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Kommentar

Catcalling und Slutshaming: „Willst du das wirklich anziehen?“

Die Frühling- und Sommermonate bringen nicht nur Sonnenstrahlen, steigende Temperaturen und gut gelaunte Berliner:innen mit sich, sondern auch eine Menge Catcalling und Slutshaming. Unsere Autorin schreibt darüber, warum die Sexualisierung von Frauen niemals eine Berechtigung hat, egal wie kurz ihr Rock ist.

„Kann ich den Minirock wirklich anziehen?“ – Eine Frage, die sich viele Frauen im Sommer stellen müssen. Denn sie wissen, je kürzer der Rock, umso obszöner die Anmachsprüche und umso aufdringlicher die Blicke der Männer. (Symbolbild) Foto: Imago/ YAY Images

„Vielleicht doch lieber den längeren Rock?“

Es ist offiziell: Der Frühling ist da und auch auf den Sommer müssen wir nicht mehr lange warten. Bald wird es Zeit, die kurzen Hosen, Röcke, Kleider und Crop-Tops aus den Tiefen des Kleiderschranks zu kramen. Doch je höher die Temperaturen, umso öfter stellen sich Frauen eine Frage, die einen sonnigen Morgen gut und gerne mal vermiesen kann: „Kann ich das wirklich anziehen?“ Schließlich warten auf dem Weg zur Arbeit eine überquellende Ringbahn, musternde Blicke und anzügliche Kommentare werden also vermutlich nicht ausbleiben.

Tagtäglich stehen Frauen vor einem Abwägungsproblem: Fühlt man sich selbstsicher und mental stark genug, um über Anmachsprüche hinwegzusehen? Selbst über die, die tief unter die Gürtellinie gehen? Gelingt es einem vielleicht sogar, einem aufdringlichen Mann einen schlagfertigen Konter zuzurufen? Oder entscheidet man sich doch lieber für den zehn Zentimeter längeren Rock, dem eigenen Schamgefühl zuliebe?

Einmal Catcalling zum mitnehmen, bitte

„Catcalling“ bezeichnet sexuell anzügliche Aufforderungen in Form von Hinterherrufen, Hupen, obszönen Gesten, Nachpfeifen oder sonstigen Lauten im öffentlichen Raum. „In Berlin gibt es so viele Paradiesvögel. Hier kann man anziehen was man will, ohne angestarrt zu werden.“ – Stimmt. Wenn man nicht gerade eine Frau ist. Denn bei einem Spaziergang durch Kreuzberg, verkleidet als rosa Panther würden die Blicke vermutlich kürzer an einem haften bleiben (Berliner:innen sind skurrile Gestalten gewöhnt und daher meist recht unbeeindruckt) als an einer Frau mit Minirock und bauchfreiem Top.

Sexuelle Objektifizierung bedeutet, eine Person ausschließlich als Objekt sexueller Begierde wahrzunehmen. (Symbolbild) Foto: Imago/ Christian Ohde

Auch verbale Gewalt muss ernstgenommen werden – Warum Catcalling strafbar sein sollte

Catcalling ist eine Form von sexualisierter verbaler Gewalt. Dennoch ist es nicht unrechtmäßig, wenn einer Frau von einer Männergruppe „Ey Baby, geiler Arsch“ hinterhergerufen wird. In Deutschland ist Catcalling nämlich anders als beispielsweise in Spanien oder Frankreich kein Straftatbestand und somit grundsätzlich legal. Sexuelle Belästigung ist nach deutschem Recht nur dann strafbar, wenn sie mit einer sogenannten „Ehrverletzung“ einhergeht. Ein lüsternes „Hey Sexy, bleib doch mal stehen“ reicht also nicht aus, um als unrechtmäßig zu gelten. Ausdrücke wie „Schlampe“ hingegen schon.

