Musik

Drei Gründe, warum Berlin europäische Jazz-Hauptstadt ist

Jazz ist der heiße Scheiß, mal wieder. An kaum einem Ort klingt er gerade so spannend wie in Berlin. Unser Autor Tobi Müller spürt dem Sound nach, hat drei Gründe gefunden, warum Berlin europäische Jazz-Hauptstadt geworden ist – und weiß, weshalb Jazz auch wieder junge Leute erreicht.

New Past spielten beim XJazz Festival 2021 in Berlin. Foto: Eike Walkenhorst
New Past spielten beim XJazz Festival 2021 in Berlin. Foto: Eike Walkenhorst

Wie Berlin klingt? Wie Jazz von Christian Lillinger

Wer wissen will, wie die Stadt klingt, höre den Schlagzeuger Christian Lillinger. In seinen Soloprojekten, allein oder mit größeren Ensembles, als Drummer der schwedisch-finnisch-deutschen Band Koma Saxo: Es sind Postkarten aus dem neuen Berlin. Nicht weil Lillinger als einer der wenigen der Szene hier aufgewachsen ist. Sondern weil sein Sound so vieles vermittelt, was Berlin als Jazzhauptstadt Europas ausmacht. Technisch ist Lillinger brutal, die Funken fliegen mit Überschall, aber lässig wie aus der Hüfte. Ob das noch Drum and Bass ist, bereits Jazz oder schon Neue Musik, spielt stilistisch keine Rolle mehr – Jazz, my ass! Und selbst wo noch ein Puls pocht und ein Takt den Beat im Zaum hält, erweckt Lillinger den Eindruck virtuoser Anarchie.

Dieser Drummer behauptet Freiheit, wo Grenzen sind. Er flunkert – unverschämt, wild, sorry: sexy, und doch kontrolliert. Immer hochwertig, nie verkrampft. Ist sie nicht so, unsere Stadt? Nein, sie möchte gerne so sein. Solche Träume kann nur die Kunst erfüllen. Und Jazz ist das Genre, dem dieser Traumtanz erstaunlicherweise gerade besser gelingt als anderen.

Hype um Jazz: Anfänge in L.A., nicht Berlin

Die Voraussetzungen für den Jazzhype haben allerdings, wir sagen es ungern, wenig mit Berlin zu tun. Schicke Schiebeblende zum Großraum Los Angeles, und zwar dahin, wo die Sonne nicht allen gleich in den Hintern scheint, nämlich in den Vorort Compton.

Wer nun an den Klassiker des Gangsta-Rap denkt, liegt so falsch nicht: „Straight Outta Compton“ von N.W.A. arbeitete bereits 1988 mit Samples aus den Archiven des Soul, aber auch des Jazz. In der Schwarzen Musik der USA hat es immer Rückgriffe auf ältere Musik und die Plattensammlung der Eltern gegeben. Wo der Kampf um Gleichberechtigung nie aufhört, gibt es auch keinen Grund, mit der Tradition zu brechen. Doch niemand hat Jazz einen vergleichbaren Schub verliehen wie ein anderer Sohn Comptons, der Rapper Kendrick Lamar. Sein Album „To Pimp A Butterfly“ setzte 2015 nicht nur zu einem neuen, auch selbstkritischen Ton im Rap an. Das Album, fraglos eines der größten der Zehnerjahre, barst vor Jazz. 

Lamars Tracks badeten nicht im warmen Retrofluss, den Samples gerne ausheben. Sein Jazz war „very contemporary“ und kam nicht aus der Konserve, sondern wurde im Studio eingespielt. Die Wechsel schnell, die Beats mal eckig, mal hart swingend, die Basslinien und die Bläser so komplex wie die Reime. Viele der „Butterfly“-Musiker und Arrangeure wurden danach selbst Stars: der Bassist Thundercat etwa auf dem jungen Label Brainfeeder. Produzent und Altsaxer Terrace Martin produziert so viel wie der Keyboarder Robert Glasper; und der Tenorsaxofonist Kamasi Washington schuf etwa mit „The Epic“ kurz nach Lamar ein eher konventionelles Jazzalbum, mit dem eine jüngere Kundschaft aber lernen konnte, was „Rhythm Changes“ sind – eine klassische Harmoniefolge nach George Gershwin, die weltweit auf Jam Sessions gespielt wird.

