Rap-Klassiker

Sidos „Mein Block“ wird 20 Jahre alt: Alt und grau, aber immer MV

2003 katapultierte „Mein Block“ Sido vom Bordstein zur Skyline. Geld, Drogen, Sex. All das wurde Realität für den Rapper. Glücklich machte ihn das nicht. In der Pandemie stürzte er ab. Mit „Paul“ gelang Sido 2022 das Comeback. Eine Würdigung zum Jubiläum.

Screenshots aus dem Musikvideo zu Sidos Hit „Mein Block“. Foto: Sido – Mein Block (Official HD Version Aggro Berlin / Youtube Screenshot

Sido schrieb mit „Mein Block“ eine sozialkritische Berlin-Hymne

Egal ob Fan oder nicht, jeder hat seine eigene Geschichte zu Sido zu erzählen. Seit zwei Jahrzehnten ist der Rapper aus dem Hip-Hop-Business nicht wegzudenken. Sein kometenhafter Aufstieg begann im Dezember 2003, vor genau 20 Jahren. Da erschien auf dem Labelsampler „Aggro-Ansage Nr. 3“erstmals Sidos Straßenrap-Klassiker „Mein Block“. 

Eine neue Berlin-Hymne war geboren aus dem Schoß der verruchten Großwohnsiedlung, in der Geld, Sex und Drogen für die verarmte Jugend der heilige Gral waren im Game um möglichst viel Streetcredibility. Als Kind der 90er-Jahre war „Mein Block“ nach dem „Arschficksong“ für mich und meine Freunde das zweite große Ding von Sido. Die expliziten Reime sprachen unsere pubertäre Infantilität an, arschwackelnde Nutten aus dem dazugehörigen Musikvideo lieferten im beginnenden Internetzeitalter noch die hochauflösenden Bilder fürs Kopfkino. Offensichtlich gefiel das nicht nur uns. „Mein Block“ war der Song, der Sido an die Spitze von Hip-Hop-Deutschland und letztlich das ganze Genre aus der Nische in den Mainstream katapultierte. 

Paul Würdig alias Sido bei einem Konzert in der Max-Schmeling-Halle am 10. November 2023. Foto: Imago/Martin Müller

Romantisierung der Tristesse: Sidos Rap war immer autobiografisch

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Heute, 20 Jahre später, feiere ich das Lied immer noch. Wenn auch aus anderen Gründen als damals, so erwachsen und reflektiert darf man sich inzwischen fühlen. „Mein Block“ ist weit mehr als eine geldscheingeschwängerte Fleischschau eines (ehemaligen) Maskenfetischisten. Längst habe ich erkannt, dass das Lied vom Zusammenhalt in einer sozial schwachen Nachbarschaft erzählt, der als Antwort auf die Anonymität in der Großstadt verstanden werden muss. Es zeigt eine Seite Berlins, die mit der Gentrifizierung an den Stadtrand und so kontinuierlich aus dem Bewusstsein gespült wurde, aber irgendwie ja doch zur DNA der Stadt gehört: das Atzige, das bis heute von der Gropiusstadt bis ins Märkische Viertel weiterhin existiert. Auch wenn Instagram, TikTok und Co uns ein anderes, ein weichgewaschenes Berlin-Bild vermitteln.

Auf persönlicher Ebene nutzte Sido die Romantisierung der Tristesse als Möglichkeit, das am Ende doch nicht so geile Leben am gesellschaftlichen Rand zu verarbeiten. Es war eine Message, die damals noch hinter der Maske von Sido und seinem prolligen Programm verborgen lag. Heute zeigt sich, dass „Mein Block“ das erste in einer Reihe von Liedern werden sollte, in denen Paul Würdig seine Schwierigkeiten und biografischen Brüche zu verarbeiten versuchte. Damals noch im Ghettostyle, später dann im Popgewand.

