Interview

Emma Elisabeth: Befreiender 70s-Highway-Pop aus Marzahn

Power-Pop und Retro-Schlager für den Eurovision Song Contest – die schwedische Berlinerin Emma Elisabeth hat vieles ausprobiert. Mit ihrem US-affinen Alternative-Pop, aufgenommen in Marzahn, ist sie endlich angekommen – und lebt dabei lieber in Berlin als in L.A. Unsere Autorin Nina Töllner hat sie vor in der „Wohnzimmer“-Bar getroffen.

Couch kann auch paradiesisch sein: Emma Elisabeths neues Album heißt „Some Kind Of Paradise“. Foto: Nick Piesk

Emma Elisabeth: Wie aus dem Laurel Canyon der 70er

Es gibt ein schönes Musikvideo zu Emma Elisabeths Single „Lovers“: Mit Cowboyhut, rosafarbenen Haaren und schulterfreier Fransenbluse hockt die Songwriterin auf der Rückbank eines Autos und singt croonend in ein Vintage- Mikrofon. Dazu erklingen eine einsame Synthie-Fläche und ein Phil-Spector-Drumbeat. Man denkt: amerikanische Weite! Highway! Vielleicht auch: Lana Del Rey! Und dann? Zoomt die Kamera raus. Statt in einem alten Chevrolet sitzt Emma in einer BMW-Limousine aus den 80er-Jahren. Um sie herum: eine grüne Wiesenlandschaft, Windkraftwerke, Strommasten. Oh, denkt man, hallo Brandenburg!

Auf ihrem neuen Album „Some Kind of Paradise“ versammelt Emma Elisabeth Dittrich nicht nur tolle, sehnsüchtige Pop-Songs. Sie transportiert dabei den verwaschenen Vibe einer amerikanischen Landschaft und einer fernen Ära. Auch als die schwedische Wahlberlinerin an einem regnerischen Wintertag vor der „Wohnzimmer“-Bar in Prenzlauer Berg auftaucht, wirkt sie mit der blondierten Ponyfrisur und dem Wildledermantel mit Schafspelzaufsätzen, als sei sie aus dem Laurel Canyon der frühen 70er herübergeweht.

„Mein Vater ist riesiger Bob-Dylan-Fan“, erzählt sie drinnen bei Ingwertee mit Honig über ihre frühmusikalische Sozialisation in einer Kleinstadt an der südschwedischen Küste. Lachend schiebt sie hinterher, dass sie Dylan damals nicht mochte. „Aber wenn du mit etwas aufwächst, steckt es irgendwo in dir drin: Fleetwood Mac, Neil Young, The Band.“

Emmas Eltern spielen selber Musik: Die Mutter singt in jungen Jahren in einer Bluesband, der Vater studiert in Spanien Flamenco-Gitarre. „Bei Feiern oder Abendessen wurde immer Musik gemacht.“ Die kleine Emma fängt mit Klavier an, später kommen Trompete und Gitarre dazu. Als Teenagerin weiß sie bereits, dass sie Musikerin werden will. In der Schule ist sie Mitglied einer Frank-Zappa-Coverband („das war echt seltsam, aber witzig“), findet Inspiration jedoch eher bei Alanis Morissette, Sheryl Crow, und Gwen Stefani („ich kannte diese Alben auswendig“).

Auf ein Gesangsstudium in Stockholm folgt ein Engagement bei der weiblichen Pop-Punk-Band Shebang, mit der sie sogar durch Japan tourt. Nach deren Auflösung verschlägt es die Schwedin im Jahr 2010 für einen Austausch an die Mannheimer Popakademie. Ein Verlagsdeal als Songwriterin lockt sie schließlich nach Berlin.

„Some Kind of Paradise“: Emma Elisabeth komponiert und texte – für andere, und endlich wieder für sich

Seither komponiert und textet Emma Elisabeth auch für andere Artists verschiedenster Couleur. „Ich schreibe gerne Popmelodien und Lyrics. Daraus kann man alles machen.“ Selber landet Emma Elisabeth kurz nach dem Umzug in die deutsche Hauptstadt auf einer überraschenden Schiene: Sie entdeckt den deutschen und französischen Schlagerpop der 60er-Jahre für sich. Gemeinsam mit anderen Songwritern entstehen deutschsprachige Lieder à la Gitte Haenning und France Gall.

