Refuge Worldwide begann einst als Partyreihe und entwickelte sich in der Pandemie zu einem weltweit gestreamten Community-Radio. Mittlerweile ist das Projekt weit mehr als das. Ein Besuch im Neuköllner Studio.
Refuge Worldwide: Von Soli-Partyreihe zum Community-Radio
Auf den ersten Blick sieht der kleine Laden in der Weserstraße aus, wie ein Neuköllner Café heutzutage aussieht. An den Tischen tippen Menschen in ihre Macbooks, hinter dem Tresen steht ein Regal mit Naturwein. Läuft man jedoch weiter in den zweiten Raum, findet man die Keimzelle eines der meistbesprochenen Community-Radios der letzten Jahre: „Refuge Worldwide“, zu deutsch „Weltweite Zuflucht“, hat hier sein Studio.
Das Gemeinschaftsprojekt ging aus der Soli-Partyreihe „Refuge“ hervor, die 2015 von dem Schotten George Patrick ins Leben gerufen wurde. Ursprünglich kam er für ein Praktikum bei Resident Advisor nach Berlin und entschied dann zu bleiben. „Berlin hatte alles, wonach ich in einer Stadt suche“, erzählt er. Als 2015 die Zahl der Geflüchteten in der Stadt anstieg, veränderte das seinen Blick. Dass er ohne Probleme herziehen konnte, während andere in Zelten schliefen? Eine Ungerechtigkeit, die ihm keine Ruhe ließ. So beschloss er, aktiv zu werden und begann Soli-Partys für Geflüchtetenorganisationen zu schmeißen. Die Partys waren von Beginn an ein Erfolg. Über fünf Jahre hinweg wurde im About Blank, der Grießmühle, Ohm, Sameheads, Klunkerkranich oder Prince Charles solidarisch gefeiert und die Einnahmen an verschiedene Projekte gespendet.
Doch dann die unvermeidbare Zäsur, die das gesamte Berliner Nachtleben stilllegte: 2020 begann die Coronapandemie. George blieb pragmatisch. Auf einer langen Fahrradtour zum Müggelsee mit dem DJ und Betreiber des Labels „Kynant Records“ Richard Akingbehin entwickelte er ein neues Konzept. Richard hatte bereits öfters auf den Refuge-Partys gespielt, die beiden waren gute Freunde. „Es war einer der ersten Tage im Lockdown“, erinnert sich Richard. „Aber als wir wiederkamen, waren wir voller Energie und Tatendrang.“
Kurzerhand entschieden die beiden, die Party in ein Online-Radioprojekt umzuwandeln. Im Oktober gewann Refuge den Preis des damals neu gegründeten „Tags der Clubkultur“, einer Initiative des Berliner Senats für Kultur – mit einem Preisgeld von 10.000 Euro. Geld genug, um eine eigene Website zu bauen. Im Januar 2021 ging sie online. Dem Namen „Refuge“ wurde das „Worldwide“ hinzugefügt.
Das Streamingprojekt war von Beginn an ein Erfolg, wie die beiden erzählen. „Gerade im ersten Lockdown haben sich die Leute nach so etwas gesehnt“, erinnert sich Richard. Und dennoch ließ der nächste Schritt nicht lange auf sich warten: Bei einem Spaziergang durch seinen Kiez entdeckte George eine leerstehende Gewerbefläche. Mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne mieteten sie das Café. Im Juni 2021 wurde es mit einer Corona-konformen Party eröffnet.
„Es war oft auch Glücksspiel“, so George. „Wir haben immer Schritt für Schritt gedacht. Dabei war immer klar: Wir könnten scheitern – es könnte aber auch klappen.“ Im August folgte dann das Aufnahmestudio im Hinterzimmer und wurde mit einer zweiten Einweihungsparty zelebriert. „Wir mussten dringend Geld machen“, sagt Richard lachend.
Refuge Worldwide: Rund um die Uhr Programm
Zwei Jahre später hat sich das Projekt deutlich professionalisiert. Mittlerweile wird das Programm 24/7 von Musiker:innen aus der ganzen Welt bespielt, in über 100 Ländern wird es gehört. „Refuge Worldwide“ managt die Livestreams von Festivals, wie etwa das CTM-Festival, und geht Kooperationen mit Brands wie zuletzt Nike ein. Zehn bis zwölf Personen sind fest angestellt, hinzu kommen zahlreiche Freelancer und mehr als 300 Residents im Radio.
