ebenfalls, Garagen Uwe und Max Gruber alias Drangsal spielen sogar in der Liveband mit. Dieser meist leise schnurrende Motor wird mit geballter Berliner Indie-Kraft betrieben.

Leif Randts Gespür für die Gegenwart

Power also, und das gilt nicht nur für Arbeiten im Studio, sondern auch fürs Label dahinter. Winkelmanns Erstling, „Danke der Nachfrage“, konnte 2021 mit Gedankenfetzen aus dem Lockdown nicht gerade ein großes Publikum finden, aber dafür in bester Gesellschaft erscheinen: beim Label von Martin Hossbach, der vornehmlich dann die Türen öffnet, wenn Pop-Größen mit verspulten Nebenprojekten eine Plattform suchen oder sich bildende Künstler:innen an die Instrumente wagen.

Der Nachfolger erscheint am 17. November bei Tegel Media, einem Projekt, das sich herrlich irreführend als „Small-Data-Business from Germany“ bezeichnet, oder eben: Label für Content. Content, allein das Wort: Es entstammt den austauschbaren Werbeagenturen und Marketingklitschen des Landes, wo jedes Video, jeder Ton, jeder Satz unbedingt verwertbar sein muss – und nichts anderes sein darf.

Ein Horrorwort, das von den beiden Schriftstellern hinter dem Label endlich brauchbar gemacht wird. Jakob Nolte, bisweilen Lyriker, aber hauptsächlich Theaterautor, steckt zusammen mit Leif Randt dahinter, der als Schriftsteller vor allem mit seinem vielfach als brillante Gegenwartsdiagnose gefeierten Roman „Allegro Pastell“ zum Feuilletondarling geworden ist.

Alexander Winkelmann bringt die Nostalgiewelle ins Rollen

Was seit 2017 auf der Website tegelmedia.net geschieht, stößt dann aber in eine ganz andere Richtung. Dass da eine Nostalgiewelle für die Zeit der Jahrtausendwende über uns rollen wird, zeichnet sich an vielen Orten ab, aber am deutlichsten auf einer Website wie dieser, die nichts von engagement und Algorithmen wissen will, sondern in unregelmäßigen Abständen um neue Videos, Kunstwerke oder Texte als herunterladbare PDF-Dokumente in 2000er-Jahre-Powerpoint-Ästhetik erweitert wird. Und was die Riege an Produzent:innen hier hochlädt, verwandelt dann mit großer Leichtigkeit das in Kunst, was vorher eher Content heißen musste: Über das Multiplayer-Videospiel „League of Legends“ findet sich dort ein Gedichtband zum Abruf, über die Schnelle-Autos-Filmreihe „The Fast and the Furious“ ein bescheiden als „Fan Fiction“ bezeichnetes Stück bewegende Literatur.

Es ist alles so naheliegend und doch so cool, dass einem schwindlig werden kann. Und dann passt es wieder, Winkelmann auf der Website zu begegnen: als Designer von vielen der PDF-Dokumente. Und auch mal als Autor, der sich auf eine Reise durchs Internet begibt, seinen Weg mit Google-Suchanfragen und Youtube-Kommentaren illustriert – und am Ende herausfindet, wie er seine Schwindelanfälle heilen kann. Einem gewöhnlichen Popstar sieht man in diesem Kosmos nicht zu – aber beobachtet ein Gesamtkunstwerk im Entstehen.

  • Alexander Winkelmann „Sorry, falscher Chat“ erschien am 17.11. bei Tegel Media
  • Berghain Kantine Am Wriezener Bahnhof, Friedrichshain, Fr 24.11., 20.30 Uhr, VVK 13 €, weitere Infos und Tickets hier

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