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Stadterkundung

Unterwegs an der Autobahn: Eine Wanderung entlang der A100

Die A100 schneidet sich durch das alte West-Berlin, von Wedding durch Charlottenburg und Wilmersdorf bis nach Schöneberg, Tempelhof und schließlich Neukölln. Dort wird gerade Richtung Treptow weitergebaut, damit man noch schneller durch die Stadt kommt. Doch wie ist es, wenn man an der exklusiv für den Autoverkehr angelegten Strecke zu Fuß unterwegs ist? Diese Frage stellte sich tipBerlin-Redakteur Jacek Slaski und ging bei Kilometer Null los. Ein Bericht von einer psychogeografischen Erkundung der Stadtautobahn.

Wanderung auf der A100. Kilometer Null an der Seestraße. Foto: Jacek Slaski
Wanderung auf der A100. Kilometer Null an der Seestraße. Foto: Jacek Slaski

Die innerstädtische Autobahn A100, das Relikt aus fernen Zeiten

Die Tram 50 endet am Virchow-Klinikum, von hier sind es nur wenige Minuten bis zur Auffahrt auf die A100. Ich bin mit einem Freund unterwegs, der normalerweise Wanderungen im Berliner Umland veranstaltet. Auf seinen Vorschlag, die Stadtautobahn entlang zu gehen, reagiert niemand aus seiner Gruppe. Die Idee scheint nicht attraktiv. Statt Wäldern und Seen verspricht die Route Lärm, Stau und urbane Landschaften.

Aber auch Überraschungen und neue Perspektiven auf etwas vermeintlich Altbekanntes. Denn wer in Berlin lebt, kennt natürlich die innerstädtische Autobahn, das Relikt aus fernen Zeiten, als die Stadtplaner noch von autogerechten Metropolen träumten. Ja, man kennt die innerstädtische Autobahn A100, doch nur aus dem Auto heraus oder hier und da einen kurzen Abschnitt, der durch die Gegend führt, in der man wohnt oder zu tun hat.

Ansonsten braust man mit 80 Stundenkilometern an der immergleichen Stadtkulisse vorbei oder steht im Stau und schaut heimlich aufs Smartphone. Die Trasse zu Fuß abzugehen, ist eine seltsame Idee. Das machen nicht viele. Entsprechend leer ist es auf dem überraschend grünem Weg, der kurz hinter dem Afterhour-Club Heideglühen an der Seestraße 1 beginnt. Rechts die Autobahn, links der Westhafenkanal und dahinter der Berliner Großmarkt.

Mit Blick auf die Autobahn – Ferienhäuser an der Rudolf-Wissell-Brücke. Foto: Jacek Slaski
Mit Blick auf die Autobahn – Ferienhäuser an der Rudolf-Wissell-Brücke. Foto: Jacek Slaski

Wanderung an der A100: Hübsche Häuser mit Spitzdach am Ufer

Die Autobahn bietet ein Umfeld für unliebsame Anlagen, die den Stadtbewohnern nicht unbedingt zugemutet werden sollen. Schon zu Anfang der Wanderung geht es am Gefängnis Plötzensee vorbei, an einem Schrottplatz und brutalistischen Betonbrücken. Doch auf einmal stehen vier hübsche Häuser mit Spitzdach am Ufer, die so gar nicht hierher passen. Eher würde man sie in einem bayerischen Ferienort vermuten. Wäre da nicht die nach Rudolf Wissell benannte Autobahnbrücke,  die über der Situation thront.

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Es sind genau diese skurrilen Entdeckungen, die solche Stadterkundungen spannend machen. Es ist das Wesen der Psychogegrafie, der experimentellen Stadtforschung, die den Einfluss der gebauten Umgebung auf die Psyche des Einzelnen untersucht. Man entdeckt Orte, die man sonst niemals gesehen hätte. Welche Geschichte mögen diese vier Häuser haben? Sollten sie alt sein, blicken sie seit Ende der 1950er-Jahre auf die mächtigen Betonpfeiler der Brücke, sind sie erst danach entstanden, handelt es sich um eine recht exzentrische Entscheidung der Bauherren. Das nächste Foto zeigt den Ausblick aus den Fenstern, die Geräuschkulisse muss man sich dazu denken.

