Pop-Beichte

Endlich Tocotronic-Fan: Mein langer Weg zur alten Lieblingsband

Endlich Tocotronic-Fan! Während die Band seit den Neunzigern zu vielen biografischen Soundtracks beigetragen und verlässlich Slogans für die alltäglichen Kämpfe, Wünsche und Konflikte des Lebens geliefert hat, machte unser Autor viele Jahre lieber einen Bogen um die umjubelte Gruppe. Vielleicht aus Trotz, zugegebenermaßen auch aus Überforderung – mit gerade 23 Jahren hat er viel Bandgeschichte schlicht mit Kindsein vertrödelt. Anlässlich unserer Tocotronic-Titelgeschichte im Print-tip und dem neuen Album „Nie wieder Krieg“, das am 28. Januar erscheint, erzählt er von seinem langen Weg zum Tocotronic-Fan. Eine persönliche Geschichte über das Aufwachsen am Stadtrand, die Suche nach einer musikalischen Identität, gescheiterte Rockstar-Ambitionen und das ewige Zuspätkommen als junger Musikfan.

Tocotronic begleitet viele Menschen seit Jahrzehnten musikalisch. Inzwischen ist auch unser Autor endlich Tocotronic-Fan. Foto: Imago/opokupix

Endlich Tocotronic-Fan: „Letztes Jahr im Sommer“

Wir stehen im erbarmungslosen Platzregen in Vierecken, die uns mit ihren klar gezogenen, weißen Linien daran erinnern, dass sich so einiges verändert hat in diesem seltsamen Jahr. Statt schwitziger Clubs gibt es nun halt Picknickkonzerte. Um ehrlich zu sein, ist das gar keine so schlechte Idee.

Zwischen den persönlichen Feldern auf der Industriewiese des Marienparks rauchen viele Mittvierziger Selbstgedrehte, ein erstaunlich hoher Anteil trägt gelbe Regenponchos, zwischen den Schlechtwetterprofis liegen Plastikdosen mit Bouletten, Käsespießen und Rosinenmuffins. Kinder in Gummistiefeln rennen ungeduldig zwischen den Markierungen hin und her. Zwischendrin trinken studentische Berlin-City-Klischees Brew-Dog-IPAs und betreiben Selbstdarstellung auf Denglisch. Doch nicht mal das kann mir an diesem Herbstabend im August auf die Nerven gehen. Zu sehr freue ich mich auf meine neue, alte Lieblingsband Tocotronic. Wie konnte es nur so weit kommen?

„Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“

Fast 20 Jahre früher tanze ich zwischen gelb-grünen Raufasertapeten durch mein Kinderzimmer. Mein Großvater hat mir eine CD mit Rock’n’Roll-Klassikern gebrannt. „Rock Around the Clock“ und „Peggy Sue“ haben es mir angetan. Schade nur, dass Bill Haley und Buddy Holly schon seit Jahrzehnten tot sind, wie ich etwas später schmerzlich erfahre. Meine Oma erzählt mir, wie sie als Jugendliche den Twist getanzt hat. Ich bin neidisch und mache den CD-Recorder aus.

Mein Vater hört Sex Pistols auf seinem alten Plattenspieler. Mein bester Freund und ich albern pubertierend über den Bandnamen herum. Er trägt ein Ramones-Shirt, die Punk-Sozialisierung durch unsere Familien war wohl erfolgreich. Wir wollen eine Band gründen, spielen Power-Chords auf unseren E-Gitarren, in einem Keller der provinziellen Spandauer Reihenhaussiedlung am Waldrand. Wir wollen Rockstars sein, Punks und irgendwie auch Rapper. Aggro Berlin, Sido natürlich: Musik für uns alleine, Musik, mit der wir uns ausnahmsweise mal vom Geschmack unserer Eltern abgrenzen und sie provozieren können, so gut das halt bei West-Berliner Alt-Punks funktioniert. Für eine Jugendbewegung reichts dann aber doch nicht, oder zumindest sind wir nicht richtig dabei – mal wieder.