Die Begründung? Beleidigungen setzen das Opfer in ihrer Ehre herab, also das Ansehen einer Person aufgrund ihres offenbaren oder vorausgesetzten Wertes. Kurz: Ehre ist Ausdruck von Wertschätzung. Doch erniedrigt und degradiert fühlen sich Frauen auch aufgrund obszöner Anmachsprüche. Catcalling verletzt Betroffene sehr wohl in ihrer Ehre, von der Verletzung des Schamgefühls ganz zu schweigen.

Catcalling: „Gebt doch zu, dass ihr die Bestätigung genießt“

Die scheinbare Legitimation von Catcalling ist in unserer patriarchalen und sexistischen Gesellschaftsstruktur begründet. Zum einen behaupten einige nach wie vor vehement, bei dieser Art von Bemerkungen würde es sich in den meisten Fällen um Komplimente handeln. Die Auffassung ist: Frauen sollten sich einfach darüber freuen, wenn sie von Männern als sexuell attraktiv wahrgenommen werden. Ist das nicht sowieso das, was alle Frauen wollen? Männern gefallen?

Sexismus ist kein individuelles Problem, er ist tief in den Strukturen unserer Gesellschaft verankert. Sexismus ist der Überbegriff für unbewusste oder bewusste Diskriminierung auf der Basis des Geschlechts. (Symbolbild) Foto: Imago/agefotostock

Slutshaming: „Schlampen wollen doch, dass die Männer gucken“

Ein wichtiger Faktor in dieser Debatte: Slutshaming. Eine Praxis, insbesondere Frauen zu beleidigen und abzuwerten. Ihnen wird unterstellt, nicht dem von der Gesellschaft erwarteten äußeren Erscheinungsbild und Verhalten in Bezug auf weibliche Sexualität zu entsprechen.

Slutshaming ist eine beliebte Möglichkeit unter Sexist:innen, um Catcalling zu rechtfertigen. Nach dem Motto: „Wenn du dich so freizügig anziehst, musst du auch damit rechnen, dass Männer dir hinterher schauen“ oder noch schlimmer: „Frauen die so aufreizend rumlaufen, wollen damit doch bezwecken, dass die Männer was zu gucken haben.“ Doch was genau soll „provokante“ Kleidung überhaupt sein?

Eine Frau ist niemals für Sexualisierung, Objektifizierung und vor allem nicht Belästigung verantwortlich. Diese Meinung teilen aber nicht alle: Wenn ein Mann sich nicht beherrschen kann, liege das nicht an ihm und seinen sexistischen Denkmustern, sondern an der „Provokation“ der Frau, findet ein Großteil der Gesellschaft. Hinter dem Wort „provozieren“ versteckt sich eine vermeintliche Rechtfertigung: Männer könnten gar nicht anders als leichtbekleidete Frauen zu belästigen. Ihre Entscheidungsfähigkeit? Genommen von den bauchfreien Tops mit weitem Ausschnitt.

Frauen müssen sexy sein, aber bitte nicht zu sehr

Es könnte so einfach sein: Das Problem für sexualisierte Gewalt sind Frauen. Frauen und ihre kurzen Kleider. Doch so leicht ist es bei Weitem nicht. Das tatsächliche Problem heißt Sexismus. Ihm liegen sozial geteilte und implizite Geschlechtsbilder zugrunde, die von einem ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern ausgehen. Während Männer eine Menge Sex haben dürfen und dafür sogar gefeiert werden, muss weibliche Sexualität immer in Verbindung mit Romantik und Liebe stehen, um wertig zu sein. Mehr Doppelmoral geht nicht.

Doch nicht nur das: Frauen dürfen zwar keine „Schlampen“ sein, aber bitte auch nicht prüde. Denn selbstverständlich sollten sie trotzdem sexy und attraktiv auf das männliche Geschlecht wirken. Aber Vorsicht bei verführerischen Looks, denn „billig“ ist man schneller als man sich den Ausschnitt zurechtrücken kann.

