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Filmstarts der Woche: Von Zhang Yimous „Eine Sekunde“ zu der Doku „Pornfluencer“

Zhang Yimou ist einer der wichtigsten Filmemacher aus der aufstrebenden Supermacht China. Mit dem Drama „Eine Sekunde“ hat er nun eine spannende Reflexion auf die Opfer des revolutionären Fortschritts gemacht. Dazu gibt es diese Woche einige spannende Dokus, zum Beispiel über zwei junge Leute, die als „Pornfluencer“ ihre eigene Sexindustrie aufzuziehen versuchen. Oder „Wer wir gewesen sein werden“, mit dem Erec Brehmer den Tod seiner Freundin Angi zu verarbeiten versucht, ein Film als Zeugnis einer großen Liebe. Die Filmstarts der Woche im tipBerlin-Überblick.

Eine Sekunde

„Eine Sekunde“ von Zhang Yimou. Foto: MUBI

DRAMA Zur Zeit der Kulturrevolution in China konkurrieren ein aus einem Straflager entflohener Mann und eine junge Waise aus verschiedenen persönlichen Gründen um eine Dose mit Filmmaterial. Nach Aussage von Regisseur Zhang Yimou eine Hommage an das Filmmaterial der Prä-Digitalzeit, zugleich aber auch ein ambivalent unverbindlicher Film über eine Zeit der „permanenten Revolution”, der seinerzeit Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen zum Opfer fielen, für die heute niemand die Verantwortung übernehmen mag. Lars Penning

China/HK 2020; 104 Min.; R: Zhang Yimou; D: Zhang Yi, Liu Haocun, Fan Wei; Kinostart: 14.7.

Wer wir gewesen sein werden

„Wer wir gewesen sein werden“ von Erec Brehmer. Foto: Erec Brehmer

DOKUMENTARFILM Dieser Film ist für Angi. Erec Brehmer hat seine Freundin verloren. Sie starb bei einem Verkehrsunfall, bei dem sie selbst am Steuer war, während er auf dem Beifahrersitz saß. Sie war 29 Jahre alt. Von der glücklichen Beziehung gibt es viel Videomaterial, weil Erec Brehmer sehr oft mitgefilmt hat. An seinen Erinnerungen an Angi lässt er das Publikum teilhaben, in einer Offenheit, die ganz selbstverständlich wirkt. Er erzählt – der erste Teil des Films trägt den Titel Das Leben davor – die Geschichte ihres Kennenlernens, selbst von ihrem Tinderprofil scheint er damals einen Screenshot gemacht zu haben. Er erzählt die Geschichte ihrer Beziehung, die Urlaube, die Besuche bei den Eltern, die banalen Momente, in denen man oft am deutlichsten verspürt, wenn man jemand liebt.

Angi wollte geliebt werden, sagt Brehmer an einer Stelle, und er gibt darauf die einzige passende Antwort: Das kann ich. Angi lieben. Ein bayerisches Mädchen vom Land, eine junge Frau, die er als „Inbegriff des Lebens“ nicht nur gekannt hat, sondern auch hier vorstellt. Eine Bierbrauerin von Beruf, eine Frau in einer früheren Männerzunft, eine moderne deutsche Frau. Brehmer zeigt, was man vom Unfall weiß, Aufnahmen von der Bergung, immer wieder seinen mehrfach operierten Fuß. Sie waren auf dem dem Heimweg von einem Skiausflug. Angelina war eine gute Autofahrerin, und doch kam sie an diesem Abend auf die falsche Spur. Das banale Stück Landstraße, an dem alles geschah, ist das erste Bild seines Films. Er erzählt von den Phasen der Trauer, und von neuen Bekanntschaften.

