Musikstadt Berlin

Berlin ist zur Hauptstadt der Vinyl-Presswerke geworden

Bislang las sich die Geschichte der Berliner Schallplattenproduktion schnell, es gab nämlich keine. Doch nach dem Vinyl-Boom der letzten Jahre pressen nun zwei Firmen in Berlin frische Platten: Wir waren zu Besuch bei den beiden Berliner Vinyl-Presswerken intakt! und Objects Manufacturing. Ein Branchenbericht.

Der Stoff, aus dem die Träume sind. Buntes Vinyl aus der intakt!-Produktion. Foto: intakt!
Der Stoff, aus dem die Träume sind. Buntes Vinyl aus der intakt!-Produktion. Foto: intakt!

Vinyl-Produktion wäre lange in Berlin gar nicht möglich gewesen

Der Pionier der Berliner Schallplattenproduktion steht in einer Halle in Marienfelde. Während nebenan an den automatischen Pressmaschinen schwarze LPs auf eine Spindel fallen, hält Max Gössler, Gründer der intakt! Presswerk GmbH, eine bunte Scheibe hoch: „Wir machen gerade eine aufwendige Produktion, ein 8-LP-Set mit mehrfarbigen Platten für Len Faki“, erzählt er. Dies lässt sich nur an einer manuellen Presse produzieren. Mehrfarbige Schallplatten seien keine Seltenheit mehr, doch dieses Set gehe über die bekannten Farbmuster hinaus.

Faki, Resident-DJ im Berghain, brachte Artworks mit und wollte diese, so gut es geht, in Vinyl reproduziert haben. Nach langem Probieren sei es gelungen, die geometrischen Formen zu erzeugen, sagt Gössler und zeigt eine pinke LP mit einem blauen Quadrat. Wohlgemerkt, dies ist kein gedrucktes Bild, sondern gepresst aus einem Klumpen Vinyl, wie jede andere Schallplatte auch.

Sehr lange wäre so etwas in Berlin überhaupt nicht möglich gewesen. Denn die Geschichte der Berliner Schallplattenproduktion ist kurz. Eigentlich gibt es gar keine, zumindest nicht aus der Zeit, als Vinyl das vorherrschende Tonträgermedium war. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren in der Stadt verschiedene Hersteller von Schellackplatten ansässig, allen voran die Carl Lind-ström AG in der Schlesischen Straße in Kreuzberg. Deren Gebäude werden heute als „Schellack-Höfe“ vermarktet, doch die Produktion wurde bereits in den frühen 1950ern nach Köln verlegt.

Kurz darauf trat Vinyl seinen Siegeszug als Schellack- Nachfolger an

Kurz darauf trat Vinyl seinen Siegeszug als Schellack- Nachfolger an. Die Massenfertigung ab den 1960ern erforderte Platz, der in West-Berlin nicht vorhanden war. Wohl auch aus diesem Grund siedelte sich während der Teilung nie ein industrielles Presswerk an. Und in der DDR kamen die Tonträger zwar vom VEB Deutsche Schallplatten Berlin, das Presswerk selbst befand sich jedoch in Babelsberg und damit in Potsdam. Lediglich Kassetten wurden in Johannisthal produziert.

Nach 1990 änderte sich die Situation zunächst nicht. Vinyl verlor seinen Status als Massenmedium zugunsten der CD, blieb jedoch, für Manche überraschend, bevorzugter Tonträger in verschiedenen Subkulturen. Gerade in der Clubkultur beschäftigte man sich weiter intensiv mit den akustischen Möglichkeiten von Schallplatten. In Berlin führte dies zur Gründung von Studios für Schallplattenschnitt, am bekanntesten dürfte hier Dubplates & Mastering sein, doch das eigentliche Pressen, die Vervielfältigung, geschah in den alteingesessenen Presswerken. 

Warum auch nicht? Die Preise waren niedrig, die Produktionszeiten kurz. Neue Pressmaschinen wurden ohnehin nicht mehr gebaut, die vorhandenen waren mehrere Jahrzehnte alt und nicht einfach zu bekommen. Neugründungen von Presswerken in den 1990ern gab es durchaus, anderswo in Deutschland, diese arbeiteten jedoch mit gebrauchten Maschinen, die in aller Welt abgestoßen wurden, als man allein auf die CD setzte. 