„Wir sind sehr schnell, sehr stark gewachsen.“ erinnert sich George. Er selbst ist vor allem für das Administrative und die „Buisness-Vision“ zuständig, Richard eher für das Lineup und die künstlerische Leitung. Am Ende machen aber beide irgendwie alles – und das ist nicht immer leicht. „Wir haben als Musikliebhaber, Raver und Aktivist:innen begonnen.“ erklärt Richard. Plötzlich mussten wir auch zu Businessleuten werden. Niemand hat uns das beigebracht. Wir versuchen, diesen Wandel möglichst nachhaltig hinzubekommen.“
„Die Solidarität stand immer im Mittelpunkt des Projekts.“
- George Patrick, Co-Gründer von Refuge Worldwide
Welche genaue politische Ausrichtung Refuge Worldwide hat, ist nicht festgelegt. Das war nie notwendig: Das Projekt entstand aus einer Notwendigkeit heraus. Und meistens kamen die Projekte, die sie finanziell unterstützen, von selbst zu ihnen. Die ersten Gelder gingen etwa an den Queer Black Therapy Fund oder den Schilleria Mädchentreff in Neukölln, dessen Miete 2021 verdoppelt wurde. „Die Solidarität stand immer im Mittelpunkt des Projekts. Aber es gibt keinen schriftlichen Rahmen dafür, für wen diese Solidarität gedacht ist.“ erklärt George. „Manchmal ist sie reaktiv, wie zuletzt bei dem Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet, manchmal ist sie eher institutionell, manchmal ist sie eher langfristig, manchmal kurzfristig angelegt.“
Bei Refuge Worldwide werden unerfahrene Radiomacher:innen den Erfahrenen bevorzugt. Alle sollen hier voneinander lernen. Das zeigt sich etwa an dem kleinen Spielzeugtier, das im Studio hinter dem Mikro steht. Nikola, der die Morgen-Show moderiert und zuvor schon bei Sunshine Live gearbeitet hat, hat es hier platziert. Wer ins Mikro redet, soll sich einfach vorstellen, zu dem Tier zu reden – ein Insidertrick, so klingt man freundlicher.
DIY statt perfekter Produktion
Genau mit diesem DIY-Ansatz grenzt Refuge Worldwide sich von anderen Radioprojekten ab. „Bei den meisten Radios ist alles perfekt produziert und poliert. Aber stattdessen zu sehen, wie jemand mit kaum Radio-Erfahrung wirklich gut wird, ist die beste Belohnung für unsere Arbeit überhaupt.“ Richards und Georges Projekt soll eben mehr als nur eine Radiostation sein: Es ist ein musikalischer Rückzugsort, ein künstlerischer Raum für marginalisierte Perspektiven.
Workshops, Party-Tour und inklusive Projekte
Deshalb spielt auch die kreative Förderung eine große Rolle. Im Café finden häufig verschiedene Workshops statt, in denen man etwa das Auflegen lernen kann. Kürzlich hatten sie 40 Studierende eines Medienseminars zu Besuch, die über das Projekt lernen wollten. Im vergangenen Jahr organisierte das Team eine Europa-Tour mit Partys in elf verschiedenen Städten. Vor jeder Feier wurden lokale Musiker:innen zu Workshops eingeladen, die zum ersten Mal auf einem Club-Soundsystem spielen durften.
Klingt nach einer Menge Arbeit? Ist es auch, bestätigen Richard und George lachend. Und die zahlt sich aus: Für „Refuge Worldwide“ geht es scheinbar nur vorwärts. In diesem Jahr wird Richard das musikalische Line-up für die Special Olympics stellen. Und auch ein Projekt für hörbehinderte oder gehörlose Menschen ist geplant. „Manchmal ist es verrückt zu überlegen, dass wir als zwei Freunde dieses Projekt gestartet haben“, so Richard.
„Trotz dessen finanziert sich Projekt noch immer hauptsächlich über das Verkaufen von Getränken in der Oona Bar. Ob tagsüber als Café, oder nachts als Bar: Hier gilt eine Open-Door-Policy. Jeder ist willkommen, zum Abhängen, trinken oder Freund:innen treffen“, wie die beiden erklären. Bei einem Getränk kann den Radioshows gelauscht werden. „Also kommt zahlreich!“
In der Nähe gibt es nicht nur die Oona-Bar: Tipps für die Weserstraße von Brunch bis Kiezkultur. Bier, Zigaretten und wilde Bässen: Was Neuköllns Nachtleben sonst noch bereithält, könnt ihr hier lesen. Und auch bei Tageslicht gibt es hier viel zu entdecken: Diese Orte in Neukölln sind immer einen Besuch wert. Ihr wollt auch etwas tun?Soziales Engagement in Berlin: Hier könnt ihr euch einbringen. Texte zu Themen wie Feminismus und Antirassismus und anderem findet ihr in unserer Stadtleben-Rubrik. Empfehlungen für jeden Tag findet ihr bei unseren Tagestipps für Berlin. Und mehr aus und über Neukölln lest ihr hier.