Blick auf die Rudolf-Wissell-Brücke. Foto: Jacek Slaski

Heute steht der Individualverkehr in der Kritik: zu viel, zu schmutzig, zu teuer, nicht mehr zeitgemäß. Fahrräder, Sharingkonzepte und autofreie Städte beherrschen die Diskussion über Mobilität im 21. Jahrhundert. Die Autobahn ist der Triumph des letzten Jahrhunderts, von dem noch Teile der Politik nicht lassen können und wollen. Sie ist aber auch die Gegenwart und Realität für zigtausende Berlinerinnen und Berliner. Nicht nur in der Spitzdachhäusern hier. Denn wer nicht im Osten der Stadt oder in Kreuzberg lebt, wo die Autobahn – den Hausbesetzern sei Dank! – nie hingebaut wurde, hat nicht selten die nächste Auffahrt auf die A100 in der Nachbarschaft oder wohnt gar in ihrem direkten Einflussbereich.

An der Rudolf-Wissell-Brücke driften wir kurzzeitig ab oder wir müssten schwimmen, denn hier quert die A100 die Spree. Der Nonnendamm führt zwar noch auf die Insel, die unter der Autobahn liegt, aber nicht mehr von ihr wieder runter. Wir gehen also über den Tegeler Weg wo sich 1968 aufgebrachte Studenten, Arbeiter und Rocker eine Schlacht mit der West-Berliner Polizei lieferten. Die Ereignisse sind in die Geschichte der linken Szene eingegangen und wurden längst vergessen. Eine Fußgängerbrücke führt von dort zum Schlosspark Charlottenburg. Erstmals tauchen Passanten auf, bis dahin sind wir kaum jemandem begegnet. Irgendwo hauste ein Obdachloser in einem schmutzigen Zelt, eine ältere Frau ging mit dem Hund spazieren. Autobahn ist Autosache. Menschen haben hier offenbar nichts verloren.

Gospel-Gesänge im Schlosspark Charlottenburg. Foto: Jacek Slaski
Gospel-Gesänge im Schlosspark Charlottenburg. Foto: Jacek Slaski

Im Park singt eine Kirchengruppe Gospels. Es ist Sonntagmittag, die Sonne scheint, im kleinen Bach plätschert das Wasser, hier leben Eisvögel, Eichelhäher und Buntspechte. Plötzlich ist die Autobahn weit weg, man hört den Lärm nicht, die Luft ist frisch, für einen Moment wird die Wanderung idyllisch. Hinter dem Park geht es in der Sophie-Charlotten-Straße schick weiter. Neubauprojekte und sanierte Altbauten strahlen mondänen Immobilienglanz aus. Man wähnt sich in einer Welt der Hochglanzprospekte, die bei schicken Ku’damm-Maklern auf dem Designer-Couchtisch ausliegen.

Kein Gang durch die Stadt, ohne dass man auf die Spuren der Gentrifizierung trifft. Dabei lag diese Gegend trotz Schlossnähe einst ab vom Schuss. Auf dem Areal des alten Güterbahnhofs Charlottenburg siedelten sich Betriebe an, daneben ein Bosniakisches Kulturzentrum, die Gipsformerei der Staatlichen Museen residiert etwas weiter. Hier ist auch die Heimat des Kult-Supermercato Centro Italia, der seit dem Jahr der Tegeler-Weg-Schlacht die Charlottenburger und Schöneberger Toskana-Fraktion mit Fenchel-Taralli, Olivenpasten, Pancetta und Bottarga versorgt. Und die Berliner Italiener natürlich auch. Wenige erinnern sich noch an graue Vorzeiten, als man in regulären Supermärkten kein Pesto und keine Pasta bekam, nicht einmal Parma-Schinken oder Parmesankäse gab es! Das Centro Italia hatte schon in Mauerzeiten ein Alleinstellungsmerkmal. La dolce vita.

