Berlinale 2024

„Pepe“: Prächtiges Filmexperiment aus Flusspferd-Perspektive

Ein totes Nilpferd reißt das Maul auf, spricht – und vereint vieles auf sich, was die Funktionsweise von europäischem Rassismus verdeutlicht. „Pepe“ von Regisseur Regisseur Nelson Carlos de Los Santos Arias ist visuell opulent und frei assoziiert: Die Szenen bleiben auf sich gestellt, erklärt wird hier nichts. tipBerlin-Kritiker Bert Rebhandl hat diese große Überraschung im Berlinale-Wettbewerb gesehen.

„Pepe“ läuft im Berlinale-Wettbewerb – und macht als Forschung zur Vorstellungskraft neugierig auf weitere Arbeiten von Regisseur Nelson Carlos de Los Santos Arias. Foto: Monte & Culebra

„Pepe“: Das Flusspferd findet zu sich und beginnt zu erzählen

Das Flusspferd (Hippopotamus), gern auch irreführend Nilpferd genannt, zählt zu den beeindruckenderen Tierarten. Wenn so ein Flusspferd das Maul aufreißt, dann möchte man nicht direkt daneben stehen. Und auch nicht Reißaus nehmen müssen, denn die Hippos sind schnell, das weiß man aus vielen Tierdokus. Ihre Heimat ist Afrika, aber es gibt auch eine Population in Kolumbien, am Rio Magdalena. Dort sind Flusspferde aus einem Zoo ausgebüxt und haben sich im Lauf der Jahre ein Eigenleben aufgebaut.

Von einer dieser Kreaturen erzählt Nelson Carlos de los Santos Arias in „Pepe“. Pepe spricht Afrikaans, er kommt nämlich ursprünglich aus Namibia, aus der früheren deutschen Kolonie Südwestfrika. Landschaftsaufnahmen spielen eine große Rolle in diesem Film, der sich von der Fantasie leiten lässt, dass ein Flusspferd ausgerechnet in dem Moment eine Stimme bekommt, in dem es sein Leben verliert. Denn Pepe wird gejagt. Aus Deutschland wird ein Senor Heribert engagiert, ein Experte für das Abmurksen von Wildtieren. Er waltet auch kühl seines grausamen Amtes, aber Pepe findet danach erst so richtig zu sich. Er merkt, dass er ein Maul nicht nur zum Aufreißen hatte. Er kann damit auch Sätze bilden.

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„Pepe“ steht im größeren Kontext der „Estudios de la imaginacion“

Im Abspann des Films deutet Nelson Carlos de los Santos Arias an, dass er „Pepe“ in einem größeren Kontext sieht, einer Serie mit dem Titel „Estudios de la imaginacion“. Damit ist das Schlüsselwort gefallen: „imaginacion“, also Vorstellungskraft. „Pepe“ ist ein visuell opulenter Film, aber man muss sich der freien Assoziaton seiner Bewegungen anvertrauen, denn es wird nichts erklärt, und viele Szenen bleiben auf sich gestellt.

„Pepe“ spannt einen großen Bogen, und allmählich wird im Film deutlich, um welche postkolonialen Motive es geht. Foto: Monte & Culebra

Ein großer Bogen wird aber doch allmählich deutlich: In „Pepe“ wird noch einmal die große Passage der afrikanischen Menschen nachvollzogen, die im Zuge des Sklavenhandels nach Amerika kamen. Einige von ihnen fanden dort einen Weg in die Freiheit („cimarróns“). Pepe ist als ein Stellvertreter oder eine Variation dieses maßgeblichen Motivs in den postkolonialen Debatten zu sehen: eine Cartoonfigur, aber auch ein Totemtier für jedes Ende der Versklavung. Pepe ist eine Figur, in der vieles zusammenkommt, was die Funktionsweise des europäischen Rassismus verdeutlicht.

Kann der unkonventionelle Film im Berlinale-Wettbewerb bestehen?

In den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale hat es „Pepe“ vielleicht auch deswegen geschafft, weil mit der Kölner Firma Pandora eine der großen Nummern des deutschen Autorenfilms mitproduziert hat. Nelson Carlos de Los Santos Arias war 2019 als DAAD-Stipendiat in Berlin, er kommt aus der Dominikanischen Republik, spricht aber für den globalen Süden insgesamt. „Pepe“ macht neugierig auf eine Fortsetzung seiner Forschungen zur Vorstellungskraft. Ob dieses prächtige Experiment bei der Jury die konventionelleren Spielfilme im Wettbewerb ausstechen kann? Das wäre wohl eine noch größere Überraschung als die Tatsache, dass ein Flusspferd spricht.


Bei der Berlinale 2024 spekulieren wir, wer im Wettbewerb gut abschneiden wird. Das tipBerlin-Bärometer ist die Chancen-Prognose für den Goldenen Bären. „Pepe“ wäre schon eine Überraschung, aber möglich ist es: 50 Prozent. Andere Filme haben höhere Chancen: zum Beispiel der iranische Film „Keyke Mahboobe Man (My Favourite Cake)“ (zur Kritik), das starke deutsch-französische Generationenporträt „Langue Étrangère“ von Claire Burger, die harte historische Tragödie „Des Teufels Bad (The Devil’s Bath)“ mit Anja Plaschg oder „In Liebe, Eure Hilde“ mit der famosen Liv Lisa Fries.


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