Mit Totenkopf-Maske und wüsten Gesten profilierte sich Sido in den Anfangsjahren als Gangsterrapper. Foto: Imago/T-F-Foto

Sido ist immer noch angesagt: zehn ausverkaufte Weihnachtsshows

Als meinen Freunden Sido zu sehr Mainstream geworden war, hörte ich ihn immer noch gerne. Berührt hat mich „Hey du!“, das Lied, in dem Sido den „Linie 1“-Musicalrefrain zu „Marias Lied“ sampelte. Vor dem Hintergrund erzählt er seine eigene Geschichte: von der Flucht seiner alleinerziehenden Mutter aus der DDR, dem Alltag im Auffanglager, von der Endstation in der Plattenbausiedlung. 

Sidos jüngstes Album „Paul“ (2022) erscheint so gesehen als Höhepunkt einer songwriterischen Entwicklung. Das ganze Werk – und nicht nur ein einzelnes Lied – ist das Ergebnis der Aufarbeitung von Würdigs Leben jenseits der Maske, die ihn, selbst ungetragen, zu Sido macht. Erst mit diesem Album wurde deutlich, wie tief der Rapper während der Pandemie fiel. Ohne, dass irgendjemand es gemerkt hätte, holten ihn die alten Tage ein.

Drogenexzesse, die Vernachlässigung der Kinder, die Trennung von seiner Frau Charlotte. Ehrlich spricht der Rapper in den neuen Liedern über Abstürze, den Vaterkomplex, die vier Kinder, denen er ebenso wenig wie sein eigener Erzeuger ein Vorbild war. Wer „Paul“ kennt, wird „Mein Block“ nicht mehr nur als frech-fröhlich, sondern auch traurig wahrnehmen. Die Maske als Schutzschild für einen Jungen mit Ostbackground, dem das Leben im Westen alles andere als Verheißung war.  Sidos Begeisterung für Berlin ist genauso greifbar wie die Schattenseiten dieser Stadt. 

Ein Herz von/für Sido. Foto: Imago / HMB Media/Markus Koeller

Auch wenn der Rapper längst weggezogen ist, das Märkische Viertel trägt Sido immer im Herzen

Sidos innere Zerrissenheit, offenbart in „Paul“, war von außen betrachtet kaum zu erkennen. Seine Fans, die von damals, wie ich einer war, genauso die neuen, die er im Laufe der Zeit hinzugewann, hat er mit seiner neuen Offenheit jedenfalls nicht verschreckt. Im Gegenteil: Auf seiner im November geendeten Tour wirkt er populärer denn je, frischer denn je – auch wenn die Zeit Spuren hinterlassen hat. Statt Maske trägt Sido inzwischen Brille, der Haaransatz wird dünner, der Bart immer länger. Alt und grau ist er geworden, wie er in „Mein Block“ prophezeit hat. Ein anderes Versprechen hat er nicht eingelöst. Doch auch wenn der Rapper längst weggezogen ist, das Märkische Viertel trägt er immer im Herzen. 

Die aktuelle Tour ist abgeschlossen. Tausende in Deutschland feierten Sido, der immer auch Paul aus der Großwohnsiedlung war. Das Fest ist jedoch noch nicht zu Ende. Im Dezember 2023 lädt der traditionsbewusste Rapper gleich an zehn Tagen zur jährlichen Weihnachtsshow ein. Die ebenso gute wie für alle Leerausgegangenen traurige Nachricht ist, dass sämtliche Shows bereits ausverkauft sind. Vor vollem Haus wird es sich Sido also am festlich geschmückten Kamin gemütlich machen, gemeinsam mit seinen Homies und den Atzen. Und natürlich darf neben „Mein Block“ dann auch der „Weihnachtssong“ nicht fehlen. Der wird in diesem Jahr übrigens auch 20 und erschien, kaum einer weiß es, ebenfalls auf „Aggro-Ansage Nr. 3“. Beide Lieder machen immer noch Spaß.

  • Columbiahalle Columbiadamm 13–21, Kreuzberg, Di 12.–So 17.12.2023 + Di 19.–Fr 22.12.2023, Infos

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