„Omg, schau mal wie kurz ihre Shorts sind!“ – Slutshaming kommt auch unter Frauen vor. Denn auch sie haben Sexismus verinnerlicht und werten sich oft selbst durch die Abwertung anderer Frauen auf. (Symbolbild) Foto: Imago/Zoonar

„Schau mal, wie kurz ihr Kleid ist!“ – Slutshaming von Frau zu Frau

Der Bereich zwischen billig und attraktiv scheint ein schmaler Grat zu sein. Ob eine Frau einen Schritt zu viel über die Grenze gewagt hat, entscheiden aber nicht nur die Männer. Auch andere Frauen fällen ein Urteil darüber, ob sich ihre Geschlechtsgenossinnen der gesellschaftlichen Norm entsprechend kleiden, inklusive Abwertung bei Unangemessenheit. Statt einer lüsternen Betrachtung, werfen sie anderen Frauen abschätzende und beurteilende Blicke zu. Für Betroffene ist das zwar weniger bedrohlich, aber ebenso unangenehm.

„Oh mein Gott, hast du gesehen, wie kurz ihre Shorts sind?!“ „Ja, krass. Wie kann man nur so rumlaufen? Sehr billig!“ – Ein Gespräch zwischen zwei Frauen, begleitet von abwertenden Blicken, wie es in jedem Berliner Straßencafé stattfinden könnte. Warum machen Frauen sowas? Der Grund ist auch hier verinnerlichter Sexismus. Denn Frauen, die andere als „Schlampe“ oder „billig“ bezeichnen, werden vom Patriarchat belohnt. Und zwar mit Anerkennung, denn sie gehören dann zu den „Guten.“ Das Prinzip lautet: Eigene Aufwertung durch Abwertung anderer Frauen.

„Zieh dir lieber noch was drüber, du lenkst die Männer ab“

Bewertungen über die eigene Kleiderwahl werden nicht nur hinter dem Rücken der betreffenden Frau ausgetauscht, sondern ihr oft mitten ins Gesicht gesagt. Meist in Form eines vermeintlich guten Rates. Sätze wie „Zieh lieber das andere Oberteil an. Das sieht nicht ganz so bitchy aus“ gehören in manchen Kreisen zum Standardrepertoire, wenn sich Freundinnen gemeinsam für eine Party fertig machen.

Und auch Mütter strafen ihre Töchter oft mit skeptischen Blicken, wenn sie in Shorts oder Minirock zur Schule gehen wollen. „Willst du das wirklich anziehen?“ lautet die obligatorische Frage. Oft wird noch ein „Damit lenkst du ja die Jungs in der Klasse total ab. Und auch die männlichen Lehrer!“ hinten angehängt und dem Sexismus-Sahnehäubchen mit einem „Was sollen die bitte von dir denken? Muss das sein?“ die Krone aufgesetzt.

Böse gemeint ist das meistens nicht. Weder von verunsicherten Freundinnen noch von besorgten Müttern. Auch sie sind Opfer des verinnerlichten Sexismus. Wer will schon, dass die beste Freundin oder Tochter von anderen als „billig“ und „lasziv“ wahrgenommen wird? Nichtsdestotrotz: Abwertend sind diese Aussagen allemal. Verletzend auch. Und bestimmt ein Grund, weshalb viele Frauen oft minutenlang vor dem Spiegel stehen und sich mit einem unwohlen Gefühl im Bauch fragen: „Kann ich das wirklich anziehen?“

„Hure“, „Nutte“, „Schlampe“, „Bitch“ – klassische Beleidigungen für Frauen, um ihnen vermeintlich unpassendes Verhalten in Bezug auf ihre Sexualität zu unterstellen. (Symbolbild) Foto: Imago/robertkalb photographien

