Berlin verstehen

DDR-Fotografie: ZeitNah – Retrospektive von Volker Döring

Volker Döring hat das Leben in der DDR mit seiner Kamera festgehalten und auch nach der Wende damit nicht aufgehört. So entstand eine beeindruckende visuelle Kontinuität. In dem Bildband „ZeitNah“ sind Dörings Fotografien aus den Jahren 1979 bis 2013 versammelt, zudem widmet die Galerie in der Brotfabrik dem einstigen Prenzlauer-Berger Mathematiklehrer, der 1984 als Regimekritiker seinen Schuldienst quittierte und hauptberuflicher Fotograf wurde, eine Ausstellung.

Rockkonzert, 1989. Foto: Volker Döring (aus „ZeitNah“, Lukas Verlag)

Volker Döring: Konsequente sozialdokumentarische Fotografie

Fotobücher über die DDR gibt es viele, denkt man nur an die klassischen Aufnahmen von Harald Hauswald oder die Bilder von Sibylle Bergemann, die kürzlich in der Berlinischen Galerie zu sehen waren. Vom untergegangenen SED-Staat geht eine seltsame Faszination aus. Heute, gut 30 Jahre nach dem Mauerfall, lässt sich für viele, die sie nicht direkt erlebt haben, die DDR tatsächlich nicht leicht begreifen. Umso wichtiger ist die Arbeit von Fotografen wie Volker Döring, die konsequent im Bereich der sozialdokumentarischen Fotografie gearbeitet haben und damit ein Stück Geschichte vor dem Vergessen retten konnten. So steht Döring mit seinen Bildern ganz selbstverständlich in der Reihe der oben genannten Kollegen und Kolleginnen. In gut drei Jahrzehnten erschuf er ein Bildwerk, das kaum zu unterschätzen ist.

Spannend in Dörings Fotos ist die thematische Bandbreite. Ob die wilden Wohnungen der Ost-Berliner Punks, ein Wehrerziehungslager für Jungen der neunten Klasse oder Arbeiter im Fleischkombinat bei der Zerlegung von Rinderhälften, Döring war stets mit seiner Kamera dabei und fing die Situation ein. „Als Betrachter hat man das Gefühl, mitten in der Klasse zu stehen, und den Fortgang der Szene förmlich erahnen zu können“, schreibt Christoph Ochs, der Leiter des Bildarchivs der Robert-Havemann-Gesellschaft, im Vorwort zu Dörings Bildband „ZeitNah“. Man steht bei Döring immer mittendrin, und doch bleiben die Bilder spontan, persönlich, niemals inszeniert.

Modenschau in Weißensee, 1989. Foto: Volker Döring (aus „ZeitNah“, Lukas Verlag)

Man kann froh sein, dass Dörings Bilder nun in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Im Buch, aber auch in einer Ausstellung, die im Oktober 2022 in der Galerie der Brotfabrik stattfindet. Denn wie viele Dokumente aus längst vergangenen Tagen und analogen Zeiten haben die Jahre nicht überdauert? Sie wurden vergessen, verstaubten in Kellern oder fielen Wasserschäden oder Feuern zum Opfer. Dann hätten wir die wunderbare Szene von einer Modenschau in Weißensee, die sich im Jahre 1989 ereignet hat, nie gesehen. Die großen Augen der Kinder und die schlanken Beine des Mannequins. Ein großartiger Moment!

Pappelallee, 1986. Foto: Volker Döring (aus „ZeitNah“, Lukas Verlag)

„Döring zeigt auch den trotz aller Drangsalierungen lebenswerten Alltag in der ‚ollen DDR‘ in Einzelbildern, Ausschnitten und sinnfällig geschlossenen Bildzyklen“, schreibt Petra Schröck im Nachwort zu „ZeitNah“. Die Leiterin der Galerie in der Brotfabrik attestiert den Bildern die Fähigkeit, die „Zeit zurückzuholen und sie zugleich dem Betrachtenden näher bringen zu können.“

Demonstration am Alexanderplatz (Peter Waschinsky) am 4. November 1989. Foto: Volker Döring (aus „ZeitNah“, Lukas Verlag)

Volker Döring fotografierte während großer historischer Ereignisse

Die gilt natürlich auch für die großen historischen Ereignisse, die Döring neben den kleinen Alltagssituationen fotografiert hat. Etwa das Bild von der großen Demonstration am Alexanderplatz am 4. November 1989. Döring zeigt weder die prominenten Redner und Rednerinnen noch die schier gewaltige Menge, man spricht von etwa einer Million Menschen, die wenige Tage vor dem Mauerfall für Freiheit und gegen das DDR-Regime auf die Straße gingen. Stattdessen wählt er eine Randsituation, einen fröhlichen Mann mit ironischem Plakat in der Hand, und verleiht dem historischen Moment so einen nahbaren Charakter.

Aufnahme der Kinder in die Pionierorganisation, 1988. Foto: Volker Döring (aus „ZeitNah“, Lukas Verlag)

Spannend an Dörings Bildern ist zudem die Tatsache, dass er vor seiner beruflichen Umorientierung zur Fotografie, neun Jahre lang Mathelehrer in Prenzlauer Berg war. Weil er dem DDR-Staat kritisch gegenüberstand, verließ er 1984 den Schuldienst und widmete sich ausschließlich der Fotografie. Die Nähe zum Schulwesen macht sich jedoch auch in seinen Motiven bemerkbar. Etwa auf dem Bild aus dem Jahr 1988, auf dem man Kinder einer ersten Klasse sieht, die in die Pionierorganisation aufgenommen werden. „Das geschah in feierlicher Atmosphäre und die meisten Kinder waren zu diesem Zeitpunkt noch für solche Rituale zu begeistern“, schreibt er zu dem Motiv. Auch dies ein Aspekt der DDR-Realität.

Tanzende Punks bei einem Konzert von „neuen Bands“ auf der Freilichtbühne Berlin-Weißensee. Foto: Volker Döring (aus „ZeitNah“, Lukas Verlag)

Döring war zwar Lehrer und, da 1952 geboren, eigentlich schon zu alt für den Punk, doch als Prenzlauer Berger kam er mit der auch in der DDR in den 1980er-Jahren aufkeimenden Jugendkultur in Berührung. Punk schwappte aus New York, London und West-Berlin auch „rüber“. Man bastelte sich die Klamotten selbst, gründete Bands und hörte den neuen Sound im Westradio. Auch diesen Aspekt der DDR-Geschichte hielt Döring fest.

Volker Döring: ZeitNah – Fotografien 1979 bis 2013 Lukas Verlag, 288 Seiten, 300 Abb., 297 x 210 mm, Schwarzweiß- und Farbabbildungen, 25 €


Zeit/Nah Retrospektive des Fotografen Volker Döring BrotfabrikGalerie Berlin, Caligariplatz 1, Weißensee, 7. Oktober bis 20. November 2022, täg­lich 12-20 Uhr, online


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