Interview

Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow: „Wenn schon Museum, dann Lego“

Tocotronic wurden berühmt als Hamburger Phänomen, mittlerweile hat Dirk von Lowtzow aber 20 Bandjahre in Berlin verbracht. Wir haben ihn zum Gespräch getroffen: über Nostalgie und den Geist von David Bowie, Größenwahn und Tiefkühlpizza.

Dirk von Lowtzow bei einem Tocotronic-Konzert 2018. Foto: Imago/Christoph Worsch
Dirk von Lowtzow bei einem Tocotronic-Konzert 2018. Foto: Imago/Christoph Worsch

Tocotronic sind Kinder des Kalten Krieges

tipBerlin Herr von Lowtzow, leben Sie gerade in Frieden?

Dirk von Lowtzow Wenn man kulturkritisch veranlagt ist, wie ich es zumindest phasenweise bin, könnte man die Stimmung, die wir gerade erfahren, als vorkriegsartig beschreiben. Es haben sich doch so manche düstere Vorhersagen der letzten Jahre schon erfüllt. Und natürlich ist der Blick auf die Ukraine furchteinflößend, vor allem, wenn man, wie wir bei Tocotronic, Kinder des Kalten Krieges sind.

tipBerlin Gab es eine Phase in Ihrem Leben, die von Unfrieden geprägt war?

Dirk von Lowtzow Es gab krisenhafte, selbstzerstörerische Phasen in meinem Leben. Die hatten aber hauptsächlich mit Alkohol zu tun, wie ich mir später eingestehen musste. Gegenüber anderen neige ich glücklicherweise nicht zur Aggression.

tipBerlin Sie und Ihre Bandkollegen haben angekündigt, dass Ihr neues Album „Trost in der Hoffnungslosigkeit und Hoffnung in der Trostlosigkeit“ bringen soll. Ein großes Versprechen. Was erwartet uns bei „Nie wieder Krieg“?

„Nie wieder Krieg“ ist ein ziemlich klassisches Album

Dirk von Lowtzow Die Stücke handeln alle von Menschen, die am Kipppunkt ihrer Existenz stehen, die von innerer Zerrissenheit geplagt sind, die irgendwie im Krieg mit sich selbst sind, die Konflikte mit sich auszutragen haben und vulnerabel sind. Und es ist ein ziemlich klassisches Album, auch in Bezug auf unser eigenes Schaffen, es kommen viele Themen darin vor, die wir vorher schon bearbeitet haben.

tipBerlin Das Album wirkt wie eine Werkschau, fast wie ein musikalisches Zitatfeuerwerk, nur eben aus Selbstzitaten. Geht da ein Kapitel zu Ende?

Dirk von Lowtzow Tja, so tief in die Kristallkugel kann ich leider noch nicht gucken. Also grundsätzlich glaube ich, dass man nach jedem Album denkt: Was soll jetzt noch kommen? Das führt auch manchmal zu einer großen Unsicherheit. Man hat bei fast jedem Album das Gefühl, das könnte jetzt das letzte sein. Und macht es deswegen mit Energie und Akribie. Aber ich bin ganz zuversichtlich, dass da noch etwas kommen kann.

tipBerlin Bei der sogenannten Berlin-Trilogie haben Sie im Nachhinein drei Alben zu einem zusammenhängenden Werk zusammengefasst: „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005), „Kapitulation“ (2007) und „Schall und Wahn“ (2010). Das ist aber jetzt auch wieder ein paar Jahre und Alben her. Haben Sie einen Überbegriff für Ihre aktuelle Phase?

Ich glaube, dass da eine Tür aufgegangen ist“

Dirk von Lowtzow Zumindest für mich gehören „Das Rote Album“ (2015), „Die Unendlichkeit“ (2018) und das neue irgendwie zusammen. Das erste Stück nach dem Prolog des „Roten Albums“, „Ich öffne mich“, ist rückblickend – damals wusste ich das nicht! – vielleicht programmatisch zu lesen. Weil sich ab diesem Album eine gewisse Hermetik gelöst hat bei uns und wir ein bisschen freier, vielleicht auch schlichter in der Sprache, offener und großzügiger mit Informationen über uns in den Songs umgegangen sind. Weil wir einfach wieder persönlicher geworden sind. Ich glaube, dass da eine Tür aufgegangen ist, und ich finde die Frage interessant, wie weit das einen noch trägt.

tipBerlin Werden Sie seit dem autofiktionalen, sehr offenen „Die Unendlichkeit“ eigentlich öfter von Fremden in der Bar angekumpelt als früher?