Reagan strich einst die Instrumente

Washington erzählte mir einmal für „Spex“ und „NZZ“, dass dieses Westküstenwunder der Jazzrenaissance handfeste Gründe hatte. Die Regierung von Ronald Reagan, Gouverneur von Kalifornien und ab 1980 Präsident der USA, strich die kostenlosen Musikinstrumente aus den Schulen. Übrig blieb nur die Blockflöte. Dieser krasse Einschnitt rief private Initiativen auf den Plan und später viele Begabtenstipendien an höheren kalifornischen Musikschulen. Kamasi, Thundercat und Co. sind alle durch diese Programme gegangen.

Beam them up: Potsa Lotsa XL, das Projekt der Berliner Jazz-Saxofonistin Silke Eberhard. Foto: Ruth Hommelsheim
Beam them up: Potsa Lotsa XL, das Projekt der Berliner Jazz-Saxofonistin Silke Eberhard. Foto: Ruth Hommelsheim

Solche Zentrumsfunktionen entstehen nicht von alleine. Bevor nun London erzürnt anruft, Los Angeles höflich, aber laut schweigt, Köln zum Berlin-Boykott mobilisiert und Donaueschingen sauer in den schwarzen Rolli schwitzt, hier drei Gründe, warum Jazz ausgerechnet in Berlin eine europäische Renaissance feiert.

Jazz in Berlin: Ein Ort der Erneuerung

Erstens: die Geschichte. Der neue Jazz will stilistisch ins Offene. Berlin war zumindest seit der Trennung Deutschlands nie ein Hort des traditionellen Jazz, sondern meistens der Erneuerung. Die Jazztage, wie das Jazzfest von der Gründung 1964 bis 1980 hieß, zeigte auch die freie Avantgarde der Stadt wie den Saxofonisten Peter Brötzmann und sein Umfeld. Brötzmann und Co. bildeten eine harte, unakademische Berliner Schule, die in den 80er-Jahren auch in den USA und Japan von sich reden machte. Ähnlich wie die genauso freien Krautrocker, die Ende der 60er-Jahre am Halleschen Ufer in Kreuzberg experimentierten und Gruppen wie Tangerine Dream hervorbrachten.

Nun könnte man einwenden: olle Kamellen, lange her. Aber der Ruf der Geschichte wird außerhalb oft lauter gehört als in der Stadt selbst, er hallt in der Fremde länger nach. Zum Beweis braucht man bloß Alben der aufregendsten Berliner Jazzprojekte anzuwählen, um die Einflüsse von Brötzmann bis Tangerine Dream bis heute zu hören. Die Kraft von Koma Saxo, der vom schwedischen Bassisten und Produzenten Petter Eldh geführten Band, kanalisiert auch Brötzmann. Und im verpeilten, vertrackten Sound von Liun & The Science Fiction Band mit der Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch sind einige Farben von Tangerine Dream versteckt. Selbst gestandenere Musikerinnen wie die Altsaxofonistin Silke Eberhard, die letztes Jahr den Jazzpreis Berlin erhielt, zeugen von der Liebe zur freien Tradition dieser Stadt.

Petter Eldh aus Göteborg ging mit 19 Jahren nach Kopenhagen, wie viele US-amerikanische Musiker vor ihm, mit 26 zog er nach Berlin, um das reine Handwerk hinter sich zu lassen. Vor ein paar Jahren trafen wir uns um die Ecke von seinem Studio in der Nähe des Mauerparks, weil ich ein Porträt über ihn schrieb. Eldh sagte: „Ich wollte nach Berlin, weil du hier die ganz wilden Sachen spielen kannst, das gibt es nirgends sonst auf der Welt. In London gelte ich bei manchen als interessanter Bassist aus Berlin.“ Jazz aus Berlin heißt auch: Du sprichst nicht zwingend Deutsch, atmest aber den Sound und viele vergangene Sounds der Stadt ein und trägst sie woanders hin.

Freie Künste profitieren von der Hauptstadt

Zweitens: das (viele) Geld. Das kommt vielleicht überraschend, weil die im internationalen Vergleich noch immer günstigeren Mieten vom Gegenteil erzählen. Und sicher lebt die Mehrheit der Jazzmusiker:innen nach wie vor in prekären Verhältnissen. Aber die Chancen, diesen Zustand zu überwinden, sind gewachsen. Weil die Kultur in Berlin mehr als doppelt so viel öffentliche Zuwendungen erhält als noch in den 90er-Jahren. Von der Hauptstadtwerdung haben auch die freien Künste profitiert, nicht nur die großen Institutionen. Konkret auch der Jazz.

