Musik

Christin Nichols’ Solo-Debüt: Achtsamkeit mit gerecktem Mittelfinger

Christin Nichols war Frontfrau des Duos Prada Meinhoff und schrie Nina-Hagen-haft „fick dich und deinen Ratschlag“. Mittlerweile ist die Band getrennt, 2022 ist Nichols’ herausragendes Solo-Debüt „I’m Fine“ erschienen. tipBerlin-Autorin Silvia Silko hat die Berliner Musikerin in ihrer Bude besucht – mit einigen Überraschungen.

Christin Nichols lebt in Pankow – wo nichts vom Punk zeugt, den man vermuten würde. Foto: Lia Kalka

Christin Nichols: Vom Hedonismus und Reiz des destruktiven Geistes

Lady Di schaut hübsch drapiert vom Deko-Porzellanteller, frische Schnittblumen stehen auf dem Couch-Tisch, es gibt Sanddorn-Tee: Wir sitzen im Wohnzimmer von Christin Nichols in Pankow. Gemütlich – aber nach Punk-Bude sieht das hier jetzt nicht unbedingt aus. Wo ist sie denn, die Abgefucktheit? Die wohnungsgewordene Attitüde einer Musikerin, die auf der Bühne einst klang wie die neue Nina Hagen, als sie vor bratzendem Bass und erstickenden Synthies „Fick dich und deinen Ratschlag, wir gehen zusammen schreien. Berlin, du willst es heute, heute hab ich Zeit!“ bellte?

Gut, ist vielleicht auch ein bisschen naiv, zu glauben, dass diese eine Facette einer Künstlerin sich direkt in ihren vier Wänden spiegelt. Noch naiver ist es, zu glauben, dass sich ein Musikgenre so stumpf an Äußerlichkeiten durchdeklinieren ließe. Der zitierte Songtext stammt außerdem aus einer Zeit, in der Christin Nichols noch als Teil der Band Prada Meinhoff unterwegs war. Damals schrieb sie zusammen mit Bassist René Riewer Songs, die „Dreck“ hießen und vom Hedonismus und Reiz des destruktiven Geistes erzählten.

Christin Nichols Debütalbum „I’m Fine“: Entspannung, Neugierde, Arbeit

Power pur: Christin Nichols bei Prada Meinhoff. Foto: Imago/Pop-Eye/Christina Kratsch

Die Band hat sich dann irgendwann einvernehmlich getrennt, und Frontfrau Christin Nichols war halt nicht mehr Frontfrau einer Band, blieb aber einfach Frontfrau ihres Lebens und wusste ziemlich schnell, dass sie musikalisch auf Solopfaden weitermachen möchte. Sie entschied sich außerdem, die Dinge etwas entspannter anzugehen. „Ich habe nicht mehr so viel forciert, lieber neugierig geschaut, was auf mich zukommt“, sagt sie nun bei unserem Treffen. Entspannung, Neugierde, etwa drei Jahre Arbeit an neuer Musik mit Produzent Stefan Ernst und nun haben wir es: Nichols Debütalbum „I’m Fine“.

„Mir geht’s gut! So gut wie noch nie, glaube ich“, sagt Nichols. „I’m Fine“, diese zwei bescheidenen Worte des Albumtitels, sie sind wohl tatsächlich ernst gemeint. Vor zwei Jahren zwang die Pandemie der ganzen Welt eine kollektive Pause auf – für die Musikerin genau das Richtige. Natürlich nicht im gesamtgesellschaftlichen Sinne, aber die Entschleunigung, das Zurückgeworfensein auf sich selbst, das hat viel für Nichols’ Seelenfrieden getan: „Ich war plötzlich nicht mehr so getrieben und gehetzt. Ich habe gemerkt, ich muss nicht noch eine Schippe drauf packen, mir noch mehr Stress machen,“ erklärt sie.

