Der Körper sei eine unverschämte Grenze, findet Sarah Berger. Die Berlinerin ist eine der derzeit spannendsten deutschsprachigen Autor*innen. Ihre Social-Media-Kanäle sind Fundgruben für Fotokunst und autofiktionale Fragmente, in denen sie über komplizierte Dinge wie Dating und Sex, Identität und Macht nachdenkt. Gerade hat sie drei Bücher herausgebracht.
Sarah Berger hat gerade drei Bücher herausgebracht, aber derzeit träumt sie von einer anderen Veröffentlichungsform: Am liebsten wäre ihr eine Kiste mit Karten, auf denen Texte stehen und die man sich zufällig ziehen kann. Die Leserinnen wüssten nie, was sie bekämen, vielleicht eine Miniatur über Rauschzustände, vielleicht eine über Sexspielzeug, das eigentlich nicht „Spielzeug“ heißen sollte, weil man damit schließlich die Lust pflege, oder Überlegungen wie diese: „Ich bin innen. Jeder Versuch, nach außen verständlich zu sein, gleicht dem Umstülpen eines Handschuhs. Wie ich mich drehe und wende, es entsteht ein Hohlraum.“
Die Berliner Autorin Sarah Berger, geboren 1985 im rumänischen Timișoara, Fotografin, Performerin und eine der derzeit spannendsten deutschsprachigen Autorinnen, ist in den Park am Gleisdreieck gekommen, um über ihre Arbeit zu sprechen. Es nieselt, aber sie hat keinen Schirm dabei. Sie spricht schnell und konzentriert, in etwa, wie man es sich vorstellt, wenn man ihre Texte kennt. Dabei ist sie im Internet eine andere, irgendwie.
Sarah Berger hieß in den Sozialen Netzwerken lange @milch_honig
Auf Twitter, Instagram und Facebook tritt oder trat sie unter dem Namen Sarah Süßmilch auf, „@milch_honig“ war lange ihr Handle. Ihre Social-Media-Kanäle sind Fundgruben für Fotokunst und autofiktionale Fragmente, in denen Berger/Süßmilch (so genau weiß man das nie) über komplizierte Dinge wie Dating und Sex, Identität und Macht nachdenkt.
Als Berger ihre Social-Media-Figur erfand, war sie gerade nach dem Philosophiestudium in Heidelberg nach Berlin gezogen. Sie hatte Liebeskummer, fühlte sich allein, und Twitter sei eben da gewesen. „Ich habe gemerkt, dass Social Media sich anbietet, um sich in eine Sprache und Figur hineinzufinden“, sagt sie. „Um zu testen, wie es sich anfühlt, Dinge zu schreiben, die ich nicht eins zu eins sagen würde.“
Ihr online veröffentlichtes Textmaterial bringt Berger in den drei Bücher, die sie – verteilt über Berliner Indieverlage – zuletzt veröffentlicht hat, in ganz unterschiedliche Formen: Bei Frohmann erschien mit „Lesen und Schreien“ ein Band mit Social-Media-Collagen – postdigitale Mini-Kunstwerke, in denen sich Screenshots und Texte gegenseitig überlagern.
„Sex und Perspektive“ (Herzstückverlag), ist im Vergleich ein fast klassischer Prosatext, der aber keinem festen Narrativ folgt, sondern eher einem Bewusstseinsstrom gleicht.
Und bei Sukultur erschien „bitte öffnet den Vorhang“, eine rückwärts erzählte Biografie der Persona milch_honig: In durchnummerierten Fragmenten, erschienen zwischen 2009 und 2019, vollzieht die Leserin die Ursprünge der Kunstfigur nach.
Körper, Entgrenzung, Schweiß, Strap-ons
„In ‚bitte öffnet den Vorhang‘ entspinnt sich aus Fragmenten, die auf Twitter und Facebook isoliert zwischen vielen anderen Beiträgen erscheinen, plötzlich ein Narrativ“, sagt Berger. „Gleichzeitig passt mir diese chronologische Reihenfolge nicht zu hundert Prozent.“ Deshalb die Idee mit der Kiste und den Karten.
Es wäre die perfekte Form, weil es bei Berger, die sich als queer versteht, immer um Entgrenzung geht, auch wenn die Limitationen und Funktionsweisen von Körpern im Mittelpunkt stehen. Menschen schwitzen und werden mit Strap-Ons gevögelt – deutlicher, greifbarer, körperlicher geht es kaum –, während Berger über das Los- und Auflösen schreibt: von Geschlechtergrenzen, von Identitäten.
„Der Körper ist eine unverschämte Grenze in einem selbst“, sagt Berger. „Das ist etwas, woran ich oft knabbere. Ich finde es unfair, dass man in einen Körper geworfen ist und damit klarkommen muss, dass dieser Körper eine Bedeutung für die Gesellschaft hat, die er für eine*n selbst nicht besitzt.“
Die Erfahrung, an diese „unverschämte Grenze” zu stoßen, kann bei Berger gewaltige Kräfte freisetzen. In „Horror vacui“, einem Text für das Magazin „Metamorphosen“, das im Verbrecher Verlag erscheint, morpht ein Wutausbruch über PMS und Periodenschmerzen zur Anklageschrift gegen die blinden Flecken der Medizin.
Mit ihrer Persona milch_honig, sagt Berger, habe sie eigentlich nichts mehr am Hut: Die Biografie „bitte öffnet den Vorhang“ war ihr Abschied von der Kunstfigur. Auf Twitter heißt sie nun sei_riots. Ihren großen Twitter-Account nutze sie eher für feministische Anliegen, etwa um das Verhalten eines Influencers anzukreiden, der Kollegin Franziska Lohberger heftig anging – für literarische Experimente betreibe sie „geheime Zweit- und Dritt-Accounts“.
Berger ist jetzt wieder eine andere. Und bleibt eine Künstlerin, in deren Werk man frei herumlaufen kann, als gebe es keine Grenzen.
Lesen und Schreien.
- Social-Media-Collagen Frohmann, 152 Seiten, 30 €
- Sex und Perspektive Herzstückverlag, 112 Seiten, 14,50 €
- bitte öffnet den Vorhang: @milch_honig 2009-2019 Sukultur, 132 Seiten, 20 €
Mehr Berliner Literatur:
Ihr seid auf der Suche nach der passenden Buchhandlung: Hier sind 12 gute Buchläden in Berlin. West-Berliner Hausbesetzerszene in den 80er Jahren: Der Roman „Aufprall“ des Autorentrios Bude/Munk/Wieland ist der akuelle Roman zur Zeit. Wir haben die drei getroffen. Ein neuer Band, herausgegeben von Thomas Böhm, versammelt faszinierende zeithistorische Beiträge aus der Zeit vor mehr als 100 Jahren, bevor Berlin zur Großstadt aufstieg. Wir haben Thomas Böhm zum Buch „Hans Ostwald – Berlin: Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904-1908“ gesprochen.