Dirk von Lowtzow Nein, das nicht. Aber ich wurde oft auf das Stück „Unwiederbringlich“ und zuletzt bei den unvermeidlichen Spaziergängen auf unser Lied „Hoffnung“ angesprochen. Wildfremde Menschen haben ihre Erfahrungen und Ängste mitgeteilt. Das fand ich gleichzeitig verstörend und bewegend.

tipBerlin Kommt auch mit dem Alter eine gewisse Entspanntheit, sich zu öffnen?

Dirk von Lowtzow Puh, das weiß ich nicht. Also für das Album „Die Unendlichkeit“ trifft das mit Sicherheit zu. Wenn man autobiografisch arbeitet, empfiehlt es sich, zumindest schon ein paar Jahre auf dem Buckel zu haben. Sonst hat man nicht so viel zu erzählen (lacht). In den Nullerjahren bis hin zum Album „Wie wir leben wollen“ haben wir uns – oder ich mich als Songwriter – sehr für Theorie interessiert, für theoretische Texte. Das sickerte dann in die Songs ein. Deswegen sind sie aus heutiger Sicht sehr abstrakt, sehr verspielt, sehr zitathaft und sehr referenziell.

tipBerlin Was haben Sie damals so gelesen? Gibt es eine:n Autor:in, einen Text, der Sie besonders geprägt hat?

Jean-Luc Nancy hat Dirk von Lowtzow geprägt

Dirk von Lowtzow Wenn ich mich recht erinnere, waren das für „Wie wir leben wollen“ hauptsächlich Texte des jüngst verstorbenen Philosophen Jean-Luc Nancy, der sich intensiv mit dem Verhältnis von Innen und Außen, von Körper und Seele beschäftigt hat. Er stammte aus Straßburg, der Stadt, in deren unmittelbarer Nachbarschaft ich aufgewachsen bin.

tipBerlin Was ist nach Ihrer Theorie-Phase passiert?

Dirk von Lowtzow Irgendwann merkte ich, die Theorien geben mir nicht mehr so viel Erkenntnisgewinn, mich interessieren plötzlich ganz einfache, unmittelbare Erzählungen aus dem Leben. Ob das mit dem Alter kommt, weiß ich nicht. Diese Entwicklung hätte genauso gut umgekehrt laufen können.

Bei aller Theorieliebe doch eine richtige Rockband: Tocotronic live in der Columbiahalle. Foto: Imago/Carsten Thesing
Bei aller Theorieliebe doch eine richtige Rockband: Tocotronic live in der Columbiahalle. Foto: Imago/Carsten Thesing

tipBerlin Vergangenes Jahr waren Sie auf Tour mit „The Hamburg Years“, Sie haben ausschließlich alte Songs gespielt. Wie unterscheiden sich denn die Hamburger Jahre von den „Berlin Years“, wenn man es so zuspitzen möchte?

Dirk von Lowtzow Wir haben die „Hamburg Years“-Show im Sommer 15 Mal aufgeführt und dabei die Songs chronologisch gespielt, also vom ersten Song vom ersten Album, „Freiburg“, bis zu „Neues vom Trickser“ das letzte Stück vom „Weißen Album“…

tipBerlin …mit der berühmten Zeile: „Eins zu eins ist jetzt vorbei“.

Dirk von Lowtzow Wenn man das auf der Bühne chronologisch performt, dann merkt man schon: Das ist eine Reise, da wird ein Prozess dargestellt. Wenn man die „Berlin Years“ dazunehmen würde, geht es von da aus weiter. Dann würde man sehen, dass auch diese Alben wieder eine Reise ergeben: vom offensiven Spiel mit Zitaten und Verweisen, teilweise auch Gags, bis hin zu Stücken, die stärker autobiografisch geprägt sind und wieder ein bisschen mehr an unseren Anfang anschließen. Im allerbesten Fall schließt sich da ein Kreis.

tipBerlin Was hat der Umzug nach Berlin für Sie damals bewirkt?

„Es hat an allen Ecken und Enden gebrannt – nicht unbedingt nur Autos“

Dirk von Lowtzow Gerade die Nullerjahre in Berlin, als ich hierher gezogen bin, Ende 2002, waren eine unglaublich intensive und spannende Zeit. Man hat da sehr viel Inspiration mitgenommen und es hat an allen Ecken und Enden gebrannt – und damit meine ich jetzt nicht unbedingt nur Autos. Man hatte das Gefühl, hier passiert etwas. Es hat sich eine aufregende Kunstszene gebildet, sicherlich waren auch Institutionen wie die Volksbühne ein wichtiger Einfluss. 2015 habe ich dort ja dann eine Oper mit René Pollesch gemacht. Und natürlich waren da auch die Musiker:innen, die in Berlin leben und mit denen man ja auch heute noch im Austausch ist. Das war natürlich ein sehr inspirierender Ort, an dem man lebte.

tipBerlin Und was hat der Umzug für die Band und Ihren Sound bedeutet?