­ Vinyl-Presswerke: intakt!-Chef Max Gössler
­intakt!-Chef Max Gössler. Foto: ­intakt!

Das änderte sich um 2010, als Vinyl eine immer größer gewordene Nische behauptete und eine unerwartete Renaissance erfuhr. Bei denjenigen, die der Schallplatte bis dahin die Treue gehalten hatten, löste dies nicht nur Freude, sondern auch Frust aus: Die Produktionszeiten stiegen rasant von vier Wochen auf sechs Monate, kleine Labels liefen Gefahr, zugunsten der großen benachteiligt zu werden. In dieser Gemengelage liegt die Geburtsstunde der Berliner Schallplattenherstellung.

Max Gössler, gebürtiger Hamburger, zog nach einem VWL-Studium nach Berlin. Zusammen mit seinem Bruder organisierte er das Somedate-Festival in Weimar, für das dazugehörige Label wollte er Platten produzieren lassen. Doch die gestiegenen Fertigungszeiten machten ihnen einen Strich durch die Rechnung. So entstand 2014 die Idee, ein eigenes Presswerk zu gründen. Damals eine kühne Idee, doch ihre Vernetzung in der Szene sollte für Kunden sorgen, die dieselben Probleme hatten. 2016 war es soweit: Gössler gründete zusammen mit einem Partner intakt! in einer Halle am Trachenbergring, die zuvor zu Tyco Electronics gehörte.

intakt!: Eine halbe Million Schallplatten

Los ging es mit zwei manuellen Pressmaschinen, deren Herstellung inzwischen wieder begonnen hatte. Doch das ist nicht das einzige, was man zur LP-Fertigung braucht: Am Beginn jeder Produktion steht der Schnitt. Auf einer speziellen Maschine wird die Rille einer Schallplattenseite geschnitten, entweder klassisch in eine Lackfolie oder, beim in den 1980ern entwickelten Verfahren DMM (Direct Metal Mastering), in eine Kupferfolie. Die auf den Schnitt spezialisierten Studios arbeiten in der Regel mit vielen Presswerken zusammen, sodass intakt! hierfür nicht selbst sorgen musste. Anschließend folgt der für das Presswerk diffizilste Schritt: die Galvanik. In einem komplexen chemischen Prozess wird aus der Folie das Negativ, der sogenannte Stamper, erzeugt, von dem letztendlich die Platten gepresst werden. Dies erfordere Erfahrung und Know-How, vieles könne schiefgehen, dann knistere die neue Platte etwa. „Wir standen vor der Wahl, in eine eigene Galvanik und ins Know-How zu investieren oder die Stamper extern fertigen zu lassen“, sagt Gössler. Heute ist  intakt! an der Firma Stamper Discs in Sheffield, England beteiligt. Die Folien gehen dorthin, die fertigen Stamper landen in Berlin.

Kurz nach der Gründung kamen neben manuellen auch neue automatische Pressen auf den Markt. intakt! kaufte zwei. Der Co-Gründer war inzwischen ausgestiegen, Gössler lernte die Bedienung der neuen Geräte und stellte die ersten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein. Das Team ist mittlerweile auf 16 Personen angewachsen, im Jahr 2022 wurden etwa eine halbe Million Schallplatten produziert. „Wir liefern marktfertig aus“, sagt Gössler, direkt an die Labels und Vertriebe. Die Cover werden von Druckereien angeliefert und vor Ort zusammengesteckt. Die normalen einfarbigen LPs kommen aus den automatischen Pressen, auf den beiden manuellen werden heute die Spezialwünsche der Kunden erfüllt. Wie bei Len Faki, der den Produktionsabschluss der LP-Box kürzlich stolz auf Instagram verkündete, komplett mit Videos aus dem Werk.

Vinyl-Presswerke: Auf die erste Vinyl-Krise um 2014 war eine zweite gefolgt

Auf solche Formen der Kundenbindung setzt auch das zweite Berliner Presswerk: Objects Manufacturing in der Wilhelminenhofstraße, im alten Oberschöneweider Industriegebiet. Hier ist alles noch ganz neu, im August dieses Jahres ist die erste bestellte Produktion ausgeliefert worden, für das Berliner Techno-Kollektiv BCCO. Die Gründungsgeschichte von Objects Manufacturing beginnt 2021 und hört sich ähnlich an wie die von intakt!: Zwei Freunde, ebenfalls aus der Clubszene, waren unzufrieden mit den Produktionsbedingungen anderswo.