Centro Italia – Feinkostklassiker seit 1968. Foto: Jacek Slaski
Centro Italia – Feinkostklassiker seit 1968. Foto: Jacek Slaski

Am S-Bahnhof Westend docken wir wieder an die Autobahn an. Hier ist Großstadt, hier lärmt und poltert es, der Verkehr pulsiert, in der Ferne bestimmt das retrofuturistische ICC die Skyline, dahinter steht der Funkturm. West-Berliner Nostalgiker sind hier richtig, Bilder aus Wim Wenders‘ „Himmel über Berlin“ kommen in den Sinn. Wir finden einen unscheinbaren Trampelpfad, der von der Crusiusstraße abgeht und direkt an der A100 entlangführt. Weshalb er existiert, bleibt ein Rätsel.

Trampelpfad an der A100. Foto: Jacek Slaski
Trampelpfad an der A100. Foto: Jacek Slaski

Ringbahn und A100 verlaufen auf diesem Stück parallel, die Mietskasernen grenzen direkt an die Autobahn, es ist ein Sinnbild für die Idee vom „Leben an der Autobahn“. Wer sich in den Straßen dahinter verirrt, landet in bürgerlichen Idyllen, der vornehme Lietzenseepark ist nicht weit weg, doch die Häuser im Spiegelweg und Umgebung bieten Wohnraum in bester Autobahnlage. Wie sangen Tocotronic nochmal? „Aber hier leben, nein danke“. Auf der anderen Seite… man gewöhnt sich ja an alles.

Das ICC steht im Autobahnkreuz, die AVUS führt von hier kerzengerade in den Südwesten. Willkommen im ultimativen Autoland! Das Areal ist eine menschenleere Einöde, gezeichnet von Fehlplanungen und irrigen Architekturkonzepten. Was mit dem ICC passieren wird, weiß niemand so genau. In der Berlinischen Galerie werden gerade Zukunftsideen für West-Berliner Großbauten der 1970er-Jahre (mehr Infos hier) verhandelt. Vielleicht findet sich ja dort eine Antwort? Der Vorschlag der Graft Architekten ist jedenfalls spektakulär. Derzeit steht das monumentale Bauwerk des Architektenpaars Schüler schon lange leer. Nur 2021 sorgte die Ausstellung „The Sun Machine Is Coming Down“ für etwas Aufwind, aber der denkmalgeschützte Bau schlummert seitdem selig vor sich hin und die tausenden Autos, die an ihm Tag ein, Tag aus vorbeifahren, wiegen den silbernen Riesen mit motorischem Rauschen in den Schlaf. Gute Nacht.

Wanderung A100 - Leerstand inmitten der Stadt – Das ICC im Dornröschenschlaf. Foto: Jacek Slaski
Leerstand inmitten der Stadt – ICC im Dornröschenschlaf. Foto: Jacek Slaski

Und dann folgt der Höhepunkt der Autobahnwanderung: eine Rast im kreisrunden AVUS Motel! Der markante Kegel steht an der Auffahrt zur A115, historisch der ältesten Autobahn der Stadt. Dort, wo sich schon vor 100 Jahren tollkühne Piloten in ihren heißen Kisten rasante Autorennen lieferten. Die ganze Sache lief aus dem Ruder, es gab Unfälle, dann kam die Wiedervereinigung, der Lausitzring wurde eingeweiht und so war weitgehend Schluss mit dem Motorsport in Berlin. Die Zuschauertribüne staubt seitdem ein und nur das Motel in dem Turm, in dem einst die Zielrichter über den Rennverlauf wachten, erinnert an die alten Zeiten.