„Bro, zieh dir ein T-Shirt an. Sonst denken die Frauen du bist billig“

Männer dürfen nicht nur mit so vielen Frauen schlafen, wie sie wollen, sie dürfen selbstverständlich auch anziehen, wie sie wollen. Männer, die in knappen, die Muskeln betonenden Tank Tops oder kurzen, engen Hosen herumlaufen, werden höchstens als „prollig“, „selbstverliebt“ oder „Machos“ bezeichnet. Aber habt ihr schon mal erlebt, dass jemand über einen oberkörperfrei im Park sitzenden Mann gesagt hat, er sei „billig“? Dass Slutshaming eine Schublade ist, die bewusst für Frauen angefertigt wurde sieht man bereits an den Beleidigungen an denen sich Sexist:innen bedienen können: „Schlampe“, „Nutte“, „Hure“ „Bitch“, um nur ein paar dieser Ausdrücke zu nennen, sind weiblich gelesene Bezeichnungen – Zufall ist das nicht.

„Wahre Feminist:innen tragen keine engen Kleidchen“

Man müsste meinen emanzipierte Frauen stehen alle auf derselben Seite, doch auch in Teilen der feministischen Szene werden andere aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes abgewertet.

Feminist:innen stellen Schönheitsideale in Frage, sie setzen sich dafür ein ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Frauen nicht nur schön zu sein haben. Und das zu Recht! Das „nur“ ist hier allerdings entscheidend. Es ist großartig, wenn Frauen sich nicht die Beine rasieren oder Make-up tragen wollen und sich auch nicht aufgrund von gesellschaftlichen Zwängen dazu breitschlagen lassen. Und ja, auch das Private ist politisch. Aber disqualifiziert der Gloss auf den Lippen einer Frauen sie von der Überzeugung Feministin zu sein? Diese Logik ist nur ein weiterer Weg, um die sozialen Normen einer Gruppe durch die Abwertung anderer durchzusetzen – reproduziert also genau die Praxis, der durch Feminismus ein Ende gesetzt werden soll.

Eine Frau muss sich nicht schminken und Kleider tragen, aber sie darf. (Übrigens genauso wie Männer und alle anderen Geschlechtsidentitäten). Wichtig ist, dass Frauen die Wahl haben und dass sie, egal wie sie sich entscheiden, nicht verurteilt oder gesellschaftlich abgestraft werden.

Eine Feminist:in zeichnet sich nicht dadurch aus welche Kleidung sie trägt oder ob sie Lippenstift auf den Lippen hat oder nicht. Frauen sollten, ebenso wie Männer, selbstbestimmt über ihr Äußeres entscheiden dürfen. Und zwar ohne dafür verurteilt zu werden. (Symbolbild) Foto: Imago/ YAY images

Wir sind nicht schuld daran, dass die Welt sexistisch ist, aber wir sind  schuld, wenn sie sexistisch bleibt

Die Männer dieser Zeit sind nicht dafür verantwortlich, dass wir in einer sexistischen Gesellschaft leben. Diese Strukturen waren schon da, lange bevor auch nur ein einziger Mann, der gerade durch Berlin spaziert, geboren wurde. Doch verantwortlich dafür, dass sich an diesen Gesellschaftsstrukturen etwas ändert sind wir durchaus. Unser aller Ziel sollte es sein, dass in 30 Jahren keine Frau mehr beschämt und nervös an ihrem Rock zupft, wenn sie in eine Berliner U-Bahn steigt.

Down with patriarchy ? Klappt auch im Minikleid

Wir müssen die Legende von „provokanter“ Kleidung an acta legen. Egal ob Frauen in einem Oversized-Hoodie oder einem Dessous durch ihren Kiez schlendern – Kleidung ist in keinem Szenario eine Rechtfertigung für Anstarren, Catcalling oder Slutshaming.

Freut euch auf den Sommer, zieht das an, worin ihr euch wohlfühlt. Und wenn das kurze Kleider und Hotpants sind, dann tragt sie mit Stolz. Denn eins steht fest: Das Patriarchat lässt sich auch in Minirock und Crop-Top stürzen.


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