„Ich stehe ganz sicher nicht jeden Tag auf und denke ‚Carpe Diem‘ oder so eine Scheiße!“

Christin Nichols spricht aus, was Frauen täglich passiert. Foto: Imago/Brigani-Art/Brigitte Heinrich

Klar – wenn die ganzen Stimmen um einen herum leiser werden, kann man endlich seine eigene wieder hören. Nichols’ Erkenntnis war, wie sie selbst sagt, so profan wie effektiv: Die Welt dreht sich weiter, auch wenn man sich nicht permanent und maximal selbst verausgabt. „Ich habe dann gedacht: Ach schau, eigentlich kannst du dich entspannen“, erinnert sie sich, „eigentlich brauchst du dich nicht so zu quälen und eigentlich bist du ein ganz feines Mädchen.“

Die Patina durchzechter Selbstzerstörung ist zuckerwattegefüllten Glitzerkätzchen gewichen, oder wie? Christin Nichols schaut spöttisch und muss lachen: „Ey, ich stehe ganz sicher nicht jeden Tag auf und denke ‚Carpe Diem‘ oder so eine Scheiße!“ Was sie aber tatsächlich immer häufiger denkt, ist: dass man manchmal die Dinge gut sein lassen kann oder vielleicht einfach einen gnädigeren Blick auf sich selbst braucht. Wie im Song „Sieben Euro Vier“, in dem sie mitteilt, dass sie eben diesen lächerlichen Betrag im Lotto gewonnen habe – aber weder Auto, Haus noch Sexappeal und Perspektive besitze.

Christin Nichols: Wie Beck, nur aktueller

Christin Nichols ist mit „I’m Fine“ ein herausragendes Debüt gelungen. Foto: Kay Ruhe

Vor Gitarren, die an die einstigen Wir sind Helden erinnern, singt sie „Ich möchte, dass es euch schlecht geht, so schlecht wie mir“, ohne dabei allzu leidenschaftlich zu klingen. Eher, als würde sie sämtlichen Anforderungen eine völlig unaufgeregte Absage erteilen – ein bisschen wie Beck und sein „Loser“, nur eben aktueller. Diese Haltung zieht sich durch die ganze Platte: Der Phoenix steigt bei Nichols aus dem Aschenbecher auf; sie macht Pläne, die von Anfang an dazu da sind, gar nicht erst verfolgt zu werden; und sowieso gibt es echt keinen Grund zu schreien. Oder, wie im grandiosen Song „Bielefeld“ mitgeteilt wird: Manchmal kauft man sich halt im Bordbistro ein Bier und schafft es nicht auszutrinken, weil die Endstation, das dauerverregnete Bielefeld, nun unverhofft schnell erreicht ist.

Nun muss man deshalb aber nicht in Verzweiflung verfallen, denn ein halb ausgetrunkenes Bier in Bielefeld ist immer noch besser als gar kein Bier in Hollywood, oder? Anhören kann man sich das auch noch gut, dank leichtfüßiger Synthies, schicken Poprefrains und den energetischen Grungegitarren, die zu den raffinierten Lyrics garniert werden. Es ist ein bisschen so, als würde man einer spaßigen Version von Verzweiflung zuhören, mit dem Appell, dass man sich seine Kämpfe und die Art und Weise, wie sie ausgefochten werden, auch aussuchen kann und sollte.

Neues Album „I’m Fine“: Grrrl Wave lebt

Entsprechend rigoros rechnet Nichols auf „Today I Choose Violence“ mit Alltagssexismus ab: Sie reiht Aussagen aneinander, die ihr schon mal vorgesetzt wurden. Allesamt frauenfeindlich, absurd und echt. „Ich brauchte mir gar nichts ausdenken,“ sagt sie. Jede Frau dürfte mindestens einen der Sätze aus Nichols’ Song kennen. Es ist genugtuend, wenn die Musikerin im Refrain ohne viel Koketterie das sagt, was Frauen immer häufiger denken: Ist gut jetzt – today we choose violence!

Christin Nichols klingt manchmal wie eine frühe Nena, sie zitiert ehemalige Heldinnen wie Shania Twain und Alanis Morisette und schlägt den Schwermut der 90ies mit der Luftigkeit der 80ies auf. Zusammengefasst ist das hier auf Albumlänge das, was Kollegin Julia Lorenz im tipBerlin-Pop-Orakel treffend als Grrrl Wave bezeichnet hat – eine Genrebezeichnung, die ja dann doch auch eine Spielart des Punk beinhaltet. Nichols’ Album ist eine Antithese zur Leere unqualifizierter Instagram-Lifecoach-Psychologie à la Julia Engelmann; und trotzdem heilsam für den Verstand. Achtsamkeit mit gestrecktem Mittelfinger, quasi. Oder wie Christin Nichols es nennt: „Überlebensstrategie!“

  • Christin Nichols „I’m Fine“, erschienen am 21.1.2022 über Freudenhaus Recordings

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