Und so paradox es klingen mag: die Öffentlichkeit dieses Films scheint genau der richtige Ort für die Intimität seiner Geschichte zu sein. Wer sich beim Trauern nicht zurückzieht, wird Zuspruch aus allen Himmelsrichtungen erhalten – zum Beispiel von einem Mann, dessen Freundin mit 29 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Nebenbei lernen wir auch einen Medienenthusiasten kennen: Brehmer macht nicht einfach Home Movies, er probiert mit Kameras alles Mögliche aus, und ein bezeichnendes Detail sind wohl die beiden Bücher, zu denen er alle Handychats gebunden hat, die er mit Angi geführt hat. Auch das ist Liebe anno späte 2010er-Jahre. Das Leben in seiner Fülle und seiner Abgründigkeit ist bei Erec Brehmer in seinem Film für und mit Angi gut aufgehoben. Bert Rebhandl

D 2021; 81 Min.; R: Erec Brehmer, Angelina Zeidler; Kinostart: 14.7.

Everything Will Change

„Everything Will Change“ von Marten Persiel. Foto: Farbfilm

AKTIVISMUS Welt retten. Den Klimawandel aufhalten. Das Artensterben stoppen. Gute Pläne, die in diesen Tagen, in denen Ukraine-Krieg und Inflation die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, fast in Vergessenheit geraten scheinen. Als Marten Persiel 2017/18 seinen Film „Everything Will Change“ plante, war die Welt noch eine andere; die Anzahl der Menschen, die noch am vom Menschen verursachten Klimawandel zweifelten, war sogar größer als heute. Der Film ist also eine Fiktion aus der Vergangenheit – die in der Zukunft spielt, genauer gesagt 2054. Hier leben Ben (Noah Saavedra) und seine Freunde in einer Ära, die zwar noch weiter technologisiert ist als die Gegenwart, in der aber das Gedächtnis der Menschheit seltsam löchrig ist. Als Ben, ein Nostalgiker, in einem Trödelladen auf ein Foto von einer Giraffe stößt, hat er keine Ahnung, dass dieses seltsame Wesen einmal auf der Erde gelebt hat. Diese Entdeckung veranlasst ihn, zu recherchieren und die Welt von Gestern zu entdecken, die also der Gegenwart des Kinopublikums entspricht.

Weite Teile von „Everything Will Change“ bestehen nun aus Dokumentaraufnahmen, die die Schönheit des Planeten, seiner Naturwunder und der Artenvielfalt zeigen, dazu Interviews mit Wissenschaftlern, die erklären, dass man den Planeten hätte retten können, wenn man nur jetzt!, sofort! agiert hätte. Warum diese komplizierte Struktur? Weil aus einem Science-Meets-Fiction-Film, wie es Persiel nennt, am Ende ein Science-Fiction-Film wird, in dem – je nach Lesart – eine hoffnungsvolle oder eine naive Lösung vorgeschlagen wird. Aus der Zeit gefallen wirkt „Everything will Change“ in jedem Fall, rennt Türen ein, die längst sperrangelweit offen stehen, und predigt eindringlich zu den Konvertierten.  Michael Meyns

D/NL 2021; 93 Min.; R: Marten Persiel; D: Noah Saavedra, Paul G. Raymond; Kinostart: 14.7.

Meine Stunden mit Leo

„Meine Stunden mit Leo“ von Sophie Hyde. Foto: Wild Bunch Germany

LIEBESFILM Die Frau überprüft den Sitz ihres Kleides noch einmal im Hotelzimmerspiegel, der deutlich jüngere Mann macht das nebenbei und lässig in einer Schaufensterscheibe. Ihr Zusammentreffen beruht auf einer geschäftlichen Vereinbarung. Nancy ist eine verwitwete ehemalige Religionslehrerin, Leo ein Callboy, ein Sexarbeiter, wie er sich selber nennt. Guten Sex, das ist es, was sie endlich einmal möchte, den sie in 31 Jahren Ehe mit ihrem Mann nie hatte, wo es jedes Mal gleich (unbefriedigend) ablief.

Ihre Unsicherheit kann Nancy jetzt nicht verbergen, auch nicht, dass sie Lehrerin war. Schwankend zwischen dem Wunsch, möglichst schnell hinter sich zu bringen, was sie geplant hat, und dem Bedürfnis, mehr über ihr Gegenüber zu erfahren, baut sie immer neue Hindernisse zwischen ihnen auf. Bis zur Erfüllung ist es jedenfalls ein langer Weg.