Wir gehen in den runden Speisesaal, wieder ist alles leer, eine Stimmung wie in einem postapokalyptischen Fernsehfilm aus den 1970ern. Irgendwann komm die Kellnerin, versprüht Berliner Charme und teilt mit, es gäbe nichts zu essen, ein Bier könne man aber bekommen. Wohl bekomm’s. Wir trinken und schauen aus dem Fenster. Es herrscht Stille. Kein Auto fährt vorbei. Die Endzeitstimmung wird greifbarer, die Autobahn ist gesperrt, es ist große ADFC-Fahrrad-Sternfahrt – Viva la RADvolution! Gleich radeln zehntausende klimabewegte Menschen über die Autobahn und gegen den Autoverkehr. Die Autobahn entlanglaufen tun aber nur zwei.

Blick aus dem AVUS Motel auf die leere Autobahn. Foto: Jacek Slaski
Blick aus dem AVUS Motel auf die leere Autobahn. Foto: Jacek Slaski

Es ist seltsam, ohne die Geräuschkulisse weiterzuwandern. Der Klangeffekt ist nun weg, stattdessen euphorisiert die gigantische Fahrradparade mit ihrem vergnügten Geklingel und Musik aus der Boombox. Einmal läuft dem Anlass entsprechend Kraftwerks legendärer Hit Autobahn. Wir gehen weiter, an dem Großbordell Artemis vorbei, wo aufgrund der Demo vermutlich weniger Geschäft ist als sonst. Dennoch klingelt es in dem Großbordell gerade in der Kasse, Berlin muss 250.000 Euro Entschädigung an die Betreiber zahlen. Der Grund: eine 2016 durchgeführte Razzia, die zu erheblichen finanziellen Nachteilen für den Betrieb sorgte und offensichtlich nicht so hätte ablaufen sollen wie sie ablief. Gerechtigkeit für alle.

Ein Stück weiter sonnen sich die Nackten am Halensee. Dann der Rathenauplatz. Wolf Vostells einbetonierte Cadillacs werden gerade saniert. Wir sehen hier und da Street Art, Grafitti, einen improvisierten Autofriedhof, wildes Gestrüpp, Kunst im öffentlichen Raum. Die Autobahn, wie auch die Bahntrassen, zieht eine Schneise durch die Stadt und erschafft an ihren Rändern oft Ausnahmesituationen. Die normale Bebauung wird durchbrochen und weicht öden Industriegebieten, wilden Brachen, aber auch Freiräumen auf denen sich die Club- und Kunstszene ansiedelt. Mal totes Land, mal fruchtbarer Boden und doch, aufgrund der per se unattraktiven Lage, sind diese Gebiete etwas mehr vor den Begehrlichkeiten der Investoren geschützt. Glück im Unglück?

Wanderung auf der A100 – Abgestellte und vergessene Autos. Foto: Jacek Slaski
Wanderung auf der A100 – Abgestellte und vergessene Autos. Foto: Jacek Slaski

Am Heidelberger Platz bin ich knapp 13 Kilometer durch die Hitze gelaufen. Halbzeit. Bis Neukölln wäre es noch einmal so lang. Ursprünglich wurde die A100 als Ring geplant. Damals, als man die Teilung der Stadt für eine kurzzeitige Marotte der Kommunisten hielt. Dann kam die Mauer und die Idee wurde verworfen. Die Verlängerung der Autobahn geht langsam voran, der 16. Bauabschnitt kommt, vielleicht noch der 17., dann ist aber vermutlich Schluss. Wer weiß schon genau, was die Zukunft bringt, vielleicht war die Fahrradsternfahrt ein Ausblick und irgendwann wird es auf der A100 nur pedalbetriebenen Zweiradverkehr geben? Oder einen Wanderweg? Dann könnte man auf der Autobahn wandern und nicht an ihr.


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