Endlich Tocotronic-Fan: „Wir sind hier nicht in Seattle“

Unser Schicksal wiederholt sich gnadenlos im Laufe der Jahre. Nach der gescheiterten Rock’n’Roll-, Punk- und Hip-Hop-Karriere werde ich Hardcore-Nirvana-Fan, wie sollte es auch anders sein als nostalgischer Jugendlicher mit Hang zur musikalischen Selbstinszenierung. Fast 20 Jahre nach Kurts Tod weine ich um mein Idol. Dann kommt die Indie-Phase: Arctic Monkeys, White Stripes, Franz Ferdinand und natürlich die Strokes. Ich bin zwar wieder etwas spät dran, aber immerhin bei der Veröffentlichung der späteren, nicht mehr ganz so fantastischen Alben live dabei.

Parallel analysiere ich wie besessen Beatles-Akkordfolgen und Dylan-Texte. Meine ewigen Helden spielen zum Glück eh in einer Liga, die unabhängig von Zeit und Alter ausgetragen wird. Für einen kurzen Moment überlege ich, Folksänger zu werden. Mit Westerngitarre und Mundharmonika spiele ich „The Times They Are a-Changin'“ in einem Café an einer Ostseepromenade. Auch der ein oder andere Nirvana-Song mischt sich dazwischen. Am Ende des Tages bin ich in Schleswig-Holstein oder Spandau, nicht im Greenwich Village und erst recht nicht in Seattle.

„Let There Be Rock“

Die Reise muss weitergehen. Um zu verstehen, warum ich einfach nicht von der Musik wegkomme, obwohl mich mein Zuspätkommen immer wieder enttäuscht, studiere ich Musikwissenschaft. Das macht alles nur noch schlimmer. Ich treffe neue musikalische Wegbegleiter, die genauso süchtig sind wie ich. Stundenlang unterhalten wir uns über unsere Lieblingsplatten aus den 60ern und sammeln die ausgefallensten Neuentdeckungen aus dem Pitchfork-Jahresrückblick.

Wir erstellen Playlists zu jedem erdenklichen Thema, überlegen stundenlang, welche Version es in die Endauswahl schafft, und wir gründen eine Band: Ein mutiger Neuanfang nach Rock’n’Roll, Punk, Hip-Hop, Indie, Grunge und Folk. Wir wollen es wissen, toben uns an unseren Instrumenten aus, der kleine Proberaum an der Warschauer trieft vor Feuchtigkeit und schimmelt. Die Ohren pfeifen wie unsere aufgedrehten Röhrenverstärker. So habe ich mir das immer vorgestellt. „Let There Be Rock“ oder was auch immer.

Endlich Tocotronic-Fan: „Im Zweifel für den Zweifel“

In unseren Kneipendiskussionen am Kickertisch fällt immer wieder mal der Name Tocotronic. Ich halte mich raus oder mache schnell einen Schwenk zur neuen Curtis-Harding-Platte. Es ist mir etwas peinlich, dass ich in meiner musikalischen Weltreise einen Bogen um die Gruppe mit dem seltsamen Namen gemacht habe. Natürlich sind mir die Herren schon häufiger mal auf Rolling-Stone-Covern, CD-Booklets oder über Bluetooth-Boxen auf WG-Partys begegnet, wirklich tiefer wollte ich allerdings nie in die Materie eindringen. Vielleicht aus Trotz gegenüber euphorischen Musikkritiken, philosophischen Textbesprechungen und einer generationsübergreifenden Vergötterung dieser Spex-Gruppe mit strengen Scheiteln und gelangweilten Blicken; Vielleicht aber auch aus einer leichten Überforderung heraus.

„Aber hier leben, nein danke“

Auf dem Lollapalooza 2016, zwischen Henna-Tattoos, H&M-Kollektionen, Food-Trucks und Friede, Freude, Eierkuchen, steht plötzlich Tocotronic auf der Bühne im Treptower Park. Jess Glynne hat gerade fertig geschnulzt, bei Alan Walker ist eh alles verloren und die Kaiser Chiefs bereiten sich parallel auf die Bierduschen-Eskalation vor, was ja bei einem Festival auch nicht zu verurteilen ist. Meine alte Plattencoverbekanntschaft Dirk von Lowtzow beginnt zu singen, die Band spielt „Let There Be Rock“. Ein Songtitel von AC/DC und diese schreckliche Europe-Fanfare… Das ist mir echt zu viel des Guten.

