Interview

„Unruh“: Cyril Schäublin eröffnet dem Kino eine neue Zukunft

Im Februar 2022 hatte der Film „Unruh“ von Cyril Schäublin in der Reihe Encounters der Berlinale seine Weltpremiere. Es war einer jener Momente, in denen bei einem Festival etwas Besonderes passiert: Viele hatten den Eindruck, einen Blick in die Zukunft des Kinos geworfen zu haben. Schäublin, der in Berlin an der DFFB studiert hat, hat ohne Zweifel das Zeug, einer der ganz großen Filmemacher zu werden. „Unruh“ ist zugleich Kostümfilm und höchst gegenwärtig. Das Interview mit tipBerlin-Filmkritiker Bert Rebhandl fand via Skype statt. Schäublin lebt jetzt wieder in Zürich, seiner Heimatstadt, hat aber viel zu erzählen und zu vergleichen über die verschiedensten Orte auf der Welt, über verrauchte Berliner Bars und die politische Inspiration zu einem Film über das Schweizer Uhrenhandwerk.

„Unruh“ von Cyril Schäublin. Foto: Grandfilm

„Unruh“ galt als Berlinale-Höhepunkt

Viele Menschen tragen eine Uhr an ihrem Handgelenk. Eigentlich wäre das heute nicht mehr nötig, man kann auch auf dem Handy schauen, wie spät es ist, und wir sind sowieso von Zeitangaben umgeben. Eine Uhr, vielleicht sogar ein klassischer, analoger Chronometer, ist zum Accessoire geworden, ein Symbol, mit dem man alles Mögliche verbinden kann. Sogar eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Schweizer Cyril Schäublin hat über dieses Thema einen Film gemacht. Einen Revolutionsfilm, wenn man so will. „Unruh“ hatte im vergangenen Februar auf der Berlinale Premiere und galt vielen bald als Höhepunkt des Festivals.

Der Titel ist zweideutig: die Unruhe ist ein Teil der Mechanik eines Uhrwerks, eigentlich der wichtigste Teil. Hergestellt wurde die Unruhe traditionell von Frauen, die in sorgfältiger Feinarbeit das winzige Präzisionsinstrument verfertigten, oft in Heimarbeit. Unruhe ist aber natürlich auch ein Wort für einen Zustand. Die ganze Welt ist derzeit in Unruhe, vielleicht sogar im Aufruhr.

Aber muss ein Kostümfilm über die Schweizer Uhrenindustrie angesichts der aktuellen Stimmung nicht geradezu lächerlich alle heutigen Themen verfehlen?

Cyril Schäublin hat schon an vielen Orten der Welt gelebt, nicht zuletzt in Berlin, wo er an der DFFB studiert hat. Für das Gespräch mit dem tipBerlin erreiche ich ihn nun wieder in Zürich, seiner Heimatstadt, wo er sich in einem Atelier eingemietet hat, das zum Glück gut geheizt ist. Auch das ist ein Detail, das Schäublin erwähnenswert findet. Bei ihm hängt, wie in einer guten Uhr, alles mit allem zusammen.

„Meine Großmutter und meine Großtanten waren alle Regleusen in derselben Uhrenfabrik im Schweizer Jura. Sie machten Unruhen, das sind die Teile, die in der Uhr die Spannung regulieren – deswegen diese Berufsbezeichnung: Regleuse. In meiner Kindheit gab es diese Uhrenfabrik, die schon leerstand, die ging in den 70er-Jahren in der Quarzkrise ein.“ Vor fünfzig Jahren war es eine Weile sehr cool, eine Quarzuhr zu haben, aber das war auch nur eine Episode auf dem Weg in die Digitalisierung. Cyril Schäublin ging also von einem autobiographischen Bezug aus, er selbst trägt eine Uhr von seinem Großvater, der auch in der Fabrik gearbeitet hat. „Für 25jährige treue Dienste“, ist auf dieser Uhr eingraviert.