Denn auf die erste Vinyl-Krise um 2014 war eine zweite gefolgt, zunächst bedingt durch die Pandemie und damit verbundene Lieferengpässe beim Rohstoff und Karton, später verstärkt durch eine weiter erhöhte Nachfrage, nun auch außerhalb musikalischer Nischen. Saturn und Dussmann vergrößerten ihre LP-Abteilungen, Künstlerinnen und Künstler wie Adele oder Metallica verkauften plötzlich Vinyl-Rekordauflagen. Erneut kamen die Presswerke mit den Aufträgen nicht mehr hinterher, die Zeit war reif für weitere Neugründungen, in Europa, in Deutschland und auch in Berlin.

Vinyl-Presswerke: Jeremy Guillot von Objects Manufacturing kippt das Vinyl-Granulat nach. Foto: Max Hartmann
Jeremy Guillot von Objects Manufacturing kippt das Vinyl-Granulat nach. Foto: Max Hartmann

Objects Manufacturing wurde gegründet von Jeremy Guillot vom Label Bright Sounds und Daniel Plasch, der Betreiber des legendären Stattbad Wedding war und heute Manager des Clubs Revier Südost und aktives Mitglied der Berliner Clubkommission ist. Plaschs Erfahrungen als Clubbetreiber mögen dafür gesorgt haben, dass der Standort ihres Werks so aussieht, wie er aussieht: Eine beeindruckende Halle direkt an der Spree, luftig und groß, mit Platz für Aktivitäten auch außerhalb der eigentlichen Vinyl-Produktion, etwa für Workshops, DJ-Sets oder Release-Partys. „Wir wollen ein Hub sein für die Szene“, sagt Plasch. Die Künstler und Label-Chefs sollen persönlich vorbeikommen können und eingehende Beratung bekommen, auch was Cover und Verpackung angeht. „Auch Label-Gründer wissen in der Regel nicht schon alles“, hier wolle man einhaken und den Produktionsprozess möglichst transparent gestalten.

Objects Manufacturing: von Anfang an unabhängig von externen Unternehmen

Während Folienschnitt und Cover-Druck ebenfalls extern geschehen – eine eigene Siebdruckwerkstatt ist eine Idee für die Zukunft –, hat Objects Manufacturing im Gegensatz zu intakt! eine eigene Galvanik eingerichtet und stellt also die Stamper für den Pressvorgang selbst her. Mitarbeiter wurden hierfür aufwendig geschult. So wolle man von Anfang an unabhängig von externen Unternehmen sein und möglichst viele der Produktionsschritte lokal bündeln, auch im Hinblick auf Energieeffizienz und Nachhaltigkeit, die ohnehin bei allen Planungen der Produktionsstätte im Fokus stand. Daneben wird die Stamper-Herstellung auch für andere Presswerke ohne eigene Galvanik angeboten. Ihren Dienst in der Pressung tun bei Objects Manufacturing derzeit zwei automatische Maschinen. Platz für mehr ist vorhanden.

Mit gleich zwei Firmen ist Berlin in kurzer Zeit nun also auch zur Hauptstadt der Vinyl-Presswerke geworden. Natürlich nur, was die Zahl der Unternehmen angeht, denn sowohl intakt! als auch Objects Manufacturing sind klein im Vergleich zu den großen alten Werken wie Pallas im niedersächsischen Diepholz, wo im Mehrschichtbetrieb gearbeitet wird. Naturgemäß wendet man sich in Berlin aber an die kleinen, subkulturell verorteten Musiker und Labels, die es hier in großer Zahl gibt, bei weitem nicht nur in der House- und Technoszene. Plattenherstellung in der eigenen Stadt, mit persönlichem Kontakt, das kann für viele attraktiv sein. Sollen doch Metallica woanders die Pressmaschinen belegen – die coolen Scheiben kommen nun (auch) aus Berlin.

  • intakt! Trachenbergring 85, Marienfelde, online
  • Objects Manufacturing Wilhelminenhofstr. 76/77, Schöneweide, online

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