Ich bleibe trotzdem standhaft, etwas Kultur mag ja zur Abwechslung von Stampfbeats und Pöbelei nicht schlecht sein. Außerdem kann es ja nur besser werden nach diesem Kulturschock zur Begrüßung. Dirk macht eine Ansage – uh, was kommt jetzt wohl: „Dieses Lied ist gegen alle Chauvinisten und Nationalisten“. Die Menge jubelt und die repetitive Urgewalt „Aber hier leben, nein danke“ beschert mir meinen ersten unvergesslichen Tocotronic-Moment.

Ich drehe durch, tanze und schreie diese wunderbare Parole in den Treptower Park hinein, verliere mich im krachigen Rausch, in dem sich die Tanzbarkeit von Haley und Holly, die Direktheit der Sex Pistols, die Brachialität von Nirvana und sogar die textliche Gewitztheit meiner Lieblingsrapper die Hand zu geben scheinen. Bei den Kaiser Chiefs nebenan tobt der Pogo, meine Freunde mittendrin. Ich bin froh, hier zu sein, und finde plötzlich sogar die „Final-Countdown“-Fanfare genial. „Muss man auch erstmal drauf kommen und witzig ist das ja schon irgendwie“, nuschle ich, während mir bei „Hi Freaks“ beinahe die Tränen kommen.

Endlich Tocotronic-Fan: „Electric Guitar“

Viele Monate später sitze ich vor einem mal wieder viel zu starkem Kaffee in meiner Küche. Die vergangene Nacht hätte auch echt früher enden können, meinem Kopf würde es auf jeden Fall besser gehen. Bis nachmittags wird mit mir nicht viel anzufangen sein, also entscheide ich mich, wenigstens die neuen Alben durchzugehen. Es ist ja Freitag. Immerhin. Zwischen gestalterischer Reizüberflutung in meiner Mediathek springt mir das Unauffälligste ins Auge. Weiße Punkte auf einem schwarzen Hintergrund. Sternenhimmel, „Unendlichkeit“. Neues von Tocotronic. Seit dem emotionalen Konzerterlebnis habe ich die Gruppe mal wieder vernachlässigt. Das Dickicht aus Platten, Referenzen, Musikvideos, Interviews, Nebenprojekten scheint undurchdringlich, oder zumindest fehlt mir dann doch die Motivation. Außerdem bin ich eh schon wieder zu spät.

Wer fängt 2018 an, Tocotronic-Fan zu werden? Egal wie viel ich höre, lese und schaue, alle anderen werden mehr über diese Band wissen als ich. Immerhin begleiten viele die Gruppe schon seit 30 Jahren. So alt bin ich noch nicht mal. Trotzdem will ich Dirks Stimme hören. Sein sanfter Gesang könnte meine Kopfschmerzen vielleicht vertreiben, oder mich zumindest etwas von meinem dehydrierten Körper ablenken. Küchenradio an, los gehts. Ich mache direkt den dritten Song an. „Die Unendlichkeit“ scheint mir in meinem Zustand etwas einschüchternd, „Tapfer und Grausam“ erst recht. „Electric Guitar“ klingt da schon eher nach einem Wohlfühlthema.

Endlich Tocotronic-Fan: Nach „Die Unendlichkeit“ von 2018 gab es keine Zweifel mehr. Foto: Artwork

Ein westernartiges Eisenbahnschlagzeug wie bei Johnny Cash peitscht voran und ein unheimlich klarer Gitarrensound schwebt durch den Raum. Der Song ist schnell, doch verlangsamt für etwa vier Minuten meine Welt. Ich spiele ihn direkt im Anschluss nochmal. Der Text erzählt meine Kindheit, meine Jugend und mein Jetzt! Nicht verklausuliert, metaphorisch oder ironisch. Die Szenerie und Beschreibungen treffen mich unvermittelt: Das berauschende Gefühl, im „Zimmer unter dem Garten“ zum ersten Mal die Saiten der E-Gitarre anzuschlagen, vom „Teenage Riot im Reihenhaus“ in der Spandauer Waldrandsiedlung zu träumen, „die Dose Haarspray in meiner Tasche“ zu verstauen, wie in meiner Zeit als Möchtegern-Punk, und letztendlich das betrunkene und verträumte Warten auf einen Bus, der wahrscheinlich eh nicht mehr kommt.