Kropotkins „Gegenseitige Hilfe“ inspirierte Cyril Schäublin für „Unruh“

Die Familiengeschichte allein aber hätte ihn nicht dazu bewogen, einen Film über die Uhrenindustrie in der Schweiz um 1877 zu machen. Schäublin fand in der Geschichte noch etwas anderes: einen historischen Moment, in dem vielleicht eine andere Zukunft möglich war. Die Belegschaft in den Fabriken war damals nämlich sehr progressiv eingestellt, es gab spannende Versuche der gewerkschaftlichen Organisation, und es wurde in Theorie und Praxis über linke Politik nachgedacht. Anarchismus oder Anarchosyndikalismus lauten die entsprechenden Stichworte. Aus diesem Zusammenhang stammt auch die Figur, die Schäublin zu einer der Hauptfiguren von „Unruh“ gemacht hat: Pjotr Kropotkin, der damals eigens aus Russland kam, um sich anzusehen, ob die revolutionäre Stimmung in der Schweiz für eine größere Bewegung relevant werden könnte. Kropotkin kommt als Kartograph in eine idyllische Landschaft, er lernt eine Uhrmacherin kennen und wird zum Zeugen einer Epoche des Umbruchs. „Kropotkin: auf diesen Namen stößt man schnell, wenn man sich für die gewerkschaftlichen Bewegungen interessiert, die sich damals gerade in der Uhrenindustrie gebildet haben“, erzählt Schäublin.

„Ich habe seine Memoiren gelesen, sein bekanntestes Werk, am besten aber fand ich sein Buch ,Gegenseitige Hilfe‘, in dem er sich mit Phänomenen der Kooperation ,in der Tier- und Menschenwelt‘ beschäftigt. Ich fuhr nach Moskau und nach Dmitrow, wo Kropotkin 1921 starb. Dort gibt es ein Museum, das ihm gewidmet ist, ein altes Haus, umgeben von Plattenbauten, aber das Haus wurde stehengelassen. Da habe ich mit Kropotkin-Aficionados mich austauschen können, und über die Komplexitäten der anarchosyndikalistischen Bewegung nachgedacht. Es geht da ja sehr um kollektive Ansätze: wie organisiert man ein Atelier? Oder eine Krankenkasse.“

Der Schweizer Filmemacher Cyril Schäublin hat in Berlin studiert. Foto: Grandfilm

Die Anarchisten wollten eine ganz andere Gesellschaft, aber sie hatten auch eine etwas andere Vorstellung von den Wegen, auf denen man dorthin kommen könnte. Im 19. Jahrhundert war viel von Revolution die Rede, die Erinnerung an die Ereignisse in Frankreich 100 Jahre davor war noch lebendig, und Karl Marx rief das Proletariat in den Klassenkampf. Heute ist die Situation nicht vergleichbar, aber eine untergründig revolutionäre Stimmung lässt sich durchaus beobachten. Dass es nicht so weitergehen kann, wie es zuletzt immer ging, das zumindest würden viele unterschreiben. Ich frage Cyril Schäublin, ob er „Unruh“ auch als eine Überlegung zu diesem Großthema versteht.

Cyril Schäublin glaubt, „dass wir nach kleinen Revolutionen Ausschau halten sollten“

Brauchen wir eine Revolution? „Ich habe rund um diesen Film viel Simone Weil gelesen, die einmal gesagt hat, dass nicht die Religion das Opium für das Volk ist, sondern die Revolution. Auch Florian Eitel, der das Projekt historisch beraten hat, weist darauf hin, dass die Revolution, also die Vorstellung, man könnte mit einem Schlag alles neu und besser machen, einer Paradiesvorstellung nahekommt. Das ist verwandt mit dem romantischen Projekt Europas, dem ich mich gar nicht nahe fühle. Mit ,Unruh‘ interessiere ich mich für andere Ansätze. Bis zum Sowjetkommunismus war die anarchistische Bewegung die größte Bewegung innerhalb des Sozialismus. Und mit Simone Weil glaube ich, dass wir nach kleinen Revolutionen Ausschau halten sollten, nach lokalen Organisationen. Die Verwandlung beginnt oft mit einer einfachen Frage: wie organisiert man sich?“

Cyril Schäublin über die Stadt: „Berlin ist sich total unklar über sich selber“

Es liegt nahe, Schäublin dabei auch nach seiner Berliner Zeit zu fragen. Schließlich gehört das zum Mythos dieser Stadt: dass die Selbstorganisation hier besonders stark ist, dass die Leute sich mit Zwischennutzungen und in den Nischen des Systems selbst behelfen, eine Avantgarde vor einer hoffnunglos rückständigen Verwaltung, aber auch vor einem alles in sich hineinfressenden Kapitalismus. Schäublin zögert ein wenig bei dem Versuch, Berlin zu charakterisieren. Er erzählt, dass er 2006 hierher kam, davor hatte er zwei Jahre in China gelebt. Der Unterschied beschäftigt ihn bis heute. „Ich habe Berlin vor allem als eine Stadt erlebt, die sich total unklar ist über sich selber, und wo man darüber auch redet. In dieser Unklarheit kann eine unglaubliche Großzügigkeit stattfinden. Ich glaube aber auch, dass diese Weite in Berlin, dieser viele Platz mehr ist als nur ein räumlicher Umstand. Ich glaube, dass man in Berlin leben kann, ohne mit jemandem sprechen zu müssen. Das ist eine sehr mitteleuropäische Sache, das trifft auch auf Paris oder auf meine Heimatstadt Zürich zu. In Kairo, wo ich auch immer wieder war, da muss man miteinander sprechen, weil der Staat keinerlei Sicherheit gewährt. Die Beziehungen sind die einzige Sicherheit. Und in China ist es das Gleiche.“