Allein in den letzten zehn Jahren hat sich die direkte Jazzförderung des Landes Berlin vervielfacht, wie die Harfenistin und Komponistin Kathrin Pechlof von der IG Jazz in einem Videocall erzählt. In dieser kurzen Zeitspanne „stiegen die Zuwendungen von jährlich 138.000 Euro auf 800.000“, so Pechlof. „Diese Erhöhung ermöglicht erstmals auch zweijährige Basisförderungen für Gruppen, etwa Potsa Lotsa XL von Silke Eberhard.“ Und das ist noch nicht alles. Bei den sehr viel größeren Töpfen des Hauptstadtkulturfonds sowie der Spartenoffenen Förderung können auch Jazzmusiker:innen Projektanträge stellen. Allerdings besteht bei solchen Förderinstrumenten die Gefahr der „Antragskunst“, wenn jede musikalische Idee sofort eine „Forschung“ sein will, die von Vorträgen, Panels und überflogenen „Zeit“-Artikeln flankiert werden muss.

Jazz-Clubs in Berlin bleiben in Bewegung

Drittens: Clubs, Festivals, und vielleicht bald eine Institution. Berlins Jazzclubs bleiben auch deswegen in Bewegung, weil sie nicht so stark am Tourismus hängen wie viele Orte in Paris oder Kopenhagen, die viel zu lange ein pittoreskes Bild des Nachkriegsjazz konserviert haben. Klar gibt es auch in Berlin die gemütliche Clubvariante wie das Yorckschlösschen in Kreuzberg, wo Bands auf Kollekte spielen. Aber das ist weder touristisch noch der Regelfall. Wenn die Berliner Jazzszene etwas auszeichnet, ist es die Vielfalt der Clubs, die schiere Menge und die überraschenden Überschneidungen. Teile der Echtzeitmusik-Szene spielen auch im Club Ausland oder in der Raumerweiterungshalle (REH), beide in Prenzlauer Berg, im Quasimodo in der Kantstraße steht auch Blues oder Rock im Programm, und im Jazzclub ZigZag, den ein junges Publikum im südlichen Schöneberg wieder entdeckt hat, läuft auch einmal Avantgarde.

Selbst wenn das XJazz und das Jazzfest unterschiedliche Festivalprofile und Finanzierungsmodelle haben – das Jazzfest hat die vom Bund finanzierten Berliner Festspiele sowie den öffentlichen Rundfunk hinter sich – weichen sich die Mauern zum Vorteil der Musiker:innen auf. Festivals sind für sich genau so Institutionen wie freie Jazzorchester und Kollektive, von denen es in Berlin einige gibt, wie etwa das Andromeda Mega Express Orchestra seit 15 Jahren, das Trickster Orchestra oder das noch jüngere KIM Collective. Jede nachhaltige Struktur stärkt die Szene, zumindest wenn sie offen bleibt.

House of Jazz in der Alten Münze?

Genau darum geht es beim geplanten House of Jazz oder „Zentrum für Jazz und improvisierte Musik“ in der Alten Münze, wie der Arbeitstitel mittlerweile heißt. Drei Parteien haben einen Entwurf für das zentrale Haus 4 eingereicht, um zu verhindern, dass Berlin ein weiteres als Mietbude getarntes Kulturzentrum erhält. Zusammen mit dem Ideengeber und Star-Trompeter Till Brönner, der gut 13 Millionen vom Kulturstaatsministerium und seiner Noch-Chefin und Jazzfan Monika Grütters mitgebracht hat, entwarfen die IG Jazz und die deutsche Jazzunion das Siegerkonzept. Es will viele beteiligen, aber dennoch eine Bühne für das next level bieten. Die Musiker:innen sind bereits hier. Jetzt muss Berlin sie nur noch beschäftigen können. Die Chancen standen schon lange nicht mehr so gut – für Jazz, für die Szene, für uns Hörer:innen.

Unser Autor ist freier Kulturjournalist. Er war Juror beim Hauptstadtkulturfonds, bei der Spartenoffenen Förderung des Landes Berlin sowie Experte für die Soforthilfe IV des Berliner Senats. Gerade ist bei Hanser Berlin sein neues Buch erschienen: „Play Pause Repeat – Was Pop und seine Geräte über uns erzählen“.


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