Dirk von Lowtzow Wir haben in Berlin zum ersten Mal mit unserem Produzenten Moses Schneider zusammengearbeitet, und der hat die Band für uns und mit uns gemeinsam ein ganzes Stückweit umdefiniert. Ich weiß nicht, was passiert wäre, hätte man ihn nicht getroffen. Und hätte man viele Alben, die in Berlin entstanden sind, nicht an ganz besonderen Orten in Berlin aufgenommen. Im Jahr 2004 in einem Studio am Paul-Lincke-Ufer, zwei Alben im Chez-Cherie-Studio in Neukölln – und das war noch vor dem Neukölln-Hype. Man dachte, wow, das ist echt interessant, hier passiert etwas, da hatten sich sehr nette Leute ein kleines Studio eingerichtet, eigentlich in einer Privatkünstler-WG. Wir haben zwei Alben im Candybomber-Studio aufgenommen im Flughafen Tempelhof, das ist natürlich historisch und in jeder Hinsicht ein wahnsinnig interessanter Ort. Also, ich habe schon das Gefühl, dass Berlin psychogeographisch in diese Alben einsickert.

tipBerlin Wo haben Sie das aktuelle Album aufgenommen?

„David Bowie kam als guter Geist herbeigeschwebt“

Dirk von Lowtzow Hauptsächlich im Hansa-Studio. Warum wir da vorher noch nie waren, weiß ich auch nicht. Das war ein tolles Erlebnis, mal in so einem „richtigen“, alten, geschichtsträchtigen Studio zu sitzen.

tipBerlin Ist dann auch so ein bisschen Bowie eingesickert?

Dirk von Lowtzow Er kam als guter Geist herbeigeschwebt. Und hat uns manchmal sanft über die Schulter geblickt. Davon bin ich felsenfest überzeugt.

tipBerlin Sie haben zuletzt eine Rückblicks-Tour mit alten Songs gespielt, nun ein neues Album voller Referenzen auf Ihre eigene Arbeit aufgenommen, in historischen Hallen. Arbeiten Tocotronic an Ihrer eigenen Musealisierung?

Dirk von Lowtzow Musealisierung klingt ziemlich schrecklich. Wie bei allen Museen sollte man da ein bisschen Provenienzforschung betreiben, sehr kritisch mit dem Inventar umgehen und vielleicht auch sehen, wem es eigentlich gehört. Insofern kann das natürlich ein spannender Prozess sein, aber… dass wir an unserer Musealisierung arbeiten, glaube ich eigentlich nicht. Nein, das würde voraussetzen, dass man sehr viel selbstgerechter ist, als wir es hoffentlich sind. Um sich selbst so eine Arche zu bauen oder einen Museumssaal, dafür muss man ein bisschen größenwahnsinnig sein. Und ich glaube, da denken wir schon in kleineren Bausteinen. Also wenn Museum, dann vielleicht aus Lego.

tipBerlin Jan Müller hat mal gesagt, für keinen aus der Band habe es zur Villa gereicht. Sind Tocotronic schlechte Sparer?

Dirk von Lowtzow Sparer? Wollen Sie mich veräppeln?

Steht im Zweifel links: Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow. Foto: Gloria Endres de Oliveira

tipBerlin Wie schafft man es auch nach fast dreißig Jahren, nicht größenwahnsinnig zu werden?

Dirk von Lowtzow Weiß ich nicht, ich neige dazu nicht so. Wir sind eher selbstkritisch und zweifelnd veranlagt, und das waren wir eigentlich auch schon immer. Das ist vielleicht das eine Rezept. Und das andere ist: In unserer Musik ist sehr, sehr viel Humor. Das würde ich nicht außer Acht lassen, das wird aber manchmal im Zusammenhang mit uns vergessen. Wir lachen ziemlich häufig und viel über unsere eigenen Spinnereien. Ja, ich glaube, dieses Lachen zersprengt auch oft den Marmor der Musealisierung oder des Größenwahns.

tipBerlin Welche Textzeile hat Sie zuletzt so richtig zum Lachen gebracht?

