Kommentar

Claudia Roths Berlinale-Pläne: Schlechte Aussichten für die Filmstadt Berlin

Die Berlinale war gerade im Begriff, wieder ein gutes und wichtiges Festival zu werden. Warum jetzt wieder alles über den Haufen werfen? Das fragt tipBerlin-Filmredakteur Bert Rebhandl angesichts der Pläne von Claudia Roth, Berlinale-Chef Carlo Chatrian abzulösen und eine neue Intendanz zu finden. Mit seiner Meinung ist er nicht allein: Mit einem offenen Brief stellen sich zahlreiche Filmschaffende gegen die Pläne der Kulturstaatsministerin, von Martin Scorsese bis Elfi Mikesch, von Christian Petzold bis Claire Denis.

Claudia Roth (Grüne), Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, sucht eine neue Berlinale-Intendanz. – und wird dabei wohl schlecht beraten, konstatiert unser Autor. Foto: Imago/Christian Spicker
Claudia Roth (Grüne), Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, sucht eine neue Berlinale-Intendanz. – und wird dabei wohl schlecht beraten, konstatiert unser Autor. Foto: Imago/Christian Spicker

Martin Scorsese und viele weitere haben einen offenen Brief unterzeichnet

Wenn ich dürfte, würde ich gern Claudia Roth, die Staatsministerin für Kultur und Medien, zu einem Spiel einladen. Ich würde ihr die Liste von derzeit 474 Menschen vorlegen, die einen offenen Brief unterschrieben haben, mit dem sie dafür plädieren, dass Carlo Chatrian über das Jahr 2024 hinaus Direktor der Berlinale bleiben sollte. Und ich würde sie fragen, wieviele Namen sie davon schon einmal gehört hat. 474 Filmschaffende waren es am Freitag, von Martin Scorsese bis Elfi Mikesch, von Christian Petzold bis Claire Denis, von Carla Simon bis Pietro Marcello. Es ist eine beeindruckende Stellungnahme eines enorm breiten Spektrums des Weltkinos, und der Tenor ist: Die Berlinale war gerade im Begriff, wieder ein gutes und wichtiges Festival zu werden. Warum jetzt wieder alles über den Haufen werfen?

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Das ist es nämlich, was Claudia Roth gerade tut. Vier Jahre lang wurde die Berlinale nun von dem Duo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek geleitet, davon zwei Pandemie-Jahre, in denen das Festival nur stark eingeschränkt stattfinden konnte. Dass es in dieser Konstellation nicht weitergehen konnte, war klar, nachdem Mariette Rissenbeek bekannt gegeben hatte, dass sie nach 2024 nicht weitermachen wollte – offiziell aus Altersgründen.

Wir müssen hier nicht über Interna spekulieren, aber zweifellos war es eine Schwäche des Modells mit den zwei Intendanten, dass nie wirklich definiert worden war, wie die Aufgaben verteilt sind. Es wäre nachvollziehbar, dass Mariette Rissenbeek sich nicht ausreichend gewürdigt sah, oder dass sie neben Carlo Chatrian zu sehr auf geschäftliche Bereiche reduziert fand – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.

Carlo Chatrian hat die Berlinale künstlerisch und intellektuell deutlich aufgewertet

Chatrian war ein Filmkritiker in Italien, bevor er sich beim Festival in Locarno als kluger Programmierer erwies. Wenn man die Berlinale 2023 als Maßstab nimmt, dann kann man ohne Weiteres sagen: Er hat das Festival künstlerisch und intellektuell deutlich aufgewertet. Auf der Liste der über 400 Unterstützerinnen sind nicht alle stark mit der Berlinale verbunden, viele aber eben doch: Sandra Wollner, Bas Devos, Cyril Schäublin, Estibaliz Urresola Solaguren, das sind alles Namen, mit denen die Berlinale sich schmücken kann. Chatrian hat mit der Reihe Encounters eine starke Auslage geschaffen, während das Forum und das Panorama mehr als genug Auswahl für ihre eigenen Sichtweisen fanden.

Das Weltkino ist schöpferischer und lebendiger denn je, und die Berlinale hat das zuletzt intensiv vermittelt – zum Vorteil auch einer deutschen Filmbranche, die längst global agiert und denkt, und die den Gremien mit ihren Hinsichten und Rücksichten intellektuell weit enteilt ist.

Chatrian wäre für eine Berlinale-Alleinintendanz aktuell die beste Lösung

Carlo Chatrian, Künstlerischer Leiter der Berlinale, bei der Preisverleihung 2023. Foto: Imago/N. Kubelka/Future Image

Nun schlagen die Gremien zurück. Claudia Roth sucht wieder eine Intendanz für die Berlinale, eine starke Persönlichkeit, nach Möglichkeit eine Frau, die dann allein für ein finanziell angeschlagenes Festival gerade stehen soll. Eine Persönlichkeit, die dem Festival Glamour verleihen soll, Stars in die Stadt holen soll, und mit Filmen soll sie sich auch auskennen. Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben genau das gemacht, und zwar gar nicht schlecht, und Chatrian wäre auch für eine Alleinintendanz aktuell die beste Lösung. Aber er ist eben Italiener, er ist ein Cinephiler, er ist keine Betriebsnudel, oder genauer: er ist Teil eines anderen Betriebs, von dem die deutsche Filmbranche sich immer noch gern ein bisschen abnabelt, um stattdessen auf ein Hollywood zu schielen, das es gar nicht mehr gibt.

Wenn wir Pech haben, wird die Filmstadt Berlin schon bald nicht mehr wiederzuerkennen sein

Schlechte Politik ist es, wenn man Neuansätze abwürgt, bevor diese sich überhaupt bewähren konnten. Das geschieht gerade bei der Berlinale. Claudia Roth wird in Filmsachen ganz offensichtlich schlecht beraten, und selbst hat sie wohl nur eine sehr ungefähre Ahnung, wie Kino funktioniert. Das sind schlechte Aussichten, gerade in einer Zeit, in der die Kultur insgesamt vor enormen Sparwellen steht. Wenn wir Pech haben, wird die Filmstadt Berlin schon bald nicht mehr wiederzuerkennen sein. Noch ist Zeit für intelligente Lösungen.


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Den offenen Brief an Claudia Roth hat das Magazin „Variety“ veröffentlicht. Nachlesen könnt ihr das hier. Nun steht fest, wer übernimmt: Tricia Tuttle wird neue Berlinale-Intendantin. Wer hat bei den Filmfestspielen gewonnen? Die Übersicht zu Preisen bei der Berlinale 2023. Was läuft sonst? Hier ist das aktuelle Kinoprogramm für Berlin. Ab an die frische Luft: Hier ist das Programm der Freiluftkinos in Berlin. Mehr aus der Filmwelt lest ihr in unserer Kino-Rubrik. Und alles zum Festival steht in unserer Berlinale-Kategorie.

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