Wow, endlich verstehe ich, warum sich so viele Leute mit den Texten von Tocotronic identifizieren. Es spielt keine Rolle mehr, ob ein Song über Seattle, Freiburg oder Spandau geschrieben wurde. Musik ist universell und manchmal auch zeitlos. Menschen aus verschiedenen Orten und Generationen erleben Musik in ihren eigenen Interpretation, ihrer eigenen Zeit und ihrer eigenen Welt. Wie Dylan, Pistols, Nirvana und Co schaffen es auch Tocotronic aus diesem Grund, weiterhin junge Menschen anzusprechen und gleichzeitig frühe Weggefährten nicht auf der Strecke zu lassen. Bestimmte Parolen und Motive bleiben für immer. Mich zumindest treffen Zeilen aus den 90ern genauso wie ihre aktuellen Songs. Vermutlich sieht es umgekehrt bei Leuten, die schon seit den Neunzigern dabei sind, nicht anders aus.

Die Türen in die Tocotronic-Welt stehen mir nun offen. Endlich habe ich die Kraft, mich durch jede noch so verworrene Popkultur-Referenz zu schlagen. Zwischendurch geht mir das alles auch mal ziemlich auf die Nerven. Wie sollte es auch anders sein. Für unvergessliche Musikmomente, wie ich sie mit „Aber hier leben, nein danke“ und „Electric Guitar erlebt habe, ist es die Mühe aber allemal wert. Kein Album werde ich in diesem Jahr so häufig hören wie „Die Unendlichkeit“.

„This Boy Is Tocotronic“

Zurück im Sommer 2021: Ich stehe im Kreideviereck auf dem Tocotronic-Picknickkonzert in Berlin. Übergewichtige Tropfen attackieren von allen Seiten und explodieren in Mantelkrägen. Da helfen auch keine Regenschirme mehr. Die Berlin-Klischees packen ihre Windbreaker aus, die Kinder springen in Pfützen und die Hardcore-Fans stehen ohne Regenschirm in T-Shirts im Sommersturm, essen Bouletten oder kämpfen mit ihrer Feuerzeugflamme gegen den Wind an. Mir schwirren Gedanken durch den Kopf, ich bin tatsächlich aufgeregt, zum ersten Mal als Fan Tocotronic live zu erleben. Neben meiner Freundin sind auch meine Eltern mit dabei. Mein Vater freut sich: „Ach, die kennen wir doch noch von früher.“ Wir warten eine Ewigkeit. Irgendwann betreten Dirk, Jan und Rick die Bühne. Doch etwas stimmt da nicht.

Bei dem Regen helfen auch keine Regenschirme mehr. Das stört in dem Moment aber niemanden. Foto: Privat

Die Band scheint aufgeregter als wir. Mit ernster Miene verkünden sie, dass Arne akute gesundheitliche Probleme hat. Ich denke, das ist mal wieder dieser seltsame Humor, den ich teilweise immer noch nicht ganz durchschaue. Leider irre ich mich. Der Schlagzeuger kann wegen Magenkrämpfen nicht auftreten. Ein enttäuschtes, doch verständnisvolles Raunen hallt zwischen den Industrieüberbleibseln des Marienparks. Als kleinen Trost spielen die anderen drei Mitglieder eine Handvoll Songs ohne Schlagzeug. Bei „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“, denke ich daran, wie lange ich nicht bereit für Tocotronic war. Wenige Minuten später ist der Auftritt vorbei.

Wir sitzen völlig durchnässt im Auto. Meine Eltern versuchen mich aufzumuntern, dabei bin ich überhaupt nicht traurig. Ich lasse „Hoffnung“ über die Musikanlage laufen. Während Regentropfen an den Scheiben um die Wette rennen, denke ich daran, wie ich mit meiner Oma zu Bill Haley tanze, mein bester Freund und ich Power-Chords im Reihenhaus-Keller schmettern. Ich erinnere mich an Sido-Imitationen auf der Rückbank und Tränen für Kurt. Natürlich auch an meine kurze Folksängerkarriere am Ostseestrand. Inzwischen läuft „Electric Guitar“ und ich freue mich jetzt schon auf mein erstes richtiges Tocotronic-Konzert als Fan. Hoffentlich dann nächstes Jahr, in einer Herbstnacht im August.


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