Ein Zwei-Personenstück (das nicht auf einem Theaterstück basiert, aber vermutlich bald auch auf den Bühnen zu sehen sein wird): Es geht um Sex (der nur dezent ins Bild gerückt wird), aber auch um mehr. Um das Verhältnis zum eigenen Körper, um die Schwierigkeiten, sich gegenüber anderen zu öffnen, aber auch darum, sich an die vereinbarten Regeln zu halten – was Nancy nicht leichtfällt: immer wieder will sie Persönliches von dem jungen Mann erfahren, der sich Leo Grande nennt, während seine Rolle auch noch das Einfühlungsvermögen eines Therapeuten verlangt. Ganz am Ende steht eine Geste, die zeigt, dass Nancy ein neues Verhältnis zu ihrem Körper hat. Es ist nie zu spät, das lernen wir aus diesem Film, in dem Komik und Ernst fein ausbalanciert sind und in dem Emma Thompson in Daryl McCormack einen ebenbürtigen Partner gefunden hat. Frank Arnold

GB 2022; 97 Min.; R: Sophie Hyde; D: Emma Thompson, Daryl McCormack, Isabella Laughland; Kinostart: 14.7.

Pornfluencer

„Pornfluencer“ von Joscha Bongard. Foto: Salzgeber

DOKU Sie sind jung, sie sind verliebt, sie drehen Pornos. Jamie Young und Nico Nice nennt sich das Paar, sie 22, er 25, das auf Ibiza lebt und mit seiner Lust Geld verdient. Beziehungsweise mit seinen Körpern, denn ob das, was Jamie und Nico seit Jahren vor der Kamera tun und im Internet verkaufen, tatsächlich immer Lust ist, ist eine der Fragen, die im Laufe des Dokumentarfilms von Joscha Bongard gestellt wird. Sich selbst beschreibt der Regisseur, der kaum älter als seine Figuren ist und noch an der Filmakademie Ludwigsburg studiert, als Teil der Generation, die mit dauerhafter Verfügbarkeit von Online-Pornos aufgewachsen ist. Besonders interessiert haben Bongard dabei Pornos von Pärchen, die vermeintliche private Aufnahmen online stellen und mit dem Versprechen von Authentizität mitunter viel Geld verdienen.

Und Geld war auch der Antrieb von Nico, seine Freundin Jamie dazu zu bringen, mit Pornos den Lebensunterhalt zu bestreiten. Inzwischen lebt das Paar auf Zypern, doch bald steht ein Umzug nach Prag an, um näher an der osteuropäischen Pornoindustrie zu sein. Denn längst hat das Paar expandiert und dreht auch Dreier. Der Initiator: natürlich Nico. Spätestens hier lässt der präzise Blick von Bongard, der meist nur beobachtet und seine Subjekte sprechen lässt, aus einem fast oberflächlich wirkenden Porträt eines Paares ein vielschichtiges Bild von Abhängigkeiten, Klischees und Geschlechterbildern entstehen. Besonders frappierend ein Bild gegen Ende des Films: Als Anhänger der Autosuggestion stehen Jamie und Nico jeden Morgen vor dem Spiegel und bestätigen sich, wie toll sie sind, wie gerne sie mit dem anderen Sex haben. Aber auch im Falle Jamies: Ich mache immer alles, was Nico von mir will. Michael Meyns

D 2022; 74 Min.; R: Joscha Bongard; Kinostart: 14.7.

Mehr zum Thema

Weitere spannende Beiträge aus dem Bereich Kino: Mit Marie Kreutzer haben wir über ihren Sissi-Film „Corsage“ gesprochen, der seit einer Woche im Kino läuft. Alle Starts vom 7. Juli 2022, darunter „Thor: Love and Thunder“, findet ihr hier. Den Überblick über die Freiluftkinos in Berlin haben wir hier. Was dort läuft? Hier ist das Freiluftkinoprogramm für Berlin. Was ist sonst zu sehen? Das aktuelle Berliner Kinoprogramm. Alles zu Kino und Streamsammeln wir immer unter dieser Rubrik.

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