Dirk von Lowtzow Ich weiß, dass ich das Stück „Ich hasse es hier“ irgendwo in Berlin auf dem Land geschrieben habe, da fiel mir das ein. Mir fallen oft Sachen so beim Spazierengehen ein, so ohne Gitarre und Textzeilen und so. Und die Zeile „Mit Kräutern der Provence / Hast du keine Chance“, da musste ich schon selber lachen.

tipBerlin Essen Sie wirklich noch Tiefkühlpizza, wie der Song es nahelegt?

Dirk von Lowtzow Ja, das kommt schon manchmal vor. Es ist nicht mehr so oft nötig, es gibt jetzt so viele Pizzerien in Berlin, wo man sich sehr gute, auch neapolitanische Pizzen mitnehmen kann. Also, okay, Tiefkühlpizza gibt es weniger, aber mal ein Bistro-Baguette. Das ist noch eine Stufe drunter. Sie sehen also, auch das ist ein Weg, bescheiden zu bleiben und nicht größenwahnsinnig zu werden. Man sollte sehr viel Bistro-Baguette essen und sich dabei den Gaumen verbrennen. Da weiß man, wo man steht, so im Elend des eigenen Daseins.

  • Release-Streaming-Konzert aus dem SO36 über Youtube und die Kanäle von S036 und Radioeins, Fr 28.1., 19 Uhr, mehr Infos hier
  • Tocotronic live: In der Columbiahalle Columbiadamm 13–21, Kreuzberg, Fr 22.4., 20 Uhr, VVK 41,75 €, mehr Infos hier

Dirk von Lowtzow

Dirk von Lowtzow, geboren 1971 in Offenburg, ist Sänger und Gitarrist von Tocotronic. Unter dem Namen Phantom/Ghost veröffentlichte er gemeinsam mit Thies Mynther Musik und kollaborierte mit Acts von Fehlfarben über Charlotte Brandi bis DJ Koze. 2019 veröffentlichte er das Buch „Aus dem Dachsbau“. Auch seine Bandkollegen sind in ihrer Tocotronic-freien Zeit überaus aktiv: als Pop-Kolumnisten und Podcaster (Jan Müller), Comic- und Trickfilmer (Arne Zank) – oder mit anderen Bandprojekten, wie etwa Rick McPhail, der die Gruppen Glacier und Mint Mind betrieb oder betreibt.


„Nie wieder Krieg“: Rezension zum neuen Tocotronic-Album

Niemand denkt im Jahr 2022 beim Wort Tocotronic noch an die japanische Spielekonsole, von der sich die Band einst den Namen nahm. Einer solchen Institution zu unterstellen, sie kehrte zu ihren Wurzeln zurück, mag seltsam wirken, trifft auf das neue Album „Nie wieder Krieg“ aber doch zu. Denn nach „Die Unendlichkeit“ von 2018, auf dem Dirk von Lowtzow ungewohnt konkret seine Jugend verarbeitete, wenden sich Tocotronic nun wieder ab vom Autobiografischen und geben sich dem kryptischen Zeitkommentar hin. Kurz: Sie tun das, was sie am besten können.

Parolenhaftigkeit prägt die Titel der Lieder: „Ich hasse es hier“, „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“, der Titelsong „Nie wieder Krieg“. Aber die vermeintliche Agitation entpuppt sich als Poesie, der politische Kommentar als absichtlich ungefähres Spiel mit den Worten, ganz so, wie man es kennt und schätzen gelernt hat von Tocotronic. Natürlich sind die Texte dann doch Zeitkommentare, weil von Lowtzow aus den Eingeweiden einer verunsicherten Generation berichtet, die schon lange nicht mehr die Jugend ist, aber sich noch lange nicht alt genug fühlt, um Verantwortung für mehr als das eigene Seelenheil zu übernehmen: „Ich hasse es hier – und mich dafür.“

Nirgendwo kommt diese Verschränkung des großen Ganzen mit der eigenen Befindlichkeit so zum Ausdruck wie in den majestätischen Balladen, dem Titelstück und vor allem in „Ich tauche auf“. Das Duett mit Anja Plaschg alias Soap&Skin ist ein Liebeslied, vielleicht auch eine Auseinandersetzung mit Depressionen – nicht zuletzt beschreibt es aber auch sehr gut, wie sich dieses Land fühlt, wenn es aus einem Lockdown wieder auftaucht. Das schönste Lied eines großartigen Albums. Thomas Winkler

  • Tocotronic Nie wieder Krieg (Vertigo/Universal)

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