Imaginierte Gemeinschaften, ob Nation oder Kiez

Beziehungen sind so auch das eigentliche Thema in „Unruh“: soziale Beziehungen, gemeinschaftliche Beziehungen wie die Nation, internationale Beziehungen, die damals gerade möglich wurden, als der Telegraph erfunden wurde. „Imaginierte Gemeinschaften“, so nennt Schäublin das mit einem Buchtitel des Theoretikers Benedict Anderson. Wir leben alle in imaginierten Gemeinschaften, Deutschland ist so eine Gemeinschaft, Berlin auch, manchmal nur der Kiez, manchmal die ganze Welt. Schäublin ist ein Weltbürger, er vergleicht seine Eindrücke von überall, und verortet sich sehr bewusst. Er spricht ein wenig sarkastisch über die Schweiz, die als kleines Land darauf setzt, dass man sie nicht so ernst nimmt, und die sich dabei „die geilsten Deals geschaffen hat im internationalen ökonomischen Kontext“. Er spricht aber auch von den Freundschaften, die ihn mit seiner Heimat verbinden, von Sprache und Körpern, auf die alles immer hinausläuft.

Für Kropotkin geht die Sache in „Unruh“ schließlich so aus, dass man fast von einem Happyend sprechen könnte, von einem Moment der Liebe. Gehört das zum Kino, auch zu seinem Kino, dass ohne Liebe auch keine Gemeinschaft entstehen kann?

„Liebe ist ein großes Wort. Das L-Wort, so sage ich manchmal auch, es ist ja nur ein Begriff. Der Dichter Rimbaud hat gesagt; l’amour c’est a reinventer, die Liebe muss immer wieder neu erfunden werden. Diese Beschlagnahmung von Liebe durch die Industrien ist natürlich eine große Frage. Trotzdem ist es immer wichtig, wenn zwei Menschen sich anschauen und dann etwas geschehen kann. Ein Kuss oder eine Liebesgeschichte ist eben nicht messbar, es gibt keine Uhr für die Liebe, für den Moment, wenn zwei Menschen nicht anders können, als sich zu sehen. Deswegen ist die Liebe immer außerhalb von Sprache, außerhalb von Ordnungen, von Messungen. Sie ist irgendwie im Film, aber irgendwie auch nicht, so hoffe ich.“

Für dieses Außerhalb und Innerhalb von Ordnungen hat „Unruh“ eine faszinierende Bildsprache gefunden. Es ist ein leiser, manchmal fast flüsternder Film mit vielen eigenwillig komponierten Bildern. Die vielen spannenden historischen Details werden von Schäublin so präsentiert, dass der Begriff Kostümfilm oder Historienfilm nur bedingt zutrifft. Es geht um unsere Gegenwart, das ist ganz eindeutig.

„Unruh“ von Cyril Schäublin. Foto: Grandfilm

Zum Abschluss unseres Gesprächs über Skype kommen wir noch einmal auf Berlin zurück. Es gibt doch noch ein Motiv, das ihn sehr stark mit der Stadt verbindet und das er unbedingt erwähnen will: „Ich kann es ganz einfach sagen: ich liebe die Berliner Bars, wo man nach Mitternacht sich reinsetzen kann, wo man noch rauchen kann. Menschen, die miteinander sprechen, das ist immer unglaublich. Etwas mit Sprache miteinander zu teilen. In so einer Bar gibt es extrem viel Offenheit und Möglichkeit, etwas zu sagen auch wenn man gar nicht genau weiß was.“ Das klingt nach einer sehr konkreten Utopie, und wenn man die mit der taghellen Klarheit seines Film „Unruh“ verbindet, hat man fast schon so etwas wie einen Ansatz, mit dem man alles verändern könnte.

Schweiz 2022; 93 Min.; R: Cyril Schäublin; D: Alexei Evstratov, Clara Gostynski, Monika Stalder; Kinostart: 5.1.


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