Ausverkauf in der Oranienstraße: Dem Buchladen „Kisch & Co.“ in Kreuzberg droht die Schließung. Kund*innen schätzen hier die schönen Kunstbücher und das mit Liebe und Geschmack ausgewähltes Sortiment an Belletristik und Sachbüchern. Jetzt droht der Buchhandel Opfer eines Immobilieninvestors zu werden, der sich offenbar verspekuliert hat. Hinter dem Liechtensteiner Immobilien-Fonds steckt eine der reichsten Familien Schwedens. Peter Laudenbach sprach mit dem Betreiber Thorsten Willenbrock.
tip Berlin: Herr Willenbrock, weshalb hat Ihr Buchladen „Kisch & Co.“ seit kurzem keinen gültigen Mievertrag mehr?
Thorsten Willenbrock: Wir betreiben den Buchladen in der Oranienstraße seit 23 Jahren. Das Haus wurde vor einigen Jahren verkauft. Der neue Eigentümer hat offenbar sehr ambitionierte Vorstellungen, was die Miethöhe betrifft. Die Miete, die wir bezahlen können und die wir dem Eigentümer zur Fortsetzung unseres Mietvertrags angeboten haben, entspricht nicht seinen Vorstellungen. Somit wurde der zum 31. Mai 2020 ausgelaufene Mietvertrag nicht verlängert.
tip Berlin: Konnten Sie sich direkt mit dem Eigentümer verständigen?
Thorsten Willenbrock: Nein. Eigentümer ist die Victoria Immo Properties V S.a r.l. in Liechtenstein. Wir haben zu keiner Zeit mit einem ihrer Mitarbeiter Verhandlungen geführt, sondern nur mit ihren Rechtsvertretern, erst mit der Hausverwaltung, dann mit einem von ihr beauftragten Rechtsanwalt. Wir haben kein Angebot über einen längerfristigen Mietvertrag erhalten.
tip Berlin: Haben Ihnen die Rechtsvertreter Ihres Vermieters Kompromissangebote gemacht?
Thorsten Willenbrock: Wir haben zwei Angebote bekommen. Das erste beinhaltete drei mietfreie Monate, von März bis Mai, wenn wir im Gegenzug zusichern, fristgemäß zum 31. Mai auszuziehen. Das haben wir nicht angenommen. Das zweite Angebot sah eine Verlängerung des Mietvertrages um sieben Monate bis zum 31. Dezember 2020 bei reduzierter Miete vor. Allerdings enthielt der Vertrag völlig inakzeptable Klauseln, die das stille und sichere Ende unseres Buchladens bedeutet hätten.
tip Berlin: Was waren das für Klauseln?
Thorsten Willenbrock: Die Klauseln verlangten, dass wir uns in Absprache mit der Victoria Immo Properties V S.a r.l. positiv über sie äußern, und zwar in einem Youtube-Video sowie gegenüber in dem Vertragsangebot namentlich genannten Berliner Journalisten und Politikern, die sich für uns eingesetzt oder über unseren Konflikt mit dem Vermieter berichtet hatten.
Das ist eine bemerkenswerte Forderung, um es höflich zu sagen: Der Vermieter, der unseren Mietvertrag nicht verlängert, erwartet, dass wir ihn öffentlich loben und gegenüber Journalisten behaupten, wir hätten kein Problem mit ihm. Eine Verschwiegenheitsklausel sah vor, dass wir uns über das Zustandekommen und die Inhalte des Vertrages nicht öffentlich äußern dürfen. Natürlich haben wir diesen Vertrag nicht unterzeichnet.
tip Berlin: Wie bewerten Sie diese groteske Aufforderung Ihres Vermieters?
Thorsten Willenbrock: Es zeigt die Unverfrorenheit und Arroganz, mit der anonyme Immobilienfonds aus Steueroasen agieren. Denn darum handelt es sich offenbar bei der Victoria Immo Properties V S.a r.l. Wir brauchen ein Transparenzregister, das die wirtschaftlich Berechtigten benennt, die hinter solchen Fonds verstecken.
tip Berlin: Wer steckt hinter der Victoria Immo Properties V S.a r.l.?
Thorsten Willenbrock: Es war nicht ganz leicht, das herauszufinden. Laut Grundbuchauszug ist der Gebäudeeigentümer die Victoria Immo Properties V S.a r.l. Als wirtschaftliche Eigentümer dieses Fonds sind drei Anwälte angegeben, von denen zwei für die Anwaltskanzlei Marxer & Partner in Lichtenstein tätig sind. Nach Recherchen von Christoph Trautvetter von der Rosa-Luxemburg-Stiftung steckt hinter der ganzen Konstruktion eines oder mehrere Mitglieder der Familie Rausing.
tip Berlin: Was wissen Sie über diese Familie?
Thorsten Willenbrock: Das sind die Erben des Gründers des Tetra-Pak-Konzerns, eine der reichsten Familien Schwedens. Nach meinem Wissensstand sind das Milliardäre.
tip Berlin: Halten Sie die Mietpreise, die der Investor erwartet, in irgendeiner Weise für realistisch?
Thorsten Willenbrock: Uns gegenüber wurde zu keinem Zeitpunkt ein von den neuen Eigentümern gewünschter Mietpreis genannt. Wir wissen von anderen Mietern in unserem Haus, einem Architekturbüro, dass die Eigentümer für die unsanierten Räume mit einfachster Ausstattung 38 Euro pro Quadratmeter verlangt haben. Das sind Mietpreise, die selbst an sehr viel attraktiveren Lagen und für besser ausgestattete Räume nicht verlangt werden.
Soviel ich weiß, lag der Kaufpreis für das ganze Gebäude bei 35,5 Millionen Euro. Der Renditedruck ist also hoch, wenn sich dieser Kaufpreis irgendwann amortisieren soll. Bei der geforderten Miethöhe müssen wir davon ausgehen, dass sämtliche jetzige Mieter das Gebäude verlassen müssen. Gewerbemieten von 38 Euro pro Quadratmeter können höchstens über Vermietung an Start-ups oder Co-working-Spaces erzielt werden.
tip Berlin: Ist der Kauf motiviert von der touristischen Gentrifizierung Kreuzbergs – oder einfach eine Spekulation?
Thorsten Willenbrock: Ob die Eigentümer einen bestimmten Plan verfolgen, weiß ich nicht. Nach Aussagen von Experten haben sie für das Gebäude schlicht viel zu viel gezahlt. Schwerer als die touristische Gentrifizierung Kreuzbergs, die „nur“ unsere Räumlichkeiten betroffen hätte, wiegt die mögliche Verdrängung im übrigen Haus. Ich bin kein Experte, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die neuen Eigentümer den Kaufpreis über Mieten amortisieren können, insbesondere nicht in Zeiten von Corona.
tip Berlin: Wie geht es jetzt für Sie weiter?
Thorsten Willenbrock: Ich nehme an, der Eigentümer wird versuchen, die Räumung durchzusetzen. Die juristische Auseinandersetzung wird sich über einige Monate hinziehen. Wir konzentrieren uns vollständig darauf, langfristig in der Oranienstraße 25 Bücher anzubieten.
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