Aus Emma Elisabeth wird Betty Dittrich, die mit toupierter Mähne und Minikleid frech-romantische Lieder über „Gute Jungs, böse Mädchen“ – so der Titel ihres einzigen Albums – trällert. Und einer großen Plattenfirma kommt die Idee, die auf Deutsch singende Schwedin 2013 zu „Unser Song für Malmö“ zu schicken, dem Vorentscheid des Eurovision Song Contest. „Es war total surreal“, erinnert sie sich. „Normalerweise trat ich mit meiner Gitarre in einer winzigen Eckbar in Neukölln vor 20 Leuten auf. Und plötzlich bin ich bei diesem riesigen TV-Event mit 15.000 Zuschauern.“ Die Jury beweist schlechten Geschmack – natürlich! – und gibt Cascada ihre Stimmen. Aber Emma Elisabeth ist nicht enttäuscht. „Das Konzept Betty Dittrich hat viel Spaß gemacht, aber ich wusste nicht, wie ich mich in diesem Rahmen weiterentwickeln sollte. Als Musiker:in hat man mehr als eine Seite. Nicht alles ist putzig und fröhlich.“

Emma Elisabeth erfindet sich nicht nur stilistisch gerne neu. Foto: Nick Piesk

Nach der ESC-Bewerbung hat Emma Elisabeth sich neu erfunden

Und so wechselt sie wieder den Namen. Als Emma Elisabeth veröffentlicht sie 2016 eine Sammlung mit atmosphärischen Coversongs von The Smiths bis – huch! – Bob Dylan, 2019 erscheint ihr reguläres Langspieldebüt „Melancholy Milkshake“. „I was a passenger, now I’m a pilot“, singt sie darauf. Das klingt nach Befreiungsschlag. Nach der quirligen Kunstfigur Betty tritt nun die echte Emma ins Scheinwerferlicht. Auch die mag die Sixties, „aber eher die zweite Hälfte mit dem ‚Revolver‘-Album und Psychedelic Rock.“

Mehr noch schätzt sie die Musik der Folge-Dekade: „Ich möchte, dass Arrangements und Produktion dem Song dienen – der Melodie und dem Text. Dafür wurde in den 70ern viel Raum gelassen.“ Aus den 80ern gefallen ihr Wave und Shoegaze. Doch besaß sie auch eine CD von Bruce Springsteens „Born in the USA“, mag heute Bands wie The War On Drugs, die den bodenständigen Heartland-Rock des Blue-Collar-Amerikas wiederbeleben.

Und so ist „Some Kind of Paradise“, das neue Werk von Emma Elisabeth, wie eine Reise durch Raum und Zeit: Klassisches Pop-Songwriting trifft auf gespenstischen Noise; schimmernde Vintage-Synthies und silbrige Jangle-Gitarren existieren neben dunklem Country-Twang. Stücke wie „Tray Full of Ash“ und „Love U Less“ würden auf einem Mixtape prima zwischen „Dancing in the Dark“ und „Bette Davis Eyes“ passen, während „Cruel“ und „Heart on a String“ stolperfrei an die Bangles anknüpfen.

Das brodelnde „Any Storm“ dagegen wirkt wie eine 60s-Girlgroup-Version von 80s-Dream-Pop. Allem gemein sind ein Gefühl von Weite und eine durchdringende Melancholie, egal, ob sie von einer zum Scheitern verurteilten oder einer endlich gefundenen Liebe singt. Es ist der perfekte Soundtrack, um sich hinters Steuer zu setzen und über staubige Highways oder durch nächtliche Metropolen zu cruisen.

Auch Emma Elisabeth ist gerne unterwegs. Sie verbindet dabei bevorzugt Vergnügen mit Arbeit, trifft sich mit Songwritern in Los Angeles oder Austin, Texas. Die neuen Songs schrieb sie auf Mallorca, wo sie während des zweiten Lockdowns fünf Monate auf einer Farm verbrachte. Sie kommt ins Schwärmen: „Es gab viel Sonne und wunderschöne Natur. Das Haus war umgeben von Mandelbäumen, und Schafe kamen ans Fenster.“ Ja, sie sei eher der Sommertyp. Fast wundert es, dass die Singer/Songwriterin trotzdem immer wieder ins eher ungemütliche Berlin zurückkehrt, wo sie ihr Album in Marzahn aufnahm.

Warum? Sie habe hier eine Community von Leuten gefunden, mit denen sie gerne arbeite, erklärt sie. Und so sehr die US-amerikanische Musiklandschaft sie inspiriere, andere Seiten der Vereinigten Staaten seien weniger attraktiv: „Ich finde es gut, dass hier und in Schweden jeder zur Uni und zum Arzt gehen kann. Und dass die Leute nicht mit halbautomatischen Waffen herumfuchteln.“ Auch L.A. sei eine coole Stadt. Zum Besuchen. Aber zum Leben? „Berlin fühlt sich sehr authentisch an. Und es ist nicht so riesig. Man kommt überall mit dem Fahrrad hin.“ Sie ergänzt: „Ich fahre gerne Rad.“ Der Mulholland Drive ist eben nicht alles. Manchmal tut’s auch die Bundesstraße 2.

  • Emma Elisabeth: „Some Kind of Paradise“ (